Urteil des OLG Celle vom 06.10.2011

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Gericht:
OLG Celle, 10. Zivilsenat
Typ, AZ:
Beschluss, 10 WF 300/11
Datum:
06.10.2011
Sachgebiet:
Normen:
BGB § 1610 ABS 2
Leitsatz:
Volljährige Kinder können während des freiwilligen sozialen Jahres auch dann einen
Unterhaltsanspruch haben, wenn dies nicht zwingende Voraussetzung für einen bereits beabsichtigten
weiteren Ausbildungsweg ist.
Volltext:
10 WF 300/11
602 F 5323/10 Amtsgericht Hannover
B e s c h l u s s
In der Familiensache
D. S. S., …,
Antragsteller und Beschwerdeführer,
Verfahrensbevollmächtigte:
Anwaltsbüro K., W. und P., …,
Geschäftszeichen: …,
gegen
K. R. L., …,
Antragsgegner,
Verfahrensbevollmächtigte:
Anwaltsbüro B., B., S., …,
Geschäftszeichen: …,
hat der 10. Zivilsenat - Senat für Familiensachen - des Oberlandesgerichts Celle durch den Vorsitzenden Richter am
Oberlandesgericht W., den Richter am Oberlandesgericht G. und die Richterin am Amtsgericht R. am 6. Oktober
2011 beschlossen:
Auf die sofortige Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Amtsgerichts - Familiengericht - Hannover
vom 23. August 2011 unter Zurückweisung des weiter gehenden Rechtsmittels dahin geändert, dass sich die
Verfahrenskostenhilfe für die erste Instanz auch auf die Geltendmachung eines Unterhalts von monatlich 353 € ab
August 2011 erstreckt.
Gründe
I.
Der am … 1992 geborene Antragsteller nimmt den Antragsgegner, seinen Vater, auf Unterhalt ab April 2010, d. h. ab
Eintritt der Volljährigkeit, in Anspruch. Der Antragsteller besuchte bis Juli 2011 die Realschule, die er mit dem
erweiterten Realschulabschluss verließ. Seit August 2011 absolviert er in einer Pflegediensteinrichtung ein
freiwilliges soziales Jahr. Er erhält in dieser Zeit ein Taschengeld von 198 €. Die Einrichtung übernimmt außerdem
die gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge. Ab August 2012 beabsichtigt der Antragsteller ein Gymnasium zu
besuchen, um das Fachabitur zu erreichen.
Das Amtsgericht hat dem Antragsteller für seine Unterhaltsforderungen bis einschließlich Juli 2011 teilweise die
nachgesuchte Verfahrenskostenhilfe (VKH) bewilligt, für den letzten Zeitabschnitt von Mai bis Juli 2011 hinsichtlich
eines Monatsbetrages von 264 €. Insoweit ist es davon ausgegangen, dass sich der Unterhaltsbedarf des
Antragstellers aufgrund des Gesamteinkommens beider Eltern nach der 6. Einkommensgruppe der Düsseldorfer
Tabelle bemisst (Tabellensatz 625 €) und unter Anrechnung des Kindergeldes von 184 € monatlich 441 € beträgt. Da
die Mutter seit Mai 2011 unter Berücksichtigung ihrer Rente von monatlich 1.082 € und ihres
Krankenversicherungsbeitrags von monatlich 223 € nicht (mehr) leistungsfähig ist, hat das Amtsgericht insoweit
allein den Antragsgegner für unterhaltspflichtig angesehen. Da dieser bisher monatlich 177 € freiwillig gezahlt hatte,
hat das Amtsgericht dem Antragsteller nur zur Geltendmachung der rückständigen Beträge von monatlich 264 €
VKH bewilligt. Für die Zeit ab August 2011 hat es dagegen VKH mangels hinreichender Erfolgsaussicht des
Unterhaltsbegehrens versagt. Es hat die Auffassung vertreten, während der Absolvierung des freiwilligen sozialen
Jahres bestehe nur dann ein Unterhaltsanspruch, wenn diese Tätigkeit als Voraussetzung für eine andere
Ausbildung (z. B. zum Altenpfleger) gefordert werde. Dies sei vorliegend nicht der Fall. Außerdem sei der
Unterhaltsbedarf während des freiwilligen sozialen Jahres in der Regel durch Unterkunft und Verpflegung,
Taschengeld und Sozialversicherung gedeckt.
Dagegen richtet sich die sofortige Beschwerde des Antragstellers, soweit die VKH auf die Zeit ab August 2011
versagt worden ist. Er weist darauf hin, dass er lediglich Taschengeld, aber keine sonstigen Leistungen,
insbesondere keine kostenfreie Unterkunft und Verpflegung erhalte, und ist der Auffassung, dass ihm während des
an die Schulausbildung anschließenden freiwilligen sozialen Jahres weiter ein Unterhaltsanspruch zustehe.
Der Antragsteller hat seine Unterhaltsforderung für die Zeit ab April 2011 auf (nur) monatlich 397 € beziffert. Er wohnt
weiterhin im Haushalt seiner Mutter. Der Antragsgegner verfügt über Einkünfte (einschließlich eines Wohnvorteils)
von monatlich 2.084 €.
II.
Die sofortige Beschwerde des Antragstellers ist zulässig und teilweise begründet. Das Unterhaltsbegehren des
Antragstellers bietet auch für die Zeit ab August 2011 teilweise die zur Bewilligung von VKH erforderliche
hinreichende Aussicht auf Erfolg.
1. Zwar wird die vom Amtsgericht vertretene Auffassung, während der Absolvierung eines freiwilligen sozialen
Jahres bestehe nur dann ein Unterhaltsanspruch, wenn es sich dabei um die notwendige Voraussetzung für ein
beabsichtigtes Studium oder eine beabsichtigte Ausbildung (zu einem sozialen Beruf) handelt (vgl. OLG Naumburg
FamRZ 2008, 86. OLG Schleswig OLGR 2008, 196. OLG München FamRZ 2002, 1425 (Leitsatz) = OLGR 2002,
142. Wendl/Dose/ Klinkhammer Das Unterhaltsrecht in der familienrichterlichen Praxis 8. Aufl. § 2 Rn. 489.
Palandt/Brudermüller BGB 70. Aufl. § 1610 Rn. 19. Seiler in: Gerhardt/von HeintschelHeinegg/Klein Handbuch des
Fachanwalts Familienrecht 8. Aufl. 6. Kapitel Rn. 239. Botur in: Büte/Poppen/Menne Unterhaltsrecht 2. Aufl. § 1610
BGB Rn. 40) oder die Eltern einverstanden gewesen seien (OLG Stuttgart FamRZ 2007, 1353), in Rechtsprechung
und Literatur allgemein geteilt. Zur Begründung wird dabei darauf verwiesen, dass ein nicht zur weiteren Ausbildung
erforderliches freiwilliges soziales Jahr selbst keine angemessene Vorbildung zu einem Beruf im Sinne des § 1610
Abs. 2 BGB darstelle.
2. Diese Rechtsauffassung kann jedoch nach Ansicht des Senats angesichts der geltenden Rechtslage nicht
aufrecht erhalten werden.
a) Gemäß § 1610 Abs. 2 BGB erstreckt sich der Unterhaltsanspruch eines Kindes auf die Kosten einer
angemessenen Vorbildung zu einem Beruf. Die Eltern schulden dem Kind eine seiner Begabung angemessene
Ausbildung, die die Perspektive einer späteren eigenständigen Finanzierung des Lebensunterhalts bietet (vgl. OLG
Nürnberg FamRZ 2001, 440. Palandt/Brudermüller a.a.O. Rn. 18). Die einzelnen Ausbildungsschritte müssen dabei
grundsätzlich aufeinander folgen und in einem sachlichen Zusammenhang stehen. Dies hat der BGH z. B. für die
aufeinander bezogenen Ausbildungsschritte LehreAbiturStudium bejaht (BGHZ 107, 376. FamRZ 2001, 1601). Über
die konkrete Gestaltung der Ausbildung kann das volljährige Kind grundsätzlich selbst entscheiden, sofern es dabei
auf die berechtigten Belange seiner Eltern Rücksicht nimmt (vgl. Wendl/Dose/Klinkhammer a.a.O. Rn. 481 f.. Botur
a.a.O. Rn. 37). Danach kommt es entscheidend darauf an, ob die Absolvierung eines freiwilligen sozialen Jahres
überhaupt als Abschnitt einer angemessenen Gesamtausbildung anzusehen ist und ob die Finanzierung (auch)
dieses Abschnitts und der damit u. U. verbundenen Verlängerung der Gesamtausbildung den Unterhaltspflichtigen
zuzumuten ist.
b) Die bisher veröffentlichte Rechtsprechung, auf die die zitierten Literaturstimmen Bezug nehmen, ist noch zu den
früher geltenden gesetzlichen Regelungen über den Jugendfreiwilligendienst ergangen. Zuletzt galt das Gesetz zur
Förderung eines freiwilligen sozialen Jahres in der Fassung der Bekanntmachung vom 17. Juli 2002 (BGBl. I S.
2596). Danach war das freiwillige soziale Jahr als überwiegend praktische Hilfstätigkeit in gemeinwohlorientierten
Einrichtungen konzipiert, die pädagogisch begleitet wurden und dem Ziel dienten, Verantwortungsbewusstsein für
das Gemeinwohl zu stärken sowie soziale und interkulturelle Erfahrungen zu vermitteln. Der Ausbildungsgedanke
trat danach noch nicht in den Vordergrund.
Die bisherigen rechtlichen Vorschriften sind indessen durch das Gesetz vom 16. Mai 2008 (BGBl. I S. 842)
aufgehoben und durch das Gesetz zur Förderung von Jugendfreiwilligendiensten (Jugendfreiwilligendienstegesetz -
JFDG) ersetzt worden. Nach § 1 dieses Gesetzes fördern Jugendfreiwilligendienste die ´Bildungsfähigkeit´ der
Jugendlichen. Das freiwillige soziale Jahr wird zwar weiterhin als überwiegend praktische Hilfstätigkeit in
gemeinwohlorientierten Einrichtungen geleistet. Es wird aber ausdrücklich im Gesetz hervorgehoben, dass die
ausgeübte Tätigkeit ´an Lernzielen orientiert´ ist. Außerdem wird die - weiterhin vorgesehene - pädagogische
Begleitung der Tätigkeit von einer zentralen Stelle eines zugelassenen Trägers sichergestellt, womit das Ziel verfolgt
wird, ´soziale, kulturelle und interkulturelle Kompetenzen zu vermitteln und das Verantwortungsbewusstsein für das
Gemeinwohl zu stärken´ (§ 3 des Gesetzes). Noch stärker kommt der Ausbildungszweck in den
Gesetzesmaterialien zum Ausdruck: So wird in der Gesetzesbegründung der Bundesregierung hervorgehoben, dass
die Jugendfreiwilligendienste ´Orte informeller Bildung´ sind und dass die Freiwilligen ´neben beruflicher Orientierung
und Arbeitserfahrung … wichtige personale und soziale Kompetenzen (erwerben), die als Schlüsselkompetenzen
auch die Arbeitsmarktchancen verbessern können´ (BTDrs. 16/6519 S. 11). Der Jugendfreiwilligendienst wird als ´ein
an Lernzielen ausgerichteter Bildungsdienst´ angesehen (a.a.O. S. 12). Auch in der Stellungnahme des Bundesrats
wird betont, die Freiwilligendienste dienten der Verbesserung sozialer Kompetenzen und zur Förderung der Bildungs
und Beschäftigungsfähigkeit. Der Schwerpunkt der Durchführung dieser Maßnahme liege auf der Jugendbildung
(BTDrs. 16/6967 S. 3 f.). In den Ausschussberatungen wurde als Ziel der neuen Regelungen genannt, den
Freiwilligendienst stärker als Lerndienst auszugestalten und die Selbstbestimmung, die Selbstverantwortung und das
Selbstbewusstsein junger Menschen zu stärken sowie die beruflichen Chancen gerade von benachteiligten
Jugendlichen (z. B. mit Migrationshintergrund) zu verbessern (BTDrs. 16/8256 S. 21). Diese Ziele fanden ihren
Niederschlag in den letztlich Gesetz gewordenen Beschlüssen des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend.
Vor diesem Hintergrund kann nach Auffassung des Senats die Absolvierung eines freiwilligen sozialen Jahres
nunmehr im Rahmen einer Gesamtausbildung zu einem Beruf auch dann als ein angemessener Ausbildungsschritt
anzusehen sein, wenn - wie im vorliegenden Fall - bei Beginn dieses Ausbildungsabschnitts noch nicht feststeht, ob
die Ausbildung später tatsächlich in einen sozialen Beruf münden und das freiwillige soziale Jahr sich somit konkret
´auszahlen´ wird. Es spricht viel dafür, dass das freiwillige soziale Jahr schon deshalb grundsätzlich als
angemessener Ausbildungsabschnitt angesehen werden kann, weil es geeignet ist, die Bildungsfähigkeit
Jugendlicher zu fördern und ihre Chancen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nach Abschluss ihrer Ausbildung zu
verbessern. Hinzu kommt, dass die pädagogisch begleitete praktische Tätigkeit in einer sozialen Einrichtung auch
geeignet ist, den Jugendlichen Klarheit darüber zu verschaffen, ob sie sich für einen sozialen Beruf eignen. Das
freiwillige soziale Jahr stellt sich damit auch als eine Orientierungsphase dar. Es ist allgemein anerkannt, dass ein
Kind seinen Anspruch auf Ausbildungsunterhalt während einer gewissen Orientierungsphase nicht verliert (vgl. BGH
FamRZ 1998, 671, 672. im Hinblick auf ein freiwilliges soziales Jahr ausdrücklich BGH Beschluss vom 29. Juni
2011 XII ZR 127/09 ).
3. Danach kommt ein Anspruch des Antragstellers auch für die Zeit der Absolvierung des freiwilligen sozialen Jahres
grundsätzlich in Betracht. Eine Inanspruchnahme des Antragsgegners ist auch nicht mit Rücksicht auf seine
wirtschaftliche Situation unbillig, zumal der Bedarf des Antragstellers teilweise durch die Fortzahlung des
Kindergeldes (§ 32 Abs. 4 Nr. 2 d EStG) sowie die im Pflegedienstvertrag vorgesehenen Leistungen (Taschengeld
und Sozialversicherungsbeiträge) gedeckt wird und der Antragsteller noch im Haushalt seiner Mutter lebt, so dass
sich sein Bedarf noch nach den Sätzen der Düsseldorfer Tabelle bemisst.
Der Bedarf des Antragstellers richtet sich - was das Amtsgericht übersehen hat - ab Mai 2011 nur noch nach den
Einkünften des Antragsgegners, weil die Mutter des Antragstellers ab Beginn ihres Ruhestandes nicht mehr
leistungsfähig ist. Der Antragsgegner fällt mit seinem Einkommen von monatlich 2.084 € in die 3.
Einkommensgruppe der Düsseldorfer Tabelle. Damit ist von einem Unterhaltsbedarf des Antragstellers von
monatlich 537 € auszugehen. Darauf ist jedenfalls das volle Kindergeld anzurechnen. Dann verbleiben monatlich 353
€. Inwieweit auch das vom Antragsteller bezogene Taschengeld von monatlich 198 € - insbesondere unter
Berücksichtigung eines ausbildungsbedingten Mehrbedarfs - anzurechnen ist, wird im Hauptsacheverfahren zu
klären sein. Die über den Monatsbetrag von
353 € hinausgehende Forderung des Antragstellers bietet dagegen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg.
W. G. R.