Urteil des OLG Celle vom 28.11.2011

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Gericht:
OLG Celle, 01. Strafsenat
Typ, AZ:
Beschluss, 1 Ws 415/11
Datum:
28.11.2011
Sachgebiet:
Normen:
VV RVG Nr 7000, RVG § 46 Abs 1
Leitsatz:
Das Anfertigen von Ausdrucken dem Verteidiger im Rahmen der Akteneinsicht überlassener, auf CDs
gespeicherter Textdateien ist jedenfalls bei einem weit überdurchschnittlichen Umfang (hier: 81.900
Telefongespräche auf 43.307 Seiten) zur sachgemäßen Bearbeitung der Rechtssache geboten.
Ein Antrag auf Festsetzung solcher notwendiger Verteidigerauslagen kann nicht mit der Begründung,
der Angeklagte werde durch zwei Verteidiger vertreten, die in einer Bürogemeinschaft verbunden sind,
so dass die Dateien nur einmal hätten ausgedruckt werden müssen und unter den Verteidigern hätten
ausgetauscht werden können, abgelehnt werden.
Der Grundsatz der kostenschonenden Prozessführung kann es jedoch gebieten, durch entsprechende
Einstellungen beim Ausdruck die Zahl der Seiten zu verringern.
Volltext:
Oberlandesgericht Celle
1 Ws 415/11
1 Ws 416/11
1 Ws 417/11
1 Ws 418/11
46 KLs 6031 Js 94687/04 (19/09) LG Hannover
B e s c h l u s s
In der Strafsache
gegen R. M.,
geboren am xxxxx 1973 in T./A.,
zurzeit ohne festen Wohnsitz,
Verteidiger: Rechtsanwalt S., B.,
Rechtsanwältin V., B.,
wegen Kostenfestsetzung
hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht
xxxxxxxxxx, den Richter am Oberlandesgericht xxxxxxxxxxxxxxx und den Richter am Oberlandesgericht
xxxxxxxxxx - dieser zu Nr. 1 als Einzelrichter - am 28. November 2011 beschlossen:
1. Das Verfahren wird wegen grundsätzlicher Bedeutung dem Senat übertragen (§§ 56 Abs. 2 Satz 1, 33 Abs. 8 Satz
2 RVG).
2. Die Beschwerden der Landeskasse und die Anschlussbeschwerden der Verteidiger gegen die Beschlüsse der 12.
großen Strafkammer des Landgerichts Hannover vom 26. August 2011 werden als unbegründet verworfen.
3. Diese Entscheidung ergeht gebührenfrei. Kosten werden nicht erstattet.
G r ü n d e :
I.
Mit Anträgen vom 7. Januar 2010 ersuchten die beiden Pflichtverteidiger des Angeklagten, Rechtsanwältin V. und
Rechtsanwalt S., das Landgericht Hannover jeweils um Erstattung von Auslagen nach Nr. 7000 VV RVG in Höhe
von je 6.513,55 Euro zzgl. 19 % MWSt für das Anfertigen von Ausdrucken ihnen im Rahmen der Akteneinsicht
überlassener, auf CDs gespeicherter Textdateien, die Kurzübersetzungen von insgesamt 81.900 überwachten
Telefongesprächen enthielten. Es handelte sich jeweils um 43.307 Seiten, von denen jeweils die ersten 50 mit 0,50
Euro und alle weiteren mit je 0,15 Euro veranschlagt wurden.
Die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle des Landgerichts lehnte mit Beschlüssen vom 29. April 2011 die
Kostenerstattungsanträge beider Verteidiger mit der Begründung ab, dass das Anfertigen der Ausdrucke nicht
notwendig gewesen sei, weil die Dateien auch auf CDs hätten kopiert oder auf einer Festplatte hätten gespeichert
und jederzeit eingesehen werden können.
Auf die Erinnerungen beider Verteidiger, denen die Urkundsbeamtin nicht abgeholfen hat, hat die 12. große
Strafkammer des Landgerichts Hannover durch die Einzelrichterin mit Beschlüssen vom 26. August 2011 die
Beschlüsse der Urkundsbeamtin jeweils dahingehend abgeändert, dass beiden Verteidigern jeweils die Hälfte der
beantragten Auslagen aus der Landeskasse zu erstatten sei, und die Erinnerungen im Übrigen zurückgewiesen. Zur
Begründung hat das Landgericht ausgeführt, dass das Anfertigen von Ausdrucken der Textdateien grundsätzlich
erforderlich gewesen sei, weil das Lesen von 43.307 Seiten am Computerbildschirm unzumutbar sei. Da beide
Verteidiger aber denselben Angeklagten verträten und in einer Bürogemeinschaft verbunden seien, hätte es
ausgereicht, die Dateien nur einmal auszudrucken und nach Durchsicht untereinander auszutauschen. Die
Beschlüsse wurden der Bezirksrevisorin bei dem Landgericht Hannover am 9. September 2011, Rechtsanwalt S. am
12. September 2011 und Rechtsanwältin V. am 13. September 2011 zugestellt.
Mit Schreiben vom 13. September 2011, das am 15. September 2011 bei der 12. großen Strafkammer eingegangen
ist, hat die Landeskasse Beschwerde gegen die Beschlüsse vom 26. August 2011 erhoben und beantragt, die
Beschlüsse aufzuheben und die Erinnerungen der Verteidiger vollumfänglich zurückzuweisen.
Hierauf haben Rechtsanwältin V. mit Schreiben vom 30. September 2011 und Rechtsanwalt S. mit Schreiben vom 4.
Oktober 2011 ihrerseits beantragt, die Beschwerde der Landeskasse zurückzuweisen und darüber hinaus die
Beschlüsse vom 26. August 2011, soweit sie die Erinnerungen zurückweisen, aufzuheben und die Erstattung der
Auslagen in voller Höhe anzuordnen.
Die Landeskasse hatte hierzu rechtliches Gehör.
II.
Die Beschwerden der Landeskasse und die Anschlussbeschwerden der Verteidiger haben keinen Erfolg.
Das Landgericht hat - im Ergebnis - zu Recht angeordnet, dass den Verteidigern jeweils nur die Hälfte der Auslagen
für das Anfertigen der Ausdrucke aus der Landeskasse zu erstatten ist.
1. Nach Nr. 7000 VV RVG erhält der Rechtsanwalt u. a. die Aufwendungen für Ausdrucke aus Gerichtsakten
erstattet, soweit deren Herstellung zur sachgemäßen Bearbeitung der Rechtssache geboten war. Bei dieser
Beurteilung ist auf die Sicht abzustellen, die ein verständiger und durchschnittlich erfahrener Rechtsanwalt haben
kann, wenn er sich mit der betreffenden Akte beschäftigt und alle Eventualitäten bedenkt, die bei der dann noch
erforderlichen Bearbeitung der Sache auftreten können. Dabei darf kein kleinlicher Maßstab angelegt werden. dem
Rechtsanwalt ist ein gewisser Ermessenspielraum zuzubilligen (BGH MDR 2005, 956. AGS 2005, 573. MüllerRabe
in Gerold/Schmidt, RVG 19. Aufl. VV 7000 Rn. 22 m.w.N.). Andererseits ist auch der allgemeine Grundsatz der
kostenschonenden Prozessführung zu beachten (vgl. Senatsbeschluss vom 22. Oktober 2010 - 1 Ws 547/10.
ebenso KG, Beschluss vom 27. Mai 2008 - 2/5 Ws 131/06). Indes liegt nach § 46 Abs. 1 RVG für alle Auslagen -
also auch hier - die Beweislast dafür, dass bestimmte Aufwendungen nicht notwendig waren, bei der Staatskasse,
so dass im Zweifel die Auslagen anzuerkennen sind (vgl. Senat aaO. MüllerRabe aaO § 46 Rn. 63 m.w.N.).
Vor diesem Hintergrund teilt der Senat die Auffassung des Landgerichts, dass die Aufwendungen für das
Ausdrucken der Textdateien dem Grunde nach erstattungsfähig sind. Zwar ist der Landeskasse zuzugeben, dass in
immer mehr Bereichen des beruflichen Lebens - auch in der Justiz - das Bearbeiten von Akten und Lesen von
Texten ausschließlich am Bildschirm erfolgt. Wenn aber Strafverteidiger es zur sachgemäßen Bearbeitung einer -
wie hier - umfangreichen und schwierigen Strafsache für erforderlich halten, die Kurzübersetzungen überwachter
Telefonate in Papierform vorliegen zu haben, so ist dies jedenfalls bei dem hier zu beurteilenden, weit
überdurchschnittlichen Umfang von insgesamt 43.307 Seiten auch aus Sicht eines verständigen Dritten nicht als
ermessensfehlerhaft anzusehen. Letztendlich muss bei Strafverteidigern ausgeschlossen werden, dass sie
hinsichtlich des ihnen zur Verfügung stehenden Aktenmaterials im Verhältnis zur Staatsanwaltschaft und dem
Gericht benachteiligt werden (MüllerRabe aaO VV 7000 Rn. 30). Ob die sich hiernach ergebenden Aufwendungen
weit über den sonstigen Gerichtskosten und den Pflichtverteidigergebühren liegen, ist dabei - entgegen der Ansicht
der Landeskasse - unerheblich. Der Gesetzgeber hat mit Nr. 7000 VV RVG eine - wenn auch pauschalierte -
Erstattung der tatsächlich angefallenen Auslagen vorgesehen und nicht den Weg gewählt, die Höhe der
Auslagenerstattung prozentual von den Gebühren abhängig zu machen.
2. Nicht zu folgen vermag der Senat dem Landgericht allerdings darin, dass die Dateien nur einmal hätten
ausgedruckt werden müssen und die Verteidiger die Ausdrucke untereinander hätten austauschen können. Denn das
würde auf eine unzulässige Beschränkung der Verteidigung hinauslaufen. Indes wirkt sich dies im Ergebnis nicht
aus. Denn die absolute Anzahl der ausgedruckten Seiten hätte auch bei Herstellung eines kompletten Ausdrucks
aller Dateien für jeden Verteidiger auf die Hälfte beschränkt werden können, indem hier jeweils zwei Seiten um die
Hälfte verkleinert im Querformat auf ein Blatt gedruckt worden wären. Der Senat hat die gefertigten Ausdrucke
auszugsweise in Augenschein genommen und ist hiernach zu der Überzeugung gelangt, dass ein Lesen der
Textdateien auch in einem um die Hälfte verkleinerten Format unschwer möglich und daher zumutbar gewesen wäre.
Deshalb sind die Anschlussbeschwerden der Verteidiger in jedem Fall unbegründet, so dass es dahinstehen kann,
ob unselbständige Anschlussbeschwerden im Verfahren nach § 56 RVG überhaupt zulässig sind (vgl. dazu
einerseits Mayer in Gerold/Schmidt aaO § 33 Rn. 13 m.w.N.. andererseits Hartmann, Kostengesetze 39. Aufl. § 33
RVG Rn. 23).
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 56 Abs. 2 Satz 2 RVG.
xxxxxxxxxx xxxxxxxxxxxxxxx xxxxxxxxxx