Urteil des OLG Düsseldorf vom 31.10.2003

OLG Düsseldorf: eröffnung des verfahrens, dienstverhältnis, abtretung, vergütung, absonderung, zessionar, gewährleistung, begriff, beruf, kreditgeber

Oberlandesgericht Düsseldorf, I-4 U 110/03
Datum:
31.10.2003
Gericht:
Oberlandesgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
4. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
I-4 U 110/03
Tenor:
Auf die Berufung der Beklagten wird das am 10. Februar 2003
verkündete Urteil der 10. Zivilkammer des Landge-richts Düsseldorf
abgeändert und die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits hat der Kläger zu tragen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung
durch Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des aufgrund des Urteils
vollstreckbaren Betrages abwenden, sofern nicht die Beklagte vor der
Vollstre-ckung Sicherheit in Höhe von 120 % des zu vollstrecken-den
Betrages leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
G r ü n d e
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I.
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Der Kläger ist Insolvenzverwalter in dem am 23. Januar 2002 eröffneten
Insolvenzverfahren über das Vermögen des Zahnarztes Dr. M.-D. (im Folgenden:
Schuldner).
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Der Schuldner stand in ständiger Geschäftsbeziehung zur beklagten Bank. Bereits am
29. September 1975 hatte er, ergänzt durch Erklärung vom 14. September 1994, ihr alle
gegenwärtigen und zukünftigen Ansprüche gegen die für ihn zuständige
Kassenzahnärztliche Vereinigung sicherungshalber abgetreten. Durch Kündigung vom
13. Februar 2002 stellte die Beklagte ihre Kreditforderungen in Höhe von 347.355,55
EUR fällig.
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In den ersten beiden Monaten nach Insolvenzeröffnung zahlte die Kassenzahnärztliche
Vereinigung ... 30.102,26 EUR auf das Girokonto des Schuldners bei der Beklagten. Die
Parteien streiten darüber, ob das Geld zur Insolvenzmasse gehört oder gemäß § 114
Abs. 1 InsO der Beklagten zusteht.
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Das Landgericht hat dem Kläger einen Erstattungsanspruch in dieser Höhe
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einschließlich Zinsen zugebilligt, weil die Abtretung der Ansprüche gegen die
Kassenzahnärztliche Vereinigung nicht über den Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung
hinauswirke. Bezüge aus einem Dienstverhältnis i.S. von § 114 Abs. 1 InsO seien
typischerweise die Vergütungsansprüche von Arbeitern und Angestellten oder die
Besoldung der Beamten. Anders als im Falle der §§ 850 bis 850 k ZPO sei bei § 114
InsO eine über den Wortlaut der Norm hinausreichende Auslegung abzulehnen, da der
Gesetzgeber nur die Privilegierung von Menschen am unteren Ende der
sozialstrukturellen Skala gewollt habe, um ihnen durch die Abtretung oder Verpfändung
ihrer Einkünfte eine Kreditaufnahme zu ermöglichen. Freiberufler, zu denen auch
Kassenärzte gehörten, seien darauf nicht in gleichem Maße angewiesen.
Dagegen wendet sich die Beklagte mit der Berufung. Sie beantragt,
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das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
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Der Kläger, der das Urteil verteidigt, bittet um
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Zurückweisung der Berufung.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf Tatbestand und Entscheidungsgründe des
erstinstanzlichen Urteils sowie den Akteninhalt Bezug genommen.
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II.
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Die Berufung hat Erfolg.
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Der Kläger kann die Auskehrung der von der Kassenzahnärztlichen Vereinigung
überwiesenen Gelder nicht verlangen, weil der Schuldner darüber bereits vor Eröffnung
des Insolvenzverfahrens wirksam zugunsten der Beklagten verfügt hat. Die
abweichende Entscheidung des Landgerichts beruht auf einem Fehlverständnis des §
114 Abs. 1 InsO. Nach der Auffassung des Einzelrichters soll § 114 InsO eng
auszulegen sein, um eine Schmälerung der Masse zu verhindern. In Wirklichkeit verhält
es sich jedoch umgekehrt. Zwar erfasst das Insolvenzverfahren gemäß § 35 InsO das
gesamte Vermögen, das dem Schuldner zur Zeit der Eröffnung des Verfahrens gehört
und das er während des Verfahrens erlangt. Soweit er diese Ansprüche vor
Insolvenzeröffnung unanfechtbar zur Sicherung abgetreten hat, stehen sie aber nicht
mehr ihm, sondern dem Zessionar zu. Sie gehören daher weder zum gegenwärtigen
noch zum zukünftigen Vermögen des Schuldners. Das ergibt sich aus §§ 50, 51 Nr. 1
InsO, denn danach sind auch die Gläubiger zur Absonderung berechtigt, denen der
Schuldner sicherungshalber ein Recht, also auch eine Forderung, abgetreten hat.
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Vor diesem Hintergrund dient § 114 Abs. 1 InsO - neben der Gewährleistung der
Restschuldbefreiung - der Erweiterung der Insolvenzmasse, in dem Vorausverfügungen
des Schuldners über sein Einkommen befristet werden, denn erst dadurch werden
Absonderungsrechte von Kreditgebern beschnitten und der Neuerwerb der
Insolvenzmasse gesichert (Kübler/Prütting/Moll, InsO, § 114 Rn. 8, 9; MK-
Löwisch/Caspers, InsO, § 114 Rn. 2; Uhlenbruck/Berscheid, InsO, 12. Aufl., § 114 Rn.
4). Deshalb ist - entgegen der Auffassung des Landgerichts und des Klägers - der
Begriff der "Bezüge aus einem Dienstverhältnis" in § 114 Abs. 1 InsO nach, soweit
ersichtlich, einhelliger Meinung weit und in Anlehnung an die §§ 850 ff. ZPO
auszulegen (Braun/Kroth, InsO, § 114 Rn. 3; Hess, InsO, § 114 Rn. 12;
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Kübler/Prütting/Moll, a.a.O., § 114 Rn. 11, 12; MK-Löwisch/ Caspers, a.a.O., § 114 Rn. 6;
Uhlenbruck/Berscheid, a.a.O., § 114 Rn. 7, 9), da nicht einzusehen ist, warum die Masse
nur bei Insolvenzen von Arbeitern, Angestellten und Beamten vor einer Aushöhlung
durch Abtretungen oder Pfändungen an bzw. durch Kreditgeber geschützt werden muss
(MK-Löwisch/Caspers, a.a.O.).
Folglich ist bei § 114 Abs. 1 InsO ebenso wie bei der Einordnung einer Vergütung als
Arbeitseinkommen i.S. von § 850 Abs. 2 ZPO nur von untergeordneter Bedeutung, ob es
sich um ein Entgelt für eine Tätigkeit in einem freien Beruf handelt oder nicht.
Entscheidend ist in beiden Fällen, ob es um eine Vergütung für Dienstleistungen geht,
die die Existenzgrundlage des Schuldners bildet. Das ist aber auch bei Ansprüchen
eines Kassenzahnarztes gegen die Kassenärztliche Vereinigung der Fall (vgl. zu § 850
Abs. 2 ZPO: BGH v. 5.12.1985 - IX ZR 9/85 - NJW 1986, 2362 unter I. 2a; ebenso zu §
114 InsO: Hess, a.a.O., § 114 Rn. 16; MK-Löwisch/ Caspers, § 114 Rn. 4). So liegen die
Dinge auch hier, da weder vorgetragen noch sonst ersichtlich ist, dass der Schuldner
Kassenpatienten nur in einem nicht ins Gewicht fallenden Umfang behandelt hat.
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Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 91, 543 Abs. 2, 708 Nr. 10, 711 ZPO.
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Berufungsstreitwert: 30.102,26 EUR.
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Dr. S. Dr. R. B.
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