Urteil des OLG Frankfurt vom 06.02.2003

OLG Frankfurt: anhörung des kindes, eltern, jugendamt, persönliche anhörung, elterliche sorge, stadt, pfleger, entziehung, kindeswohl, haushalt

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Gericht:
OLG Frankfurt 1.
Senat für
Familiensachen
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
1 WF 3/03
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 1666 Abs 1 BGB, § 620a
ZPO, § 620b ZPO, § 620c ZPO,
§ 620d ZPO
(Elterliche Sorgerechtsregelung: Erlass einer einstweiligen
Anordnung von Amts wegen bei bestehendem
Regelungsbedürfnis)
Leitsatz
Rechtsgrundlage für einstweilige Anordnungen in Familiensachen nach § 621 Nr. 1-3, 7
ZPO ist § 621 g ZPO auch dann, wenn diese Anordnungen von Amts wegen erlassen
werden. §§ 620 a bis 620 g ZPO sind auch in diesen Fällen anzuwenden.
Tenor
Der angefochtene Beschluß wird abgeändert.
Die Personensorge für das Kind X Y, geb. am … bleibt den Eltern vorläufig
entzogen. Sie wird dem Jugendamt der Landeshauptstadt ... als Pfleger
übertragen.
Die weiteren Anordnungen in dem angefochtenen Beschluss werden aufgehoben.
Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Das Beschwerdeverfahren ist gerichtsgebührenfrei. Außergerichtliche Kosten sind
nicht zu erstatten.
Beschwerdewert: 1.000,00 €.
Gründe
Das Amtsgericht hat, nachdem beide Eltern wechselseitig gestellte
Sorgerechtsanträge gem. § 1671 BGB zurückgenommen hatten, von Amts wegen
ein Verfahren nach § 1666 BGB eingeleitet. Im Rahmen dieses Verfahrens hat es
den Eltern die Personensorge für das Kind vorläufig entzogen und dem Jugendamt
der Landeshauptstadt O1 als Pfleger übertragen. Zugleich hat es den Eltern
aufgegeben auf Verlangen des Jugendamts das Kind an dieses herauszugeben
und dabei das Jugendamt ermächtigt, bei der Herausnahme des Kindes Gewalt
anzuwenden und die Unterstützung von Vollstreckungsbeamten in Anspruch zu
nehmen.
Der Einzelrichter des Senats hat die Sache wegen grundsätzlicher Bedeutung nach
§ 568 ZPO dem Kollegium übertragen.
Die Beschwerde ist zulässig, aber nur teilweise begründet.
Rechtsgrundlage für die einstweilige Anordnung ist § 621 g ZPO. Nach dieser
Bestimmung kann in einem die elterliche Sorge betreffenden Verfahren das
Gericht auf Antrag Regelungen im Wege der einstweiligen Anordnung treffen.
Allerdings fallen unter den Wortlaut dieser Bestimmung nur einstweilige
Anordnungen die auf Antrag ergangen sind. Hier hat das Amtsgericht von Amts
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Anordnungen die auf Antrag ergangen sind. Hier hat das Amtsgericht von Amts
wegen entschieden. Hieraus kann indessen nicht der Schluss gezogen werden,
dass in Verfahren zur Regelung der elterlichen Sorge einstweilige Anordnungen
nicht von Amts wegen erlassen werden könnten. Vor Inkrafttreten des § 621 g ZPO
war gewohnheitsrechtlich anerkannt, dass in isolierten Sorgerechtsverfahren wie in
anderen Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit das Gericht von Amts wegen
einstweilige Anordnungen erlassen kann wenn ein entsprechendes
Regelungsbedürfnis besteht. Diese einstweiligen Anordnungen waren nach § 19
FGG mit unbefristeter Beschwerde anfechtbar. Es ist auszuschließen, dass der
Gesetzgeber bei der Schaffung des § 621 g ZPO diesen Rechtszustand dahin
ändern wollte, dass er derartige einstweilige Anordnungen, die von Amts wegen
ergehen, nicht mehr zulassen wollte, da ersichtlich nach wie vor für die Möglichkeit
solcher einstweiligen Anordnungen von Amts wegen ein unabweisbares Bedürfnis,
besteht wenn das Wohl von Kindern gefährdet ist.
Mit der Bejahung der Frage der Zulässigkeit einstweiliger Anordnungen von Amts
wegen ist indessen die Frage noch nicht beantwortet, ob solche Anordnungen
entsprechend § 621 g ZPO zu behandeln sind mit der Folge, dass die §§ 620 a bis
620 g ZPO entsprechend gelten (sofortige Beschwerde nach § 620 c ZPO,
Einzelrichterprinzip) oder ob insoweit weiterhin sich das Beschwerdeverfahren nach
19 FGG richtet (unbefristete Beschwerde, Kollegialprinzip). Nach Überzeugung des
Senats ist von der entsprechenden Anwendung des § 621 g ZPO auszugehen. Der
Gesetzgeber wollte Verfahren hinsichtlich der einstweiligen Anordnungen in
isolierten Familiensachen der freiwilligen Gerichtsbarkeit den zivilprozessualen
Vorschriften anpassen und damit einen Gleichlauf erreichen mit einstweiligen
Anordnungen über diese Gegenstände bei Anhängigkeit eines
Ehescheidungsverfahrens. Es macht keinen Sinn, einstweilige Anordnungen, die in
solchen Verfahren von Amts wegen ergehen, hiervon auszunehmen. Dies gilt
umso mehr, als in Verfahren in denen einstweilige Anordnungen von Amts wegen
ergehen können, solche Anordnungen auch auf Antrag möglich sind. So kann im
Verfahren nach § 1666 BGB auch das Jugendamt entsprechende Anträge stellen.
Für das weitere Verfahren kann es keinen Unterschied machen, ob eine
einstweilige Anordnung in einem Hauptsacheverfahren mit gleichem
Verfahrensgegenstand auf Antrag oder von Amts wegen ergangen ist. Daher folgt
die Zulässigkeit der hier angefochtenen einstweiligen Anordnung aus § 621 g ZPO
mit der Folge, dass die §§ 620 a bis 620 g entsprechend gelten (Zöller-Philippi
ZPO, 23. Aufl. § 621 g Rdnr. 3). Die demnach einzuhaltende Beschwerdefrist von 2
Wochen (§ 620 c ZPO) ist hier gewahrt.
Das weitere Zulässigkeitserfordernis für die Beschwerde, dass zuvor mündlich
verhandelt worden ist, ist ebenfalls erfüllt (§ 620 c ZPO).
Die Beschwerde ist unbegründet, soweit der Beschwerdeführer den Wegfall des
Entzugs der Personensorge angreift.
Da das Beschwerdegericht im Sorgerechtsverfahren die Entscheidung vorrangig
am Kindeswohl auszurichten hat, ist es an Anträge nicht gebunden. Dies hat zur
Folge, dass der angefochtene Beschluss auch insoweit zu überprüfen war, als es
um die Entziehung der Personensorge der Kindesmutter ging, obwohl diese den
Beschluss nicht angefochten hat.
Unter Anlegung des am Kindeswohl ausgerichteten umfassenden
Prüfungsmaßstabs musste die Entziehung der Personensorge hinsichtlich beider
Eltern aufrechterhalten werden, da einstweilen davon auszugehen ist, dass
andernfalls das Kindeswohl infolge missbräuchlicher Ausübung der elterlichen
Sorge durch die Eltern gefährdet wäre (§ 1666 BGB). Das Kind war in der
Vergangenheit mehrfach vom Vater weggelaufen, nachdem es
Auseinandersetzungen mit diesem gegeben hatte und er gegen das Kind tätlich
geworden war. Der Vater räumt dies mit Schriftsatz vom 23.10.2002 ein. Nachdem
das Kind dann in den Haushalt der Mutter übergewechselt war, hat diese es
zugelassen, dass das Kind sodann nach kurzer Zeit mit dem Vater nach Teneriffa
übersiedelte. Aus dem Bericht des Jugendamts der Stadt O1 vom 1. Juli 2002
ergeben sich dringende Anhaltspunkte dafür, dass der Vater dort das Kind erneut
massiv geschlagen hat und das Kind Zuflucht bei einer Frau Z gefunden hat. Die in
diesem Zusammenhang erhobene Anschuldigung des Vaters, die amtierende
Amtsrichterin sei von dieser Frau Z bestochen, entbehrt ersichtlich jeder
Grundlage und lässt Zweifel am Realitätssinn des Vaters aufkommen.
Nun ergibt sich allerdings aus dem Bericht des Jugendamts der Stadt ... vom
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Nun ergibt sich allerdings aus dem Bericht des Jugendamts der Stadt ... vom
19.12.2002, dass derzeit keine akute Gefahr für das Kind besteht, nachdem dieses
sich im Haushalt der Mutter befindet, die ebenfalls nach ... gezogen ist, allerdings
nicht in die Wohnung des Vaters. Das Jugendamt konnte mit dem Kind Kontakt
aufnehmen und hat die Überzeugung gewonnen, dass sich das Kind derzeit bei der
Mutter wohlfühlt. Allerdings ist diese positive Entwicklung der Situation deren
Dauerhaftigkeit sich noch nicht sicher absehen lässt, vor dem Hintergrund zu
sehen, dass inzwischen beiden Eltern die Personensorge entzogen war. Es
bestehen erhebliche Zweifel, ob es zu der konstruktiven Zusammenarbeit
zwischen dem Jugendamt der Stadt ... und den Eltern, wie sie vom Vater nunmehr
ausdrücklich bestätigt wird, auch gekommen wäre, wenn die Personensorge den
Eltern nicht vorläufig entzogen worden wäre.
Hinzu kommt folgendes: Den Eltern ist es, solange sie Inhaber der Personensorge
waren, gelungen, die zwingend vorgesehene persönliche Anhörung des Kindes im
Sorgerechtsverfahren zu verhindern. Das Gericht ist verpflichtet, in einem
derartigen Verfahren das Kind anzuhören (§ 50 b FGG) und wird dies auch im
Rahmen der Fortsetzung des Hauptsacheverfahrens noch tun müssen. Der Vater
hat mit Schriftsatz vom 15.8.2002, wenige Tage vor dem anberaumten
Anhörungstermin, ausdrücklich erklärt, dass er eine "Vernehmung" seiner Tochter
verbiete. Die Mutter hat diese Einstellung des Vaters in der Weise umgesetzt, dass
sie zu mehreren Terminen mit der Tochter trotz entsprechender Ladung nicht
erschienen ist. Unter diesen Voraussetzungen bedarf es einer vorläufigen
Entziehung der Personensorge beider Eltern schon deshalb, um dem insoweit
sorgeberechtigten Jugendamt zu ermöglichen, das Kind zu einer Anhörung
mitzubringen.
Der angefochtene Beschluss war insoweit abzuändern, dass als Pfleger anstatt des
Jugendamts S. nunmehr das Jugendamt der Stadt ... zu bestellen war, nachdem
sich alle Beteiligten in dessen Zuständigkeitsbereich aufhalten und das Jugendamt
der Stadt ... zuletzt ohnehin im Wege der Amtshilfe für das Jugendamt O1 tätig
war.
Der Aufrechterhaltung der Herausgabeanordnung mit der zugehörigen
Ermächtigung notfalls Gewalt anzuwenden, bedurfte es derzeit nicht, da vorläufig
kein Anlass besteht, das Kind aus dem Haushalt der Mutter herauszunehmen. Der
Senat geht davon aus, daß es dem Jugendamt auch ohne eine solche Anordnung
möglich sein wird, die gerichtliche Anhörung des Kindes sicherzustellen.
Für das weitere Verfahren weist der Senat darauf hin, dass eine Abgabe des
Hauptsacheverfahrens nach § 46 FGG in Verbindung mit § 621 a Abs. 1 S. 1 ZPO
an das Amtsgericht ... zweckmäßig sein dürfte, nachdem die Eltern und das Kind
jetzt in ... leben und das Kind durch das Amtsgericht ... bisher noch nicht
persönlich gehört worden ist.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 13 a Abs. 1 S. 1 FGG, 131 Abs. 3 KostO, die
Wertfestsetzung aus § 30 KostO.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.