Urteil des OLG Hamm vom 07.09.2005

OLG Hamm: haftbefehl, ausnahme, mitarbeit, rechtspflege, unzumutbarkeit, gebühr, ermittlungsverfahren, besuch, aufwand, pflichtverteidiger

Oberlandesgericht Hamm, 2 (s) Sbd. VIII 150/05
Datum:
07.09.2005
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
2. Strafsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
2 (s) Sbd. VIII 150/05
Tenor:
Dem Antragsteller wird anstelle seiner gesetzlichen Gebühren
(Gebühren gemäß Nr. 4100, 4101, 4104, 4105, 4112, 4113, 4114, 4115
und 4116 VV RVG) in Höhe von 2.507,00 EURO eine Pauschgebühr in
Höhe von 3.000,00 EURO (in Worten: dreitausend EURO) bewilligt.
Der weitergehende Antrag wird abgelehnt.
Gründe: I. Der Antragsteller begehrt für seine Tätigkeit als gerichtlich bestellter
Verteidiger die Gewährung einer Pauschgebühr in Höhe der
Wahlverteidigerhöchstgebühren. Er ist dem ehemaligen Angeklagten durch Beschluss
vom 13. September 2004 als Pflichtverteidiger beigeordnet worden, mithin nach der am
10. September 2004 erfolgten Anklageerhebung. Erstmals tätig geworden ist er am 01.
September 2004. Hinsichtlich seiner Tätigkeiten im Einzelnen wird auf die
Stellungnahme des Leiters des Dezernats 10 vom 14. Juni 2005 Bezug genommen, die
dem Antragsteller bekannt ist und in der dessen Tätigkeitsumfang zutreffend dargestellt
ist.
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Auf die Sache ist das am 1. Juli 2004 in Kraft getretene RVG anwendbar, da die
Beiordnung des Antragstellers erst im September 2004 erfolgte, so dass gemäß § 61
Abs. 1 Satz 1 2. Alternative RVG das RVG und nicht (mehr) die BRAGO anwendbar ist.
Erstmals tätig geworden ist der Antragsteller ebenfalls erst nach Inkrafttreten des RVG.
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II. Dem Antragsteller war nach § 51 RVG eine Pauschgebühr zu bewilligen.
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1. Das Verfahren war zum einen "besonders schwierig" im Sinne von § 51 Abs. 1 RVG.
Zur Frage, wann ein Verfahren "besonders schwierig" ist, hält der Senat an seiner
bisherigen Rechtsprechung zu § 99 Abs. 1 BRAGO fest. Das RVG hat insoweit keine
Änderung gebracht (vgl. Burhoff, a.a.O., § 51 Rn. 18), so dass die bisherige
Rechtsprechung anwendbar bleibt. "Besonders schwierig" im Sinne des § 51 Abs. 1
RVG ist also ein Verfahren, das aus besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Gründen
über das Normalmaß hinaus erheblich verwickelt ist (vgl. dazu zu § 99 BRAGO Burhoff
StraFo 1999, 261, 264). Der Senat schließt sich vorliegend der Einschätzung des
Vorsitzenden der Strafkammer an (vgl. dazu grundlegend Senat in AnwBl. 1998, 416 =
ZAP EN-Nr. 609/98 = AGS 1998, 104 und Senat in JurBüro 1999, 194 = AGS 1999, 104
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= AnwBl. 2000, 56). Die Einschätzung des Vorsitzenden des Gerichts ist nach wie vor
i.d.R. maßgeblich.
2. Das Verfahren war für den Antragsteller zum anderen "besonders umfangreich" im
Sinne des § 51 Abs. 1 RVG.
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Auch insoweit bleibt, da die Formulierung des § 51 Abs. 1 RVG dem bisherigen § 99
Abs. 1 BRAGO entspricht, die bisherige Rechtsprechung des Senats zum "besonderen
Umfang" weitgehend anwendbar. Allerdings muss sie jeweils sorgfältig darauf
untersucht werden, inwieweit Tätigkeiten, für die das RVG einen besonderen
Gebührentatbestand geschaffen hat, jeweils für die Annahme des "besonderen
Umfangs" mitbestimmend gewesen sind (Burhoff, a.a.O., § 51 RVG Rn. 11).
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"Besonders umfangreich" ist eine Strafsache danach nach wie vor dann, wenn der von
dem Verteidiger erbrachte zeitliche Aufwand erheblich über dem Zeitaufwand liegt, den
er in einer "normalen" Sache zu erbringen hat (allgemeine Meinung zu § 99 BRAGO;
vgl. die Nachweise bei Burhoff StraFo 1999, 261, 263 in Fn. 30 und die ständige
Rechtsprechung des Senats).
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Das RVG sieht bei den Gebühren des Strafverteidigers in Teil 4 VV RVG im
Wesentlichen eine verfahrensabschnittsweise Vergütung vor, die - so der Gesetzgeber
in der Gesetzesbegründung (vgl. dazu BT-Dr. 15/1971, S. 220) - eine bessere
Honorierung der Tätigkeiten des Rechtsanwalts im Strafverfahren ermöglicht. Dem hat
er bei der Neufassung des § 51 RVG dadurch Rechnung getragen, dass nunmehr
ausdrücklich in § 51 Abs. 1 Satz 1 RVG die Bewilligung einer Pauschgebühr für einen
Verfahrensabschnitt möglich sein soll (vgl. dazu BT-Dr. 15/1971, S. 201). Dem hat nach
Auffassung des Senats die Rechtsprechung auch dann Rechnung zu tragen, wenn eine
Pauschgebühr nicht nur für einen einzelnen Verfahrensabschnitt beantragt wird,
sondern wie vorliegend - für das gesamte Verfahren. Grundsätzlich wird auch in diesen
Fällen zunächst zu untersuchen sein, inwieweit der besondere Umfang der anwaltlichen
Tätigkeit hinsichtlich einzelner Verfahrensabschnitte zu bejahen ist (so auch OLG Jena
in den Beschlüssen vom 11. Januar 2005, AR (S) 185/04 und 14. Juni 2005, AR(S)
61/05, http://www.burhoff.de). Die bislang von der Rechtsprechung der
Oberlandesgerichte in der Regel vorgenommene Gesamtbetrachtung des Verfahrens
(vgl. dazu u.a. OLG Hamm StraFo 1997, 286 = AnwBl. 1998, 220) kann unter Geltung
des RVG erst in einem zweiten Schritt vorgenommen werden, wenn nämlich zu
entscheiden ist, ob zwar nicht ein einzelner Verfahrensabschnitt "besonders
umfangreich" gewesen ist, ggf. das Verfahren aber "insgesamt" als "besonders
umfangreich" einzustufen ist (so auch OLG Jena, a.a.O.). Das wird z.B. dann der Fall
sein können, wenn die einzelnen Verfahrensabschnitte jeweils noch nicht den Grad des
"besonderen Umfangs" erreicht haben, sie aber jeweils so umfangreich sind, dass in der
Gesamtschau unter Berücksichtigung der Kriterien des RVG ein "besonderer Umfang"
anzunehmen ist. In dem Zusammenhang ist aber unter Anwendung des RVG zu
berücksichtigen, dass dieses nunmehr für einige Tätigkeiten des Pflichtverteidigers
besondere eigenständige Gebühren vorsieht, wie die Nr. 4102 VV RVG und die so
genannten Längenzuschläge für besonders lange Hauptverhandlungen. Diese
Tätigkeiten haben in der Gesamtschau nicht mehr das Gewicht, das sie bei der
Bewilligung einer Pauschgebühr nach § 99 BRAGO noch hatten (so auch
Burhoff/Burhoff, RVG, Nr. 4114 VV RVG Rn. 1, Nr. 4110 VV RVG Rn. 2).
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In Übereinstimmung mit dem Leiter des Dezernats 10 ist der Senat der Auffassung, dass
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die Tätigkeiten, die der Antragsteller im vorgerichtlichen Verfahren (Verfahrensgebühr
Nr. 4104 mit Zuschlag Nr. 4105 VV RVG) erbracht hat, noch nicht als besonders
umfangreich zu bewerten sind. Zwar hat der Antragsteller vorgetragen, er habe zur
Vorbereitung der Hauptverhandlung seinen Mandanten insgesamt fünf Mal in der JVA F
besucht, wobei die reine Besuchsdauer jeweils eine Stunde betragen habe. Er hat
jedoch nicht im Einzelnen dargelegt, ob und wie viele dieser Besuche während des
Vorverfahrens und wie viele nach Anklageerhebung stattgefunden haben (vgl. hierzu
den Beschluss des OLG Karlsruhe vom 23. August 2005 1 AR 36/05 , in dem ausgeführt
wird, dass vier Haftbesuche von mehr als einer Stunde bei einer Fahrzeit von insgesamt
ca. einer Stunde und 30 Minuten pro Besuch es rechtfertigen können, einen besonderen
Umfang der Tätigkeit des Verteidigers im Ermittlungsverfahren anzunehmen). Nach
Anklageerhebung erfolgte Besuche wirken sich allein auf die Verfahrensgebühr Nr.
4112 mit Zuschlag Nr. 4113 VV RVG aus und sind demzufolge nicht geeignet, eine
Erhöhung der Verfahrensgebühr Nr. 4104 mit Zuschlag (Nr. 4105 VV RVG) zu
begründen.
Die Tätigkeiten, die der Antragsteller im gerichtlichen Verfahren mit Ausnahme der
Teilnahme an den Hauptverhandlungsterminen erbracht hat, sind schon als besonders
umfangreich im Sinne des § 51 Abs. 1 Satz 1 RVG zu bewerten. Dies gilt insbesondere
aufgrund des komplexen Prozessstoffs, insoweit auch aufgrund des mit der Haft
verbundenen Mehraufwandes und der Teilnahme an dem
Haftbefehlsverkündungstermins, in dem der von der Strafkammer neu gefasste
Haftbefehl verkündet worden ist.
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Die Verfahrensabschnitte Hauptverhandlungstermine sind in Übereinstimmung mit den
Ausführungen des Vertreters der Staatskasse noch nicht als besonders umfangreich zu
werten.
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In der Gesamtschau war vorliegend die Tätigkeit des Antragstellers als "besonders
umfangreich" im Sinne von § 51 Abs. 1 Satz 1 RVG anzusehen.
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Für die Einordnung des vorliegenden Verfahrens als "besonders umfangreich" war
insbesondere von Bedeutung, dass das Verfahren durch die aktive Mitarbeit des
Verteidigers letztlich erheblich abgekürzt werden konnte. Der Senat hat schon in der
Vergangenheit die intensive Vorbereitung der Hauptverhandlung, die zu einer
Verkürzung der Hauptverhandlung führt, bei der Bewilligung einer Pauschgebühr
berücksichtigt (vgl. Senat in StraFo 1997, 30 = JurBüro 1997, 85). Er hält an dieser
Rechtsprechung im weiterhin bestehenden Interesse an einer effektiven, zeit- und
kostensparenden Rechtspflege fest.
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Demgemäß war dem Antragsteller eine Pauschgebühr zu bewilligen. Diese hat der
Senat in Höhe von 3.000,00 € als angemessen angesehen und in dieser Höhe
festgesetzt. Dabei hat der Senat die Gebühr nach Nr. 4112 VV RVG mit Zuschlag (Nr.
4113 VV RVG) wegen des "besonderen Umfangs" verdoppelt und sodann die
gesetzlichen Gebühren des Antragstellers wegen der "besonderen Schwierigkeit"
angemessen auf 3.000,00 € erhöht.
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Dabei ist der Senat vorliegend davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen der
"Unzumutbarkeit" i.S. des § 51 Abs. 1 Satz 1 RVG zu bejahen sind. Das gilt nach
Auffassung des Senats zumindest immer dann, wenn das Verfahren bzw. der
Verfahrensabschnitt als sowohl "besonders schwierig" als auch "besonders
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umfangreich" anzusehen ist. Ob es immer auch gilt, wenn nur eines der Kriterien erfüllt
ist, kann hier dahinstehen. Der weitergehende Antrag, mit dem ein Pauschgebühr in
Höhe der Wahlverteidigerhöchstgebühren von 5.137,50 € geltend gemacht worden ist,
war hingegen abzulehnen. Gebühren in dieser Höhe wären angesichts des Umfangs
der von dem Antragsteller erbrachten Tätigkeiten unangemessen. Dabei kann wegen
der Höhe der geltend gemachten Gebühren dahinstehen, ob und inwieweit die bisherige
Rechtsprechung des Senats zu dieser Frage Bestand hat (vgl. dazu Burhoff, a.a.O., § 51
Rn. 94).