Urteil des OLG Hamm vom 15.04.2008

OLG Hamm: bewährung, vollstreckung, widerruf, pflichtverteidiger, urkundenfälschung, sperrfrist, unterlassen, revisionsgrund, ermessen, datum

Oberlandesgericht Hamm, 4 Ss 128/08
Datum:
15.04.2008
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
4. Strafsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
4 Ss 128/08
Vorinstanz:
Landgericht Paderborn, 3 Ns 322 Js 348/07 (216/07)
Tenor:
Das angefochtene Urteil wird mit den Feststellungen aufgehoben und
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung – auch über die
Kosten des Revisionsverfahrens – an eine andere kleine Strafkammer
des Landgerichts Paderborn zurückverwiesen.
Gründe:
1
Die Generalstaatsanwaltschaft hat zum Rechtsmittel des Angeklagten wie folgt Stellung
genommen:
2
"I.
3
Das Amtsgericht Delbrück hat den Angeklagten am 02.10.2007 wegen Fahrens ohne
Fahrerlaubnis in Tateinheit mit fahrlässigen Verstoß gegen die §§ 1, 6
Pflichtversicherungsgesetz zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten unter
Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt und eine Sperrfrist für die Erteilung einer
Fahrerlaubnis von 12 Monaten verhängt (Bl. 28, 30, 35 ff d.A.). Auf die Berufung der
Staatsanwaltschaft Paderborn vom 08.10.2007 (Bl. 33 d.A.) hat die 3. kleine
Strafkammer des Landgerichts Paderborn den Angeklagten am 12.12.2007 unter
Abänderung des Urteils des Amtsgerichts Delbrück vom 02.10.2007 wegen
vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in Tateinheit mit Urkundenfälschung und mit
einem vorsätzlichen Verstoß gegen die §§ 1, 6 Pflichtversicherungsgesetz zu einer
Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt, wobei die Strafkammer die durch das
Amtsgericht verhängte Sperrfrist für die Erteilung einer Fahrerlaubnis von 12 Monaten
auf 9 Monate herabgesetzt hat (Bl. 52, 55, 61 ff d.A.).
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Gegen dieses Urteil hat der Angeklagte durch seine Verteidigerin am 18.12.2007 (Bl. 56
d.A.) Revision eingelegt. Nach Zustellung des angefochtenen Urteils am 21.01.2008 (Bl.
72 d.A.) hat er die Revision mit am 19.02.2008 (Bl. 76 d.A.) bei dem Landgericht
Paderborn eingegangenen Schriftsatz seiner Verteidigerinnen vom selben Tage mit der
Verletzung formellen und materiellen Rechts begründet.
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II.
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Der gemäß § 335 Abs. 1 StPO statthaften und auch sonst zulässig eingelegten Revision
dürfte auch in der Sache ein zumindest vorläufiger Erfolg nicht zu versagen sein.
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Soweit die Revision eine Verletzung der Vorschrift des § 140 Abs. 2 StPO i.V.m. § 338
Nr. 5 StPO rügt, ist diese Verfahrensrüge in einer den Anforderungen von § 344 Abs. 2
Satz 2 StPO genügenden Weise ausgeführt worden.
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Zur Begründung der Verfahrensrüge, mit der geltend gemacht wird, dass die
Hauptverhandlung in Abwesenheit des notwendigen Verteidigers stattgefunden hat, ist
es erforderlich, dass die Revision über die Darlegung, dass dem Angeklagten entgegen
§ 140 Abs. 2 StPO ein Pflichtverteidiger nicht beigeordnet worden war hinaus, die
Tatsachen mitteilt, die zur Prüfung der Frage erforderlich sind, ob dem Angeklagten ein
Pflichtverteidiger hätte beigeordnet werden müssen (OLG Hamm, Beschluss vom
19.01.2001 – 2 Ss 133/00 -).
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Diesen Anforderungen wird das Revisionsvorbringen insoweit gerecht, als dass es unter
dem Gesichtspunkt der Schwere der Tat als Grund für die Beiordnung eines
Pflichtverteidigers gemäß § 140 Abs. 2 StPO neben dem gegen den Angeklagten in
erster Instanz ergangenen Schuldspruch auch mitteilt, dass die Staatsanwaltschaft
Paderborn mit ihrer Berufung neben der Nichtaussetzung der verhängten Freiheitsstrafe
zur Bewährung auch die Verurteilung wegen Urkundenfälschung und eines
vorsätzlichen Verstoßes gegen das Pflichtversicherungsgesetz zu erreichen suchte.
Ferner teilt die Revision in diesem Zusammenhang den seites der Staatsanwaltschaft
Paderborn in der Berufungshauptverhandlung gestellten Antrag als auch den
Schuldspruch des angefochtenen Urteils mit.
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Daneben kann dem Revisionsvorbringen in ausreichender Weise entnommen werden,
dass gegen den Angeklagten zuvor mit Urteil des Amtsgerichts Paderborn vom
07.07.2006 in dem Verfahren 23 Ds 422 Js 1233/05 eine Freiheitsstrafe von fünf
Monaten unter Strafaussetzung zur Bewährung verhängt worden war und dass dem
Angeklagten bei einer Verurteilung in vorliegender Sache ein Widerruf dieser
Strafaussetzung zur Bewährung droht.
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Die Verfahrensrüge ist auch begründet.
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Gemäß § 140 Abs. 2 StPO bestellt der Vorsitzende auf Antrag oder von Amts wegen
einen Verteidiger, wenn wegen der Schwere der Tat oder der Schwierigkeit der Sach-
oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn
ersichtlich ist, dass der Beschuldigte sich nicht selbst verteidigen kann. Die Bestellung
des Verteidigers liegt dabei im pflichtgemäßen Ermessen des Vorsitzenden, dem jedoch
u.a. durch den Rechtsbegriff "Schwere der Tat" Grenzen gesetzt sind (Meyer-Goßner,
StPO, 50. Auflg., § 140 Rdn. 22; OLG Celle, StV 1988, 379; OLG Hamm, NStZ 1982,
298; OLG Köln, NJW 1972, 1432; OLG Stuttgart, NStZ 1981, 490; OLG Zweibrücken,
NStZ 1986, 135). Eine Tat ist als schwer im Sinne des § 140 StPO zu erachten, wenn
die zu erwartende Rechtsfolge einschneidend ist (BGHSt 6, 199). Dies ist u.a. dann der
Fall, wenn eine längere Freiheitsstrafe droht, wobei eine solche regelmäßig bei einer
Straferwartung von einem Jahr Freiheitsstrafe anzunehmen ist (OLG Hamm, Beschlüsse
vom 19.01.2001 – 2 Ss 133/00 – und vom 14.05.2003 – 3 Ss 1163/02 -), wobei in
diesem Zusammenhang auch zu berücksichtigen ist, ob gegen den Angeklagten noch
weitere Verfahren anhängig sind, hinsichtlich derer ggf. eine Gesamtstrafenbildung in
Betracht kommt (OLG Hamm, Beschluss vom 20.11.2003 – 2 Ws 279/03 -) oder dem
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Angeklagten wegen eines drohenden Bewährungswiderrufes die Vollstreckung einer
weiteren, zunächst zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe droht (Meyer-Goßner,
a.a.O., Rdn. 25).
Zwar droht dem Angeklagten vorliegend mit der durch das angefochtene Urteil
verhängten Freiheitsstrafe sowie bei einem Widerruf der durch Urteil des Amtsgerichts
Paderborn vom 07.07.2006 verhängten Freiheitsstrafe von fünf Monaten noch nicht die
Vollstreckung von einem Jahre Freiheitsstrafe; im Hinblick darauf, dass es sich bei der
Straferwartung von einem Jahr Freiheitsstrafe jedoch nicht um eine "starre Grenze"
handelt (OLG Hamm, Beschluss vom 26.03.1997 – 2 Ss 308/97 -) und vorliegend
sowohl im Hinblick auf die Ausführungen in der Berufungsbegründung der
Staatsanwaltschaft Paderborn, die bereits erkennen ließ, dass von dort aus eine
Verurteilung wegen eines Vergehens mit einem erheblich höheren Strafrahmen erstrebt
wurde, als auch der seitens der Staatsanwaltschaft Paderborn in der
Berufungshauptverhandlung gestellte Antrag ließen es ohne Weiteres als möglich
erscheinen, dass dem Angeklagten eine Verurteilung drohte, infolge derer gegen ihn
eine Freiheitsstrafe von einem Jahr oder mehr zu vollstrecken gewesen wäre.
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Abgesehen davon, dass bereits der Umstand, dass die Staatsanwaltschaft Paderborn
mit ihrer Berufung eine über die Verurteilung des Amtsgerichts Delbrück hinausgehende
Verurteilung des Angeklagten erstrebte, der Strafkammer hätte Anlass geben können,
die Beiordnung eines Pflichtverteidigers in Erwägung zu ziehen (Meyer-Goßner, a.a.O.,
Rdn. 26 a.E.), hätte hiernach in Anbetracht des erkennbaren Ziels der Berufung der
Staatsanwaltschaft Paderborn genügender Anlass für die Beiordnung eines
Pflichtverteidigers gemäß § 140 Abs. 2 StPO bestanden.
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Das Unterlassen der hiernach nach § 140 Abs. 2 StPO erforderlichen Bestellung eines
Verteidigers stellt einen absoluten Revisionsgrund gemäß § 338 Nr. 5 StPO dar (BGHSt
15, 306; Meyer-Goßner, a.a.O., § 338 Rdn. 41).
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Da das Urteil hiernach bereits auf die erhobene Verfahrensrüge hin aufzuheben ist,
bedarf es einer Entscheidung über die erhobene allgemeine Sachrüge nicht."
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Diesen zutreffenden Ausführungen schließt der Senat sich an.
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