Urteil des OLG Düsseldorf vom 10.01.2002

OLG Düsseldorf: vernehmung von zeugen, körperliche behinderung, druck, geburt, anhörung, widerstand, schmerzensgeld, anschluss, assistenzarzt, kaiserschnitt

Datum:
Gericht:
Spruchkörper:
Entscheidungsart:
Tenor:
Aktenzeichen:
Oberlandesgericht Düsseldorf, I-8 U 49/01
10.01.2002
Oberlandesgericht Düsseldorf
8. Zivilsenat
Urteil
I-8 U 49/01
Die Berufung der Beklagten gegen das am 2. Februar 2001 verkündete
Grundurteil der 1. Zivilkammer des Landgerichts Kleve wird zurückgewie-
sen.
Mit Zustimmung der Parteien wird über den prozessualen
Streitgegenstand abschließend wie folgt entschieden:
1.
Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger
a) ein Schmerzensgeld in Höhe von 13.000 EUR nebst 4 % Zinsen
seit dem 27. Februar 1998 zu zahlen;
b) an den Kläger eine monatliche Schmerzensgeldrente in Höhe von
100 EUR ab dem 1. August 1997 vierteljährlich im voraus jeweils
zum 1. Februar, 1. Mai, 1. August und 1. November eines jeden
Jahres zu zahlen;
c) an den Kläger für den Zeitraum vom 13. April 1994 bis zum
31. Juli 1997 an rückständiger Rente 3.960 EUR nebst 4 % Zinsen
seit dem 27. Februar 1998 zu zahlen.
2.
Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner ver-pflichtet
sind, dem Kläger sämtliche materiellen und immateriellen Schäden zu
ersetzen, die ihm in Zukunft daraus entstehen, dass es bei seiner Geburt
zu einer linksseitigen oberen Armplexusparese ge-kommen ist, soweit
die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträ-ger oder andere Dritte
übergehen.
Die weitergehende Klage wird abgewiesen.
1
2
3
4
5
6
7
8
9
Von den Kosten des Rechtsstreits werden 20 % dem Kläger und 80 %
den Beklagten als Gesamtschuldnern auferlegt.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
T a t b e s t a n d
Die am 7. Juli 1960 geborene Mutter des Klägers, die in ihrem Heimatland Z. drei Kinder
geboren hatte, war im Jahre 1993 erneut schwanger. Am 4. April 1994 wurde sie in der
rechnerisch 38. Schwangerschaftswoche mit in den Bauch ausstrahlenden
Rückenschmerzen in der geburtshilflichen Abteilung des W.-A.-H. G., dessen Trägerin die
Beklagte zu 1) ist, stationär aufgenommen. Aufgrund einer Sonographie vom 6. April 1994
wurde das zu erwartende Geburtsgewicht auf 4.000 bis 4.200 g geschätzt; dieser Befund
veranlaßte den untersuchenden Arzt, auf die Gefahr einer Schulterdystokie hinzuweisen.
Am 13. April 1994 wurde die Geburt mit dem wehenfördernden Medikament Oxytocin
eingeleitet. Um 18.25 Uhr befand sich der kindliche Kopf am Beckenboden; das
geburtshilfliche Team unter Leitung des Beklagten zu 2) lagerte die Patientin zur
Entbindung. Die um 18.33 Uhr abgeschlossene Geburt ist in den Behandlungsunterlagen
wie folgt beschrieben:
"Deprimierter männlicher Säugling; massiver Kristellereinsatz nach drei Einheiten
Syntocinon intravenös; Schulterdystokie; mangelnde Kooperation der Mutter; Säugling
abgesaugt; kurzzeitig bebeutelt; O2-Gabe; Apgar 6/8/9; pH-Wert 7,2".
Bei der Neugeborenen-Erstuntersuchung des Klägers wurde der Verdacht auf eine
linksseitige Claviculafraktur geäußert; die späteren pädiatrischen Untersuchungen ergaben
eine obere Plexuslähmung, durch welche die Funktionstüchtigkeit des linken Arms
beeinträchtigt ist.
Der Kläger lastet diese Behinderung den Beklagten an. Er hat im Anschluß an zwei
Bescheide der hiesigen Gutachterkommission (Bl. 14 ff., 20 ff. GA) geltend gemacht, die
verantwortlichen Geburtshelfer hätten auf den plötzlichen Eintritt der Schulterdystokie nicht
sachgerecht reagiert. Angesichts der zu erwartenden Größe der Leibesfrucht wäre es
angebracht gewesen, die Entbindung durch Kaiserschnitt herbeizuführen. Abgesehen
davon hätten sich die Geburtshelfer nach der Entwicklung des kindlichen Kopfs und dem
anschließenden Geburtsstillstand darauf beschränkt, massiven Druck auf den Oberbauch
der Patientin auszuüben; diese Maßnahme sei bei einer Schulterdystokie grundsätzlich
kontraindiziert. Bei einem einwandfreien Vorgehen wäre die nicht mehr reversible
Plexuslähmung nicht eingetreten. Durch den vermeidbaren Vorfall sei er auf Dauer nicht im
Stande, seinen linken Arm zu belasten.
Der Kläger hat beantragt,
1. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn
a) ein angemessenes Schmerzensgeld nebst 4 % Zinsen seit dem 27. Februar
1998;
b) eine monatliche Schmerzensgeldrente in Höhe von 300 DM ab dem 1. August
1997 vierteljährlich im voraus jeweils zum 1. Februar, 1. Mai, 1. August und 1. November
eines jeden Jahres;
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
c) eine rückständige Rente für die Zeit vom 13. April 1994 bis zum 31. Juli 1998 in
Höhe von 11.874,19 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 27. Februar 1998 zu zahlen;
2. festzustellen, daß die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet seien, ihm
sämtliche materiellen und immateriellen Schäden, die ihm in Zukunft aus der im
Zusammenhang mit seiner Geburt am 13. April 1994 stehenden ärztlichen Behandlung
entstünden, zu ersetzen, soweit sie nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte
übergingen.
Die Beklagten haben den Antrag gestellt,
die Klage abzuweisen.
Sie haben eigene Versäumnisse geleugnet und behauptet, ein Kaiserschnitt sei in der
damaligen Situation nicht ernsthaft in Betracht gekommen, zumal bereits das dritte Kind der
Patientin bei der Geburt über 4.000 g gewogen habe. Als bei der Entbindung plötzlich die
nicht vorherzusehende Schulterdystokie aufgetreten sei, habe man sich einwandfrei
verhalten; eine Episiotomie sei nach der Entwicklung des kindlichen Kopfs nicht mehr in
Betracht gekommen; auch habe man von einer Flexion der mütterlichen Beine und einer
Rotation der kindlichen Schulter absehen müssen, da die Patientin sich mit großer
Kraftanstrengung gegen das geburtshilfliche Vorgehen gewehrt habe. Zur Vermeidung der
drohenden kindlichen Asphyxie sei es unumgänglich gewesen, die Entbindung durch
wehenfördernde Medikamente und durch den Kristeller-Handgriff zu beschleunigen.
Vorsorglich haben die Beklagten den Umfang der gesundheitlichen Beeinträchtigungen
bestritten und die Höhe des geltend gemachten Schmerzensgeldes beanstandet.
Die 1. Zivilkammer des Landgerichts Kleve hat durch Vernehmung von Zeugen sowie
durch Einholung von Sachverständigengutachten Beweis erhoben und sodann die Klage
durch Grundurteil vom 2. Februar 2001 dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die Berufung der Beklagten. Sie beanstanden die
Beweiswürdigung des Landgerichts und machen geltend, man habe auf die schicksalhaft
eingetretene Schulterdystokie sachgerecht reagiert. Der anwesende Assistenzarzt habe die
verkeilte Schulter durch suprasymphysären Druck erfolgreich gelöst; erst anschließend
habe man wehenfördernde Mittel und den Kristeller-Handgriff eingesetzt. Der Versuch einer
vaginalen Rotation der kindlichen Schulter sei nicht in Betracht gekommen, da die Patientin
sich mit großer Kraftanstrengung gegen eine solche Maßnahme gewehrt habe. Abgesehen
davon stehe nicht fest, dass die Plexuslähmung bei einer anderen Art des Vorgehens
vermieden worden wäre; der vom Landgericht beauftragte Sachverständige habe
ausdrücklich betont, dass es nach einer Schulterdystokie verhältnismäßig häufig zu einer
dauerhaften Schädigung komme. Die verbleibende Ungewissheit hinsichtlich des
Kausalverlaufs müsse sich zu Lasten des beweispflichtigen Klägers auswirken; das
geburtshilfliche Vorgehen in der damaligen dramatischen Situation sei nämlich keinesfalls
als grob fehlerhaft zu bezeichnen, so dass Beweiserleichterungen nicht in Betracht kämen.
Die Beklagten beantragen,
unter Aufhebung des Grundurteils des Landgerichts Kleve vom 2. Februar 2001
die Klage abzuweisen.
Der Kläger stellt den Antrag,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Parteien haben sich übereinstimmend mit einer abschließenden Entscheidung durch
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
34
den Senat einverstanden erklärt. Insoweit wiederholen sie ihre in der letzten mündlichen
Verhandlung vor dem Landgericht gestellten Anträge.
Der Kläger vertieft sein erstinstanzliches Vorbringen.
Der Senat hat durch Anhörung des Sachverständigen Prof. Dr. W. Beweis erhoben. Wegen
des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf den Berichterstattervermerk vom 15.
November 2001 (Bl. 485 ff GA) verwiesen.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
von den Parteien eingereichten Schriftsätze Bezug genommen.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
A.
Die zulässige Berufung der Beklagten ist nicht begründet. Das Landgericht hat der Klage
mit Recht und aus zutreffenden Erwägungen dem Grunde nach stattgegeben; dabei ist im
Wege der Auslegung der angefochtenen Entscheidung davon auszugehen, dass es das
Bestreben der erstinstanzlichen Zivilkammer war, dem Feststellungsantrag des Klägers
durch Teilurteil zu entsprechen (vgl. Bl. 312 GA).
I.
Die Beklagten sind nach § 847 BGB zur Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes
verpflichtet. Darüber hinaus haben sie aus dem Gesichtspunkt einer unerlaubten Handlung
im Sinne des § 823 BGB - die Beklagte zu 1) auch nach den Grundsätzen der positiven
Vertragsverletzung gemäß den §§ 611, 242, 276, 249 ff BGB - die künftig drohenden
materiellen Schäden zu ersetzen. Die Erörterung des Entbindungsverlaufs mit dem
Sachverständigen Prof. Dr. W. hat eindeutig ergeben, dass bei der geburtshilflichen
Betreuung der Patientin gravierende Versäumnisse unterlaufen sind:
1.)
Allerdings war es sachgerecht, am 13. April 1994 eine vaginale Entbindung anzustreben.
Prof. Dr. W. hat deutlich gemacht, dass ein Kaiserschnitt nur dann ernsthaft in Erwägung zu
ziehen ist, wenn man mit einem Geburtsgewicht der Leibesfrucht von über 4.500 g zu
rechnen hat. Nach der am 6. April 1994 durchgeführten Sonographie lag die
Gewichtsschätzung bei 4.000 bis 4.200 g, also deutlich unterhalb des als riskant
einzustufenden Wertes. Darüber hinaus konnten die verantwortlichen Geburtshelfer
berücksichtigen, dass es sich bei der Patientin nicht um eine Erstgebärende handelte; das
Geburtsgewicht des letzten Kindes hatte zudem bereits über 4.000 g gelegen. Angesichts
dessen war im Anschluss an die durchgeführte Fetometrie nicht mit besonderen
Komplikationen zu rechnen.
2.)
Aufgrund der Beweisaufnahme steht hingegen fest, dass die verantwortlichen
Geburtshelfer auf das plötzliche Auftreten der Schulterdystokie in der Endphase der
Entbindung nicht einwandfrei reagiert haben:
a) Prof. Dr. W. hat im Rahmen seiner Anhörung im einzelnen die Maßnahmen beschrieben,
die grundsätzlich angebracht sind, wenn es nach der Entwicklung des kindlichen Kopfes
überraschend zu einer Verkeilung der Schultern im mütterlichen Becken kommt:
Sachgerecht ist es, die Wehentätigkeit medikamentös zu unterbinden; sodann ist zur
35
36
37
Verringerung des Weichteilwiderstands und vor allem zur Gewährleistung eines optimalen
vaginalen Zugangs eine großzügige Episiotomie anzulegen. Nach diesen
Vorbereitungshandlungen kann und muss der Versuch unternommen werden, die verkeilte
Schulter durch geeignete Manipulationen zu lösen; häufig gelingt es durch mehrfaches
Beugen und Strecken der mütterlichen Beine die Entbindung fortzusetzen; daneben ist es
möglich, das bestehende Hindernis durch äußerlichen Druck oberhalb der Symphyse zu
beseitigen; schließ-lich kann durch Manipulationen im Geburtskanal eine Rotation der
kindlichen Schulter herbeigeführt werden. Prof. Dr. W. hat keinen Zweifel daran gelassen,
dass dieses Vorgehen bereits im Jahre 1994 allgemein bekannt sein musste; die
empfohlenen Maßnahmen waren regelmäßig Gegenstand von Aufsätzen in einschlägigen
Fachzeitschriften und gehörten deshalb zu dem in einer geburtshilflichen Abteilung
geschuldeten medizinischen Standard.
b) Tatsächlich wurden die gebotenen Manipulationen nicht durchgeführt. Das
geburtshilfliche Personal unter Leitung des Beklagten zu 2) hat sich vielmehr damit
begnügt, das wehenfördernde Medikament Syntocinon zu verabreichen und die
Entbindung durch den sogenannten Kristeller-Handgriff, also durch massiven Druck auf
den Oberbauch der Patientin, zu beenden. Diese Maßnahmen waren
- woran Prof. Dr. W. im Rahmen seiner Anhörung keinen Zweifel gelassen hat - in der
damaligen Situation grundsätzlich kontraindiziert; sie führten zunächst notgedrungen zu
einer weiteren Verkeilung der kindlichen Schulter im mütterlichen Becken; das dem
Geburtsfortschritt entgegenstehende Hindernis konnte sodann nur durch massiven
Gewalteinsatz und unter Inkaufnahme gesundheitlicher Beeinträchtigungen überwunden
werden.
c) Der Darstellung der Beklagten, es sei zunächst - bis zur Rotation der kindlichen Schulter
- nur Druck oberhalb der Symphyse ausgeübt worden, ist nicht zu folgen; auch ihre
Behauptung, die weiteren gebotenen Maßnahmen seien an dem heftigen und nicht zu
überwindenden Widerstand der Patientin gescheitert, kann der Beurteilung des
Sachverhalts nicht zugrundegelegt werden: Zwar haben der Assistenzarzt Dr. I. und die
Hebamme B. bei ihrer erstinstanzlichen Vernehmung bestätigt, dass sich die Mutter des
Klägers dem richtigen Vorgehen massiv widersetzt habe; das Landgericht hat aber in der
angefochtenen Entscheidung zutreffend darauf hingewiesen, dass ihre Aussagen im
Ergebnis nicht überzeugend sind. Sowohl die Art des mütterlichen Widerstands als auch
die Reihenfolge des geburtshilflichen Vorgehens werden widersprüchlich geschildert;
ferner ist nicht zu verkennen, dass die Sachdarstellung der Beklagten im Laufe des
Prozesses wiederholt geändert wurde: In der ersten Stellungnahme wird ausdrücklich auf
die Entbehrlichkeit einer Episiotomie hingewiesen; auch seien die in der Literatur
beschriebenen Maßnahmen zur Lösung der Schulterdystokie in der damaligen Situation
nicht möglich gewesen, so dass als ultima ratio zur Vermeidung weitergehender Nachteile
nur der massive Einsatz des Kristeller-Handgriffs übrig geblieben sei. In der
Berufungsbegründung wird demgegenüber geltend gemacht, den Geburtshelfern sei es
gelungen, die kindliche Schulter durch Druck oberhalb der Symphyse zu befreien; erst
anschließend habe man - in nunmehr indizierter Weise - die Geburt durch den Einsatz
wehenfördernder Mittel und durch manueller Unterstützung der Presstätigkeit beendet. Im
Rahmen der Beweiswürdigung ist ferner zu berücksichtigen, dass in dem Geburtsprotokoll
zur Beseitigung der Kom-plikation ausschließlich die von dem Sachverständigen als
kontraindiziert bezeich-neten Maßnahmen dokumentiert sind; der angeblich nicht zu
überwindende Widerstand der Patientin wird lediglich als "mangelnde Kooperation"
bezeichnet. Schließlich hat der Sachverständige Prof. Dr. W. überzeugend dargelegt, dass
es einfache Mittel gibt, eine schwangere Patientin zu der erforderlichen Mitwirkung zu
zwingen: Legt man ein Querbett an, ist es der werdenden Mutter nicht mehr möglich, die
38
39
40
41
42
43
44
45
notwendigen Manipulationen der Geburtshelfer durch ein Stemmen der Beine gegen die
Unterkante des Betts oder durch Bildung eines Hohlkreuzes zu verhindern. Abgesehen
davon hat die Hebamme B. bei ihrer Vernehmung eingeräumt, dass die Patientin zwischen
den einzelnen Wehen durchaus ansprechbar und zugänglich war; durch diese Aussage
wird die Vermutung des Sachverständigen, die Abwehrhaltung sei eine bloße Reaktion auf
die medikamentöse Wehenförderung und auf die durch den Kristeller-Handgriff
verursachten Schmerzen, bestätigt. Der angebliche Widerstand der Kindesmutter hätte also
nicht nur durch eine Umlagerung, sondern auch durch eine Entspannung der Gebärmutter
beseitigt werden können.
3.)
Für die geschilderten Versäumnisse hat nicht nur die Beklagte zu 1) als
Krankenhausträgerin einzustehen, sondern auch der Beklagte zu 2). Zwar mag es sein,
dass der kontraindizierte Kristeller-Handgriff nicht von ihm persönlich, sondern von dem
Assistenzarzt Dr. I. angewandt wurde; er war aber als Oberarzt in der damaligen Situation
für das geburtshilfliche Konzept verantwortlich; die Fehlerhaftigkeit des Vorgehens ist
deshalb ihm anzulasten.
II.
Die den Beklagten vorzuwerfenden Versäumnisse sind für die eingetretene Schädigung
des Klägers ursächlich geworden:
1.)
Die Armlähmung ist auf die perinatalen Probleme bei der Entwicklung der kindlichen
Schulter zurückzuführen. Die diagnostizierte Plexusparese ist die typische Folge einer
Zerrung des Nervengeflechts im Anschluss an die gewaltsame Lösung einer
Schulterdystokie. Anhaltspunkte für eine anlagebedingte oder eine intrauterin verursache
Schädigung sind nicht ersichtlich.
2.)
Der Senat verkennt nicht, dass die plötzlich aufgetretene Komplikation bei der Entbindung
den Beklagten nicht vorzuwerfen ist; das Auftreten der Dystokie war überraschend und ist
als schicksalhaft anzusehen. Der Sachverständige Prof. Dr. W. hat zudem deutlich
gemacht, dass es selbst bei einem optimalen Vorgehen nicht immer gelingt, das Problem
ohne nachteilige Folgen zu bewältigen; nach einer Schulterdystokie kann es auch dann zu
einer bleibenden Schädigung kommen, wenn das geburtshilfliche Personal in jeder
Hinsicht einwandfrei handelt. Dennoch ist die Behinderung letztlich den Beklagten
haftungsrechtlich zuzurechnen; dem Kläger sind nämlich im Anschluss an die von der
höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten Grundsätze hinsichtlich des
Kausalverlaufs Beweiserleichterungen zuzubilligen, weil die in der geburtshilflichen
Abteilung ergriffenen Maßnahmen als grob fehlerhaft einzustufen sind. In diesem
Zusammenhang kann den Beklagten zugute gehalten werden, dass die damalige Situation
dramatisch und bedrohlich war; nach dem Heraustreten des kindlichen Kopfes aus dem
Geburtskanal bestand die Gefahr einer Sauerstoffunterversorgung; es musste deshalb das
Bestreben der Geburtshelfer sein, die Entbindung innerhalb eines möglichst kurzen
Zeitraums abzuschließen. Dennoch muss das - im Ergebnis als konzeptlos und unüberlegt
zu bezeichnende - Verhalten als schwerwiegendes Versäumnis gewertet werden. Prof. Dr.
W. hat keinen Zweifel daran gelassen, dass einem Facharzt die zur Lösung einer
kindlichen Schulter erforderlichen und geeigneten Maßnahmen bekannt und geläufig sein
müssen; wichtig ist dabei ein an den einschlägigen Empfehlungen orientiertes
46
47
48
49
50
51
52
53
systematisches Vorgehen. Ein solches Konzept wurde von dem Beklagten zu 2) ersichtlich
nicht verfolgt; vielmehr war er in einer nach Auffassung des Gutachters unverständlichen
Art ausschließlich darum bemüht, die Entbindung durch einen massiven Krafteinsatz zu
beenden.
B.
Über die Höhe des angemessenen Schmerzensgeldes kann aufgrund der vorhandenen
gutachterlichen Stellungnahmen und unter Berücksichtigung der zu den Akten gereichten
ärztlichen Berichte entschieden werden. Der Senat hält es deshalb im Einverständnis der
Parteien für angebracht, über das prozessuale Begehren des Klägers abschließend zu
befinden.
I.
Die Beklagten sind nach § 847 BGB als Gesamtschuldner zur Zahlung eines
Schmerzensgeldes von 13.000 EUR nebst 4 % Zinsen seit dem 27. Februar 1998 sowie
zur Entrichtung einer monatlichen Schmerzensgeldrente von 100 EUR verpflichtet:
1.)
Der vom Landgericht als Gutachter hinzugezogene Kinderarzt Dr. H. hat im Rahmen seiner
schriftlichen Ausführungen und anlässlich seiner mündlichen Anhörung anschaulich
geschildert, dass die Funktionstüchtigkeit des linken Arms des Klägers auf Dauer erheblich
beeinträchtigt ist: Die Plexusparese der in Höhe der Halswirbelkörper C 5 und C 6
verlaufenden Nervenstränge vermindert die Armhebung nach vorne und außen erheblich;
auch die Rotation nach außen sowie die Beugung im Ellenbogengelenk sind betroffen.
Nach den Feststellungen des Gutachters ist die Belastbarkeit des Arms insgesamt
beträchtlich eingeschränkt; die Tragfunktion der linken Hand ist auf Dauer zwar nicht
aufgehoben, aber vermindert. Aufgrund der Lähmung ist es zu einer asymmetrischen
Körperfehlhaltung gekommen, die mit einer Wirbelsäulenkrümmung und einer
kompensatorischen Neigung des Kopfes zur Gegenseite verbunden ist; die Koordination
von Bewegungsabläufen ist schwerfällig. Aus den zu den Akten gereichten Berichten über
die Entwicklung des Krankheitsbildes in der letzten Zeit (Bl. 456 ff GA) wird deutlich, dass
man darum bemüht ist, durch krankengymnastische Maßnahmen die Mobilität zu
verbessern und einer weiteren Verschlechterung der Fehlhaltung vorzubeugen. Im
Ergebnis ist aber eine nicht behebbare Dauerschädigung eingetreten, die den Besuch
einer Schule für Körperbehinderte erforderlich macht. Die von dem Sachverständigen Dr.
H. darüber hinaus festgestellte Entwicklungsverzögerung, die sich in Defiziten bei der
Sprachrezeption und der Konzentrationsfähigkeit äußert, ist den Beklagten demgegenüber
nicht anzulasten; insoweit konnte der Gutachter keinen sicheren Zusammenhang mit den
Geburtsumständen feststellen. Abgesehen davon wäre eine - eventuell für eine gewisse
zerebrale Leistungsminderung ursächliche - peripartuale Sauerstoffmangelsituation nicht
den Geburtshelfern vorzuwerfen; eine solche Asphyxie wäre vielmehr auf die mit der
Schulterdystokie schicksalhaft verbundene Verzögerung bei dem Entbindungsablauf
zurückzuführen.
2.)
Die auf der Plexusparese beruhende Beeinträchtigung des körperlichen
Leistungsvermögens rechtfertigt ein Schmerzensgeld von 13.000 EUR. Daneben ist dem
Kläger gemäß § 847 BGB ein monatlicher Betrag von 100 EUR zuzubilligen; diese Rente
trägt dem Umstand Rechnung, dass die erhebliche körperliche Behinderung den Kläger bei
zahlreichen Verrichtungen des täglichen Lebens beeinträchtigt und ihm vor allem in der
54
55
56
57
58
59
60
61
62
63
Phase des Heranwachsens bei sportlichen Aktivitäten und bei der Auswahl einer
geeigneten beruflichen Tätigkeit schmerzlich bewusst sein wird.
3.)
Der Zinsanspruch beruht auf den §§ 284 Abs. 1, 286 Abs. 1, 288 Abs. 1 Satz 1 BGB.
4.)
Dem Feststellungsantrag des Klägers ist stattzugeben, da im Hinblick auf die Art der
körperlichen Beeinträchtigung künftige materielle und immaterielle Schäden nicht
auszuschließen sind.
C.
Die Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 92 Abs. 1, 708 Nr. 10, 713, 108 Abs. 1 Satz
1 ZPO.
Die Beschwer beider Parteien liegt unter 60.000 DM.
Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.
a.
Richterin am OLG S.-B. ist erkrankt und kann des- halb nicht unterschreiben.
a.
G. B.