Urteil des OLG Celle vom 21.12.2011

OLG Celle: rechtshilfe in strafsachen, erläuternder bericht, sdü, verurteilter, zusatzprotokoll, staat, verfügung, übereinkommen, sanktion, begriff

Gericht:
OLG Celle, 01. Strafsenat
Typ, AZ:
Beschluss, 1 Ausl 44/11
Datum:
21.12.2011
Sachgebiet:
Normen:
IRG § 71 Abs 1 und 4, ÜAG § 2, SDÜ Art 68, SDÜ Art 69
Leitsatz:
Ein Fluchtfall im Sinne von Art. 2 Abs. 1 ZPÜberstÜbk und Art. 68 Abs. 1 SDÜ liegt bereits dann vor,
wenn der Verurteilte sich in sein Heimatland begibt, einer Ladung zum Strafantritt nicht Folge leistet
und sich der Vollstreckung im Urteilsstaat nicht zur Verfügung hält, oder wenn sich sonst aus einem
Verhalten sein fehlender Gestellungswille zweifelsfrei ergibt. Insoweit ist der Begriff der Flucht nicht
identisch mit jenem in § 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO.
Volltext:
Oberlandesgericht Celle
1 Ausl 44/11
31 Ausl S 94/11 GenStA Celle
B e s c h l u s s
In dem Rechtshilfeverfahren
gegen P. W. K.,
geboren am xxxxxxxx 1966 in W.,
wohnhaft ul. S., W., Polen,
Verfahrensbevollmächtigte: Rechtsanwältin Dr. M. aus F./O.,
wegen Schmuggels,
hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle auf den Antrag der Generalstaatsanwaltschaft Celle vom 7.
Dezember 2011 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht xxxxxxxxxx, den Richter am
Oberlandesgericht xxxxxxxxx und den Richter am Oberlandesgericht xxxxxx am 21. Dezember 2011 beschlossen:
Eine Entscheidung des Senats ist nicht veranlasst.
G r ü n d e :
I.
Das Landgericht Stade hat den Verurteilten am 24. Januar 2011 wegen Schmuggels in 208 Fällen zu einer
Gesamtfreiheitsstrafe von 4 Jahren verurteilt. Am selben Tage wurde der Haftbefehl aufgehoben. der Verurteilte
verlies Deutschland und reiste in sein Heimatland Polen. Das Urteil wurde am 1. Februar 2011 rechtskräftig. Einer
unter dem 20. April 2011 an die polnische Heimatadresse gerichteten Ladung zum Strafantritt kam der Verurteilte
nicht nach. Vielmehr hat er mit Schriftsatz vom 20. Mai 2011 beantragt, beim Justizministerium seine Überstellung
zur Strafvollstreckung in sein Heimatland Polen anzuregen. Das Niedersächsische Justizministerium erwägt
mangels Annahme eines Fluchtfalles demgegenüber ein Vollstreckungshilfeersuchen auf vertragsloser Grundlage
nach Maßgabe von § 71 Abs. 1 IRG, sofern eine Zulässigkeitserklärung nach § 71 Abs. 4 IRG herbeigeführt werden
kann. Hierzu hat die Generalstaatsanwaltschaft Celle die Akten dem Senat mit dem Antrag vorgelegt, nach § 71
Abs. 4 IRG die Vollstreckung der durch das Landgericht Stade verhängten Freiheitsstrafe in Polen für zulässig zu
erklären.
II.
Eine solche Entscheidung durch den Senat ist nicht veranlasst.
Der Senat ist zu einer Entscheidung nach § 71 Abs. 4 IRG vorliegend nicht berufen. Denn nach § 2 Abs. 1 des
Gesetzes zur Ausführung des Übereinkommens vom 21. März 1983 über die Überstellung verurteilter Personen, das
Zusatzprotokoll vom 18. Dezember 1997 und des Schengener Durchführungsübereinkommens
(Überstellungsausführungsgesetz [ÜAG]) ist bei Vollstreckungshilfeersuchen nach dem Übereinkommen
[ÜberstÜbk], nach Artikel 2 des Zusatzprotokolls [ZPÜberstÜbk] und nach den Artikeln 68 und 69 des Schengener
Durchführungsübereinkommens [SDÜ] die Vorschrift des § 71 Abs. 4 des Gesetzes über die internationale
Rechtshilfe in Strafsachen [IRG] nicht anzuwenden. Sowohl Art. 2 Abs. 1 ZPÜberstÜbk als auch Art. 68 Abs. 1 SDÜ
erfassen die sog. Fluchtfälle, in denen sich ein Verurteilter der Vollstreckung einer Sanktion im Urteilsstaat entzieht.
Ein solcher Fluchtfall liegt hier vor.
Es entspricht bereits der übereinstimmenden Rechtsprechung der - soweit ersichtlich - hierzu bislang angerufenen
Oberlandesgerichte, dass der Begriff der Flucht im Sinne der hier maßgeblichen Vorschriften nicht im Sinne von §
112 Abs. 2 Nr. 1 StPO zu verstehen ist, sondern ein Verurteilter im Sinne von Art. 2 Abs. 1 ZPÜberstÜbk und Art.
68 Abs. 1 SDÜ bereits dann flüchtig ist, wenn er sich in sein Heimatland begibt, einer Ladung zum Strafantritt nicht
Folge leistet und sich der Vollstreckung im Urteilsstaat nicht zur Verfügung hält, oder wenn sich sonst aus seinem
Verhalten sein fehlender Gestellungswille zweifelsfrei ergibt (KG vom 16.7.2007 [NJW 2008, 673].
Brandenburgisches OLG vom 26.4.2010 [1 Ws 19/10]. OLG Rostock vom 8.6.2010 [1 Ws 128/10]. OLG Dresden
vom 9.6.2011 [OLG Ausl 184/10]. zustimmend auch Böhm, NJW 2008, 677). Der Senat sieht keine Veranlassung,
von dieser Rechtsprechung der anderen Oberlandesgerichte abzuweichen - und nach § 42 Abs. 1 IRG eine
Entscheidung des Bundesgerichtshofs zu dieser Rechtsfrage herbeizuführen. Die Voraussetzungen zur Annahme
eines Fluchtfalles im Sinne der benannten Vorschriften liegen hiernach fraglos vor. Denn der Verurteilte hat
jedenfalls einer Ladung zum Strafantritt nicht Folge geleistet. Auch die Annahme eines fehlenden Gestellungswillens
im Hinblick auf eine Vollstreckung in Deutschland steht vor dem Hintergrund der gesamten Umstände nicht in Frage.
Dass der Verurteilte eine Vollstreckung zumindest seiner Erklärung zufolge nicht völlig ablehnt, sondern eine
Vollstreckung in seinem Heimatland wünscht, steht einem Sich entziehen der Vollstreckung im Urteilsstaat hierbei
nicht entgegen.
Der Annahme eines Fluchtfalles im Sinne der benannten Vorschriften steht schließlich ebenfalls nicht entgegen,
dass der Verurteilte sich in sein Heimatland abgesetzt hat, bevor das gegen ihn verkündete Urteil rechtskräftig
wurde. Aus der Denkschrift zu dem Zusatzprotokoll und deren Anlage (Erläuternder Bericht zum Zusatzprotokoll zum
Übereinkommen über die Freistellung verurteilter Personen, BRDrucks. 221/02 S. 12, 16) ist zu Personen, die [im
Sinne von Art. 2] aus dem Urteilsstaat geflohen sind, ausgeführt, dieser Artikel betreffe den Fall, ´in dem ein
Staatsangehöriger des Staates A im Staat B verurteilt wird und dann vor [Hervorhebung durch den Senat] oder
während der Verbüßung der Sanktion den Staat B verlässt und freiwillig in den Staat A einreist´. Dieser Fall liegt vor.
Diese Konstellation ist nicht mit dem dort nachfolgend beschriebenen Fall zu vergleichen, in dem das Vollstrecken
einer Freiheitsstrafe zunächst zur Bewährung ausgesetzt worden war, und erst nach Verlassen des Urteilsstaates
die Strafaussetzung widerrufen wurde. Denn ein Widerruf einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe setzt
vom Grunde her eine erneute gerichtliche Entscheidung voraus. Eine solche war vorliegend indessen nicht
erforderlich, um die Vollstreckbarkeit der Freiheitsstrafe herbeizuführen. vielmehr stand lediglich die Rechtskraft der
Entscheidung noch aus, die mangels der Einlegung eines Rechtsmittels auch zwanglos eintrat. In Kenntnis dieses
Umstandes hat der Verurteilte den Urteilsstaat verlassen - und zwar ganz offensichtlich mit der Zielrichtung, dass
hier die Vollstreckung nicht erfolgen wird und er sich in Polen um seine Familie kümmern kann. Einen anderen
Schluss lässt auch das gesamte Vorbringen des Verurteilten nicht zu. Der Verurteilte ist also nicht schlicht und ohne
unmittelbaren Zusammenhang mit dem Strafverfahren (vgl. hierzu auch Böhm, NJW 2008, 677) in sein Heimatland
gereist. Mehr wird zur Annahme eines ´Fluchtfalles´ im Sinne von Art. 2 Abs. 1 ZPÜberstÜbk und Art. 68 Abs. 1
SDÜ nicht vorausgesetzt.
III.
Das Vollstrecken der gegen den Verurteilten hier erkannten Strafe in seinem Heimatland ist gleichwohl nicht
ausgeschlossen. In Betracht kommt etwa entsprechend auch der Anregung des Niedersächsischen
Justizministeriums der Erlass eines Europäischen Haftbefehls, aufgrund dessen bei Verweigern einer Zustimmung
des Verurteilten zur Vollstreckung in seinem Heimatland die polnischen Justizbehörden nach Art. 697a § 3 der
polnischen Strafprozessordnung ins Vollstreckungshilfeverfahren übergehen können. Zu prüfen sein wird auch, ob
trotz der späteren Erklärung der Republik Polen zu dessen Inkratftreten eine Vollstreckung in Polen auf Grundlage
des Rahmenbeschlusses vom 27. November 2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen
Anerkennung auf Urteile in Strafsachen in Betracht kommen kann. Der Verurteilte selbst wünscht die Vollstreckung
in Polen und hat dem bereits auch zugestimmt.
xxxxxxxxxx xxxxxxxxxxxxxx xxxxxx