Urteil des OLG Frankfurt vom 14.03.2017

OLG Frankfurt: anspruch auf rechtliches gehör, einspruch, bad, quelle, immaterialgüterrecht, zivilprozessrecht, höchstgeschwindigkeit, ausnahme, einzelrichter, dokumentation

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Gericht:
OLG Frankfurt
Senat für
Bußgeldsachen
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
2 Ss-OWi 289/06, 2
Ss OWi 289/06
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 73 Abs 2 OWiG, § 74 Abs 2
OWiG, § 80 Abs 1 Nr 2 OWiG, §
80 Abs 2 OWiG, § 80 Abs 4 Nr
4 OWiG
(Zulassung der Rechtsbeschwerde im Bußgeldverfahren:
Zulassungsgrund der Versagung rechtlichen Gehörs bei
einem Verwerfungsurteil)
Leitsatz
1. Der Zulassungsgrund Versagung des rechtlichen Gehörs (§ 80 Abs. 1 Nr. 2 und Abs.
2 OWiG) ist nicht gegeben, wenn der Tatrichter den Einspruch gegen einen
Bußgeldbescheid gemäß § 74 Abs. 2 OWiG aus Gründen verwirft, bei denen es auf das
Vorbringen des Betroffenen zu dem Entbindungsantrag nach § 73 Abs. 2 OWiG nicht
ankommt.
2. Eine Versagung des rechtlichen Gehörs liegt dann auch nicht darin, dass infolge der
Verwerfung die Einlassung des Betroffenen zur Sache unberücksichtigt bleibt (entgegen
Brandenburgisches OLG ZfSch 2004, 235).
Tenor
1. Der Antrag des Betroffenen auf Zulassung der Rechtsbeschwerde gegen das
Urteil des Amtsgerichts Bad Hersfeld vom 18. Mai 2006 wird verworfen.
2. Aufgrund der Verwerfung des Zulassungsantrags gilt die Rechtsbeschwerde als
zurückgenommen (§ 80 Abs. 4 Satz 4 OWiG).
3. Der Betroffene hat die Kosten seines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels zu
tragen (§§ 46 Abs. 1 OWiG, 473 Abs. 1 StPO).
Gründe
Das Regierungspräsidium Kassel verhängte gegen den Betroffenen mit
Bußgeldbescheid vom 20. September 2005 wegen Überschreitung der zulässigen
Höchstgeschwindigkeit eine Geldbuße von 50,-- €. Hiergegen legte er Einspruch
ein, den das Amtsgericht durch Urteil nach § 74 Abs. 2 OWiG verwarf, weil er der
Hauptverhandlung ferngeblieben war. Dem zu Beginn der Hauptverhandlung
gestellten Antrag des mit schriftlicher Vollmacht erschienen Verteidigers, den
Betroffenen von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen zu entbinden,
entsprach das Amtsgericht unter Hinweis auf die Kommentierung bei Göhler, OWiG
14. Aufl. § 73 Rdn. 4 nicht, da ein entsprechender Antrag vor der
Hauptverhandlung gestellt werden müsse. Der Entbindungsantrag war damit
begründet worden, dass die Fahrereigenschaft des Betroffenen eingeräumt werde,
die wirtschaftlichen Verhältnisse als geordnet zu bezeichnen seien und im übrigen
keine Angaben gemacht würden.
Gegen dieses Verwerfungsurteil wendet sich der Betroffene. Er beantragt, die
Rechtsbeschwerde zuzulassen, rügt die Verletzung formellen und materiellen
Rechts, wobei er insbesondere die Versagung des rechtlichen Gehörs geltend
macht. Der Antrag ist unbegründet, weil ein Zulassungsgrund nicht vorliegt.
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1. Zur Fortbildung des sachlichen Rechts ist die Zulassung ersichtlich nicht
geboten.
2. Da gegen den Betroffenen eine Geldbuße von nicht mehr als 100,-- € verhängt
worden ist, kommt auch eine Zulassung der Rechtsbeschwerde wegen der
Anwendung von Vorschriften über das Verfahren nicht in Betracht (§ 80 Abs. 2 Nr.
1 i.V.m. Abs. 1 OWiG). Selbst eine fehlerhafte und obergerichtlich
klärungsbedürftige Anwendung der einfachgesetzlichen Verfahrensvorschriften §
74 Abs. 2 OWiG und § 73 Abs. 2 OWiG kann daher den Zulassungsantrag
grundsätzlich nicht begründen (vgl. Senge in KK-OWiG 3. Aufl. § 74 Rdn. 54;
BayObLG VRS 96, 18).
Eine Ausnahme gilt, wenn - wie hier - mit dem Verstoß gegen §§ 73 Abs. 2, 74 Abs.
2 OWiG gleichzeitig die Versagung des rechtlichen Gehörs geltend gemacht wird
und es geboten ist, das Urteil wegen Versagung des rechtlichen Gehörs
aufzuheben. Insoweit wird in der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte
verbreitet die Auffassung vertreten, ein Verstoß gegen den Grundsatz des
rechtlichen Gehörs liege vor, wenn infolge der rechtsfehlerhaften Ablehnung des
Entbindungsantrages und anschließender Verwerfung des Einspruchs die
Einlassung des Betroffenen zur Sache unberücksichtigt geblieben ist (vgl. OLG
Rostock, Beschlüsse vom 7. März 2006 – 2 Ss (OWi) 155/05 I 93/05 und vom 3.
März 2006 – 2 Ss (OWi) 257/05 I 146/05, jeweils zit. nach j u r i s; OLG Brandenburg
ZfSch 2004, 235; BayObLG VRS 103, 377; OLG Koblenz OLGSt OWiG § 73 Nr. 6;
OLG Köln VRS 74, 124).
Dem kann in dieser Allgemeinheit nicht gefolgt werden, weil ansonsten die
einschränkenden Voraussetzungen, unter denen die Rechtsbeschwerde nach § 80
Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 1 OWiG zugelassen wird, weitgehend unterlaufen würden (vgl.
Senge aaO § 80 Rdn. 41 d). Bleibt die Einlassung des Betroffenen zur Sache wegen
rechtsfehlerhafter Anwendung von §§ 73 Abs. 2, 74 Abs. 2 OWiG unberücksichtigt,
so ist zwar sein Anspruch auf rechtliches Gehör berührt. Im Verfahren über die
Zulassung der Rechtsbeschwerde nach § 80 Abs. 1 und Abs. 2 OWiG kommen
jedoch - auch weil es sich um weniger bedeutsame Sachen mit Bagatellecharakter
handelt - nur Gehörsverletzungen im Sinne des Art. 103 Abs. 1 GG in Betracht.
Denn insoweit soll das Rechtsbeschwerdegericht in Fällen, in denen nicht
zweifelhaft erscheint, dass das Urteil der Nachprüfung durch das
Bundesverfassungsgericht nicht standhalten würde, korrigierend eingreifen, um
eine Anrufung des Bundesverfassungsgerichts zu vermeiden (vgl. BVerfG NJW
1992, 2811; BayObLG VRS 96, 18; Göhler, aaO § 80 Rdn. 16a m.Nachw.).
Nach dem Maßstab des Art. 103 Abs. 1 GG liegt eine Verletzung des rechtlichen
Gehörs hier aber nicht vor. Das Gebot des rechtlichen Gehörs im Sinne von Art.
103 Abs. 1 GG soll sicherstellen, dass die erlassene Entscheidung frei von
Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und
Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben. Es bietet indessen
keinen Schutz vor Entscheidungen, die den Sachvortrag eines Beteiligten aus
Gründen des formellen oder materiellen Rechts unberücksichtigt lassen (vgl.
BVerfG aaO; BVerfGE 21, 191, 194 ). So liegt die Sache hier aber. Das Amtsgericht
hat den Entbindungsantrag beschieden und dabei kein für die Frage der
Entbindung relevantes Vorbringen des Betroffenen übergangen. Nach dem
rechtlichen Ansatz des Amtsgerichts kam es vielmehr auf die zur Entbindung
vorgebrachten Gründe nicht mehr an (vgl. auch OLG Karlsruhe VRS 109, 282). Ob
das einfache Recht zur Frage der Rechtzeitigkeit des Entbindungsantrages dabei
richtig angewendet worden ist braucht hier nicht entscheiden zu werden. Art. 103
Abs. 1 GG verpflichtete das Amtsgericht nicht, dem Betroffenen darin zu folgen,
dass der Entbindungsantrag noch zu Beginn der Hauptverhandlung gestellt
werden könne (vgl. BVerfGE 64, 1 , 12; BVerfGE 60, 305; BVerfG, Beschlüsse vom
3. August 1989 – 1 BvR 1178/88 und vom 14. Januar 2002 – 2 BvR 2189/00 zit.
nach j u r i s). Dass aufgrund der Verwerfung des Einspruchs die Einlassung des
Betroffenen zur Sache unberücksichtigt geblieben ist, stellt unter diesen
Umständen keine Versagung des rechtlichen Gehörs dar (vgl. OLG Karlsruhe aaO;
siehe auch OLG Köln VRS 96, 451).
Anders läge es, wenn das Amtsgericht unter gleichsam willkürlich rechtfehlerhafter
Anwendung von § 74 Abs. 2 OWiG das unabdingbare Mindestmaß
verfassungsrechtlich verbürgten rechtlichen Gehörs verletzt hätte (vgl. BVerfG NJW
1992, 2811). Auch dies ist aber nicht der Fall. Die Auffassung des Amtsgerichts,
wonach der Entbindungsantrag im Hinblick auf den Wortlaut von § 74 Abs. 2 OWiG
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wonach der Entbindungsantrag im Hinblick auf den Wortlaut von § 74 Abs. 2 OWiG
(„entbunden war“) und die Gesetzesmaterialien vor der Hauptverhandlung gestellt
werden müsse, wird in der einschlägigen Kommentarliteratur vertreten (Göhler,
aaO § 73 Rdn. 4). Der Gegenansicht von Senge (KK-OWiG, 5. Aufl. § 73 Rdn. 18)
haben sich in neueren Entscheidungen zwar inzwischen einige Oberlandesgerichte
angeschlossen (z.B. OLG Naumburg ZfSch 2002, 595; OLG Brandenburg ZfSch
2004, 235; vgl. auch OLG Karlsruhe VRS 109, 282). Eine Entscheidung des
Oberlandesgerichts Frankfurt am Main, die das Amtsgericht hier besonders zu
beachten hätte, liegt dazu jedoch bislang noch nicht vor. Die Auffassung des
Amtsgerichts war nach alledem jedenfalls vertretbar.
Hinzu kommt, dass der Betroffene auf die Folgen unentschuldigten Ausbleibens
hingewiesen worden war, und er damit das Risiko der Verwerfung seines
Einspruchs im Falle der Zurückweisung seines erst mit Beginn der
Hauptverhandlung gestellten Entbindungsantrages zu tragen hat (vgl. Senge
aaO). Dazu gehört auch, dass infolge der Verwerfung seine Sacheinlassung
unberücksichtigt blieb. Der Betroffene hatte es selbst in der Hand, seinem
Verteidigungsvorbringen, sei es durch Anwesenheit in der Hauptverhandlung, sei
es durch einen rechtzeitig gestellten Entbindungsantrag, Gehör zu verschaffen.
3. Soweit damit von der in ZfSch 2004, 235 abgedruckten Entscheidung des OLG
Brandenburg, der im Wesentlichen die gleiche Fallgestaltung zugrunde lag,
abgewichen wird, ist eine Vorlage an den Bundesgerichtshof gemäß § 121 Abs. 2
GVG durch den Einzelrichter ausgeschlossen (BGHSt 44, 144; Senge aaO § 80a
Rdn. 10). Eine Übertragung an den Senat kam ebenfalls nicht in Betracht, weil dies
im Verfahren über die Zulassung der Rechtsbeschwerde wegen Versagung
rechtlichen Gehörs nach § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG nach dem klaren Willen des
Gesetzgebers, der in der Regelung des § 80a Abs. 3 Satz 2 OWiG zum Ausdruck
gekommen ist, nicht vorgesehen ist (vgl. dazu BGHR OWiG § 80a Besetzung 2).
Im übrigen hat eine informelle Anfrage bei den übrigen Mitgliedern des Senats
ergeben, dass sie die hier vertretene Rechtsauffassung teilen.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.