Urteil des OLG Dresden vom 02.04.2017

OLG Dresden: rechtliches gehör, funktionelle zuständigkeit, südafrika, zustellung, gerichtsstand, anschrift, rechtshängigkeit, berufungsfrist, verfügung, entscheidungszuständigkeit

Leitsätze:
1. Eine unter Hinweis auf § 119 Abs. 1 Nr. 1b GVG vorgenomme-
ne Weiterleitung der Akten durch das als Berufungsgericht
angerufene Landgericht an das Oberlandesgericht, um die
der Berufungsführer nicht gebeten hat, begründet grund-
sätzlich keine Sachbefassungs- und Entscheidungszuständig-
keit des letztgenannten Gerichtes.
2. Eine solche Zuständigkeit des Oberlandesgerichts scheidet
erst recht dann aus, wenn die Weitergabe der Akten ohne
Gewährung rechtlichen Gehörs erfolgt ist, die funktionelle
Unzuständigkeit des angerufenen Landgerichts nicht einmal
klar auf der Hand liegt und der Berufungsführer überdies
nachträglich deutlich macht, dass er das Landgericht wei-
terhin für zuständig hält.
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Oberlandesgericht
Dresden
Aktenzeichen: 8 U 1000/07
2 C 32/06 AG Stollberg
Beschluss
des 8. Zivilsenats
vom 11.07.2007
In dem Rechtsstreit
H..... H.....,
Südafrika
-Kläger/Antragsgegner-
Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwältin
gegen
U.... R......
-Beklagter/Antragsteller-
Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte
wegen Mietforderung; PKH-Antrag für beabsichtigte Berufung
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hat der 8. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Dresden ohne
mündliche Verhandlung durch
Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht H.....,
Richter am Oberlandesgericht B..... und
Richter am Amtsgericht R......
beschlossen:
Die Sache wird an das Landgericht Chemnitz zur Fortführung
des dort anhängigen Verfahrens 6 S 162/07 zurückgegeben.
G r ü n d e :
I.
Am 27.04.2007 reichte der Beklagte, dem das anzugreifende
Urteil des Amtsgerichts am 04.04.2007 zugestellt worden war,
einen Prozesskostenhilfeantrag nebst Entwurf einer Beru-
fungsbegründung beim Landgericht ein. Der Kammervorsitzende
leitete den Antrag der Prozessbevollmächtigten des Klägers
zu. Diese hielt das Gesuch für nicht aussichtsreich; zu
Recht habe das Amtsgericht der Klage stattgegeben. Am
21.06.2007 verfügte der Berichterstatter der Kammer:
"2. Das Landgericht Chemnitz ist nicht für die Entschei-
dung über die Berufung/den PKH-Antrag des Berufungs-
verfahrens zuständig. Der Kläger hatte zum Zeitpunkt
der Rechtshängigkeit seinen allgemeinen Gerichts-
stand im Ausland. Aus diesem Grunde ist für die Be-
rufung gegen die Entscheidung des Amtsgerichtes aus-
schließlich das OLG Dresden zuständig.
3. Ziffer 2 zur Kenntnisnahme an die Prozessbevollmäch-
tigten beider Seiten unter Hinweis darauf, dass die
Akte dem Oberlandesgericht Dresden vorgelegt wird.
4. Akte an OLG Dresden unter Hinweis auf Ziffer 2 der
Verfügung.
5. Abtragen."
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Die Akten gingen am 28.06.2007 beim Oberlandesgericht ein.
Nach einem telefonischen Hinweis des Senatsvorsitzenden auf
§ 119 GVG und zur Frage der Wiedereinsetzung hat der
Beklagte geltend gemacht, ausweislich der Klageschrift habe
der Kläger bei Klageerhebung in Deutschland gewohnt. Damit
sei das Landgericht Chemnitz zuständig. Bei diesem sei der
Prozesskostenhilfeantrag rechtzeitig gestellt worden, so
dass es auf Wiedereinsetzungsfragen nicht ankomme.
II.
Eine Entscheidung über den Prozesskostenhilfeantrag hat der
Senat nicht zu treffen. Vielmehr ist die Sache an das Land-
gericht zur weiteren Behandlung und Entscheidung in eigener
Zuständigkeit zurückzugeben.
1. Der Beklagte hat das Landgericht als (künftiges) Beru-
fungsgericht angerufen und nicht, auch nicht im Sinne ei-
ner nachträglichen Billigung, um "Verweisung" oder form-
lose Angabe an das Oberlandesgericht gebeten. Die unauf-
geforderte Weitergabe der Akten durch ein fälschlich an-
gerufenes Landegericht an das in Wahrheit gemäß § 119 GVG
zuständige Oberlandesgericht kann im Einzelfall ange-
bracht sein und die Sachbefassungs- und Entscheidungszu-
ständigkeit des letztgenannten Gerichtes begründen. Vor-
aussetzung ist aber stets, dass die Unzuständigkeit des
vom
Berufungsführer/Antragsteller
angerufenen
Landge-
richts klar und unzweifelhaft auf der Hand liegt. Diese
Einschränkung gilt jedenfalls dann, wenn - wie hier - den
Beteiligten, namentlich dem (künftigen) Berufungsführer,
vor der Abgabe kein rechtliches Gehör gewährt worden und
außerdem, bezogen auf ein Verfahren vor dem Oberlandesge-
richt, sowohl die Berufungsfrist als auch die identische
Frist zur Stellung eines Prozesskostenhilfeantrages, um
später Wiedereinsetzung in die versäumte Berufungsfrist
erlangen zu können, verstrichen ist.
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2. Im Streitfall ist nicht ausgeschlossen, sondern liegt im
Gegenteil sogar nahe, dass das Landgericht funktionell
zuständig ist.
Die Voraussetzungen des § 119 Abs. 1 Nr. 1b GVG, der auch
für mietrechtliche Streitigkeiten der vorliegenden Art
eingreift (grundlegend BGH, Beschluss vom 15.07.2003 -
VIII ZB 30/03, NJW 2003, 3278), sind nach dem Wortlaut
der Vorschrift erfüllt, wenn der Kläger im Zeitpunkt der
(Begründung der) Rechtshängigkeit keinen inländischen
allgemeinen Gerichtsstand hatte. Das hat der Berichter-
statter des Landgerichts ohne nähere Erläuterung angenom-
men. Der Beklagte behauptet dagegen unter Hinweis auf die
in der Klageschrift vom 10.01.2006 mitgeteilte Anschrift
in Köln das Gegenteil. Im gesamten ersten Rechtszug und
bis zur Berichterstatterverfügung des Landgerichts vom
21.06.2007 spielte die Frage, ob der Kläger bei Zustel-
lung der Klage am 29.05.2006 seinen Wohnsitz (§ 13 ZPO)
und damit seinen allgemeinen Gerichtsstand in Deutschland
hatte, keine Rolle. In einem Schriftsatz vom 22.01.2006
teilte die Prozessbevollmächtigte des Klägers dem sachbe-
arbeitenden Amtsgerichtsdirektor zwar "wunschgemäß" (den
Akten ist nicht zu entnehmen, ob es einen solchen Wunsch
gab und woher dieser ggf. rührte) die Anschrift des Man-
danten wie folgt mit: P.O. Box 35, B......, Südafrika.
Schon wie diese Nachricht zu deuten ist, namentlich ob
dies bedeuten sollte, der Kläger habe seinen Wohnsitz als
dauerhaften Lebensmittelpunkt in Südafrika, ist aber of-
fen. Überdies wurde der Schriftsatz vom 22.01.2006 -
entgegen einem handschriftlichen Zusatz in der Verfügung
des Amtsgerichtsdirektors - im Zuge der Zustellung der
Anordnung des schriftlichen Vorverfahrens vom 15.05.2006
und der Klage dem Beklagten nicht übermittelt. Dies hat
der sachbearbeitende Rechtsanwalt des Beklagten in einem
Telefonat vom 09.07.2007 anhand des ihm vollständig vor-
liegenden Akteninhalts versichert; der Inhalt des Emp-
fangsbekenntnisses vom 29.05.2006 stimmt hiermit überein.
Damit ist gegenwärtig davon auszugehen, dass der Beklagte
erstmals durch das Rubrum des Prozesskostenhilfebeschlus-
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ses des Amtsgerichts vom 25.10.2006 von der Postfachan-
schrift des Klägers in Südafrika und durch die Terminie-
rungsverfügung vom selben Tag von der - später befolg-
ten - Aufforderung des Gerichts an den Kläger erfahren
hat, eine zustellungsfähige Anschrift mitzuteilen. Er
konnte deshalb - nach dem bisherigen Erkenntnisstand -
mindestens bis zum 09.07.2007 davon ausgehen, der Kläger
habe seinen Wohnsitz von der in der Klageschrift und auch
im Mietvertrag genannten Anschrift in Köln erst nach Zu-
stellung der Klage nach Südafrika verlegt.
Bei dieser Sachlage spricht Überwiegendes für die Beru-
fungszuständigkeit des Landgerichts. Weder war erstin-
stanzlich "unstreitig" (solches schied bereits mangels
Kenntnis des Beklagten vom Schriftsatz vom 22.01.2006
aus), noch hat das Amtsgericht ausdrücklich festgestellt,
dass der Kläger bei Zustellung der Klage keinen Inlands-
wohnsitz hatte. Wie in einer solchen, ganz außergewöhnli-
chen Konstellation § 119 Abs. 1 Nr. 1b GVG zu handhaben
ist, ist trotz inzwischen beinahe zahlloser Entscheidun-
gen des Bundesgerichtshofes zu § 119 GVG noch nicht
höchstrichterlich geklärt. Zwar obliegt dem Berufungsfüh-
rer der Nachweis der Prozessvoraussetzung der funktionel-
len Zuständigkeit des angerufenen Gerichts (BGH, Be-
schlüsse vom 28.03.2006 - VIII ZB 100/04, NJW 2006, 1808
und vom 19.09.2006 - X ZB 31/05, Volltext in juris). Da-
nach müsste, damit die Zuständigkeit des angerufenen
Landgerichts eröffnet ist, grundsätzlich der Beklagte be-
weisen, dass der Kläger bei Zustellung der Klage seinen
allgemeinen Gerichtsstand in Deutschland hatte. Dies
liegt hier aber unter zwei Gesichtspunkten nahe:
Zum einen könnte der Wohnsitz des Klägers in Deutschland
im Mai 2006, bezogen auf den Sach- und Streitstand erster
Instanz, sogar - gewissermaßen umgekehrt - als unstreitig
zu behandeln sein, weil der "blasse" Inhalt der nachge-
reichten Mitteilung des Klägers zu einer Postfachan-
schrift in Südafrika die klare (Wohnsitz-)Angabe in der
Klageschrift womöglich nicht entkräftete, sondern nach
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wie vor von einem Wohnsitz des deutschen Klägers in
Deutschland auszugehen war. Dieser unstreitige erstin-
stanzliche Sachverhalt wäre dann der Prüfung der Voraus-
setzungen des § 119 Abs. 1 Nr. 1b GVG bindend zugrunde zu
legen (BGH, Beschluss vom 28.01.2004 - VIII ZB 66/03,
NJW-RR 2004, 1073).
Wollte man den Schriftsatz vom 22.01.2006 dagegen großzü-
gig als neue Wohnsitzangabe bzw. jedenfalls als eindeuti-
gen Hinweis auf einen nicht mehr in Deutschland bestehen-
den allgemeinen Gerichtsstand des Klägers verstehen, wäre
zum anderen die Frage zu beantworten, ob die objektiv
formulierten Voraussetzungen des § 119 Abs. 1 Nr. 1b GVG
wortlautgetreu selbst dann anzuwenden sind, wenn dem be-
klagten inlandsansässigen Berufungsführer eine Klage-
schrift zugestellt wurde, die eine Klägeranschrift in
Deutschland bezeichnet, und er bis zur Einlegung des
Rechtsmittels (bzw. Stellung eines entsprechenden Pro-
zesskostenhilfeantrages) auch sonst keine Informationen
über die Wohnsitzverlagerung des Klägers ins Ausland vor
Rechtshängigkeit erhalten hat. Manches dürfte dafür spre-
chen, in einem solchen außergewöhnlichen Fall den Anwen-
dungsbereich der Vorschrift nicht für eröffnet zu halten
und eine teleologische Reduktion zu erwägen. Gerade weil
die Norm - die im Lichte des rechtsstaatlichen Gebotes
der Rechtsmittelklarheit auszulegen ist, welches die den
Parteien in zumutbarer Weise mögliche Ermittlung des zu-
ständigen Rechtsmittelgerichtes einschließt - auf klare,
den Parteien erkennbare Verhältnisse abstellt und dem Be-
rufungsführer die Darlegungs- und Beweislast für die
funktionelle Zuständigkeit des angerufenen Gerichts ob-
liegt, kam nach dem Kenntnisstand des Beklagten im Grunde
nur die Anrufung des Landgerichts in Betracht; die Zu-
ständigkeit des Oberlandesgerichts konnte er hingegen -
ohne weitere Nachforschungen, zu denen aus seiner Sicht
kaum Anlass bestanden haben dürfte - bis zum Ablauf der
Berufungsfrist nicht einmal darlegen.
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3. Die vorbezeichneten und andere Fragen, die sich stellen
könnten, hat der Senat derzeit nicht zu entscheiden. Da
jedenfalls von einer unzweifelhaften Zuständigkeit des
Oberlandesgerichts gemäß § 119 Abs. 1 Nr. 1b GVG nicht
ausgegangen werden kann, ist die Sache an das vom An-
tragsteller angerufene und auch nachträglich für allein
zuständig gehaltene Landgericht zurückzugeben. Vorsorg-
lich wird der Beklagte, dessen Prozessbevollmächtigte
seit dem 09.07.2007 Kenntnis von dem Inhalt des Schrift-
satzes vom 22.01.2006 haben, darauf hingewiesen, dass es
sich, sollte in Wahrheit die Zuständigkeit des Oberlan-
desgerichts begründet sein, aus Gründen äußerster anwalt-
licher Sorgfalt empfehlen könnte, innerhalb unter Umstän-
den seit dem 09.07.2007 laufender "Wiedereinsetzungs-
frist" für das rechtzeitige Vorliegen eines Prozesskos-
tenhilfeantrages samt Erklärung über die persönlichen und
wirtschaftlichen Verhältnisse oder einer Berufungsschrift
samt Wiedereinsetzungsantrag beim Oberlandesgericht Sorge
zu tragen. Eine förmliche Verweisung zwischen Landgericht
und Oberlandesgericht wird nach Auffassung des Senates
nicht
in
Betracht
kommen
(vgl.
Senatsbeschluss
vom
11.12.2006 - 8 U 1940/06, OLGR Dresden 2007, 288).
H.....
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