Urteil des OLG Celle vom 09.02.2012

OLG Celle: dringender tatverdacht, entlassung aus der haft, untersuchungshaft, haftbefehl, wichtiger grund, fortdauer, erlass, verfügung, begriff, beschleunigungsgebot

Gericht:
OLG Celle, 02. Strafsenat
Typ, AZ:
Beschluss, 32 HEs 1/12
Datum:
09.02.2012
Sachgebiet:
Normen:
StPO § 121 Abs 1
Leitsatz:
Unter den Begriff „derselben Tat“ gemäß § 121 StPO fallen alle Taten des Beschuldigten von dem
Zeitpunkt an, in dem sie - im Sinne eines dringenden Tatverdachts - bekannt geworden sind und in
den bestehenden Haftbefehl hätten aufgenommen werden können, und zwar unabhängig davon, ob sie
Gegenstand desselben Verfahrens oder getrennter Verfahren sind.
Entsteht im weiteren Verlauf der Ermittlungen ein dringender Tatverdacht wegen einer anderen Tat,
beginnt die Frist des § 121 StPO zu dem Zeitpunkt, an dem sich bei ordnungsgemäßer
Ermittlungstätigkeit der dringende Tatverdacht und somit die Möglichkeit einer Haftbefehlserweiterung
erstmals ergeben hat. Dies gilt aber nur, wenn die weitere Tat, um die der Haftbefehl ergänzt wird,
auch für sich allein den Erlass eines Haftbefehls rechtfertigt.
Volltext:
Oberlandesgericht Celle
32 HEs 1/12
10b KLs 4/11 LG Stade
131 Js 3364/11 StA Stade
B e s c h l u s s
In der Strafsache
gegen 1. B. J. ,
geboren am xxxxxx 1964 in M./P.,
wohnhaft u. P., P.,
zurzeit in der JVA S.,
Verteidiger: Rechtsanwältin B., S.,
Rechtsanwalt J., H.
2. A. W. D. ,
geboren am xxxxxx 1978 in S./P.,
wohnhaft M., P./P.,
zurzeit in der JVA O.,
Verteidiger: Rechtsanwalt Z., B.,
Rechtsanwalt D., O.
wegen schweren Bandendiebstahls
hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle im Haftprüfungsverfahren nach §§ 121, 122 StPO nach Anhörung
der Generalstaatsanwaltschaft, der Angeklagten und der Verteidiger durch den Vorsitzenden Richter am
Oberlandesgericht xxxxxxxxx, den Richter am Oberlandesgericht xxxxxxxxx und den Richter am Amtsgericht
xxxxxx am 09.02.2012 beschlossen:
1. Die Untersuchungshaft des Angeklagten A. W. D. dauert fort.
2. Die weitere Haftprüfung bezüglich des Angeklagten D. wird für die Zeit bis zum 09.05.2012 dem nach den
allgemeinen Vorschriften zuständigen Gericht dem Landgericht Stade übertragen.
3. Zu einer Entscheidung über die Fortdauer der Untersuchungshaft des Angeklagten B. J. ist der Senat derzeit nicht
berufen.
G r ü n d e :
I.
Die Angeklagten wurden am 22.08.2011 vorläufig festgenommen. Aufgrund der Haftbefehle des Amtsgerichts Stade
vom 22.08.2011 befinden sich beide Angeklagte seit dem 23.08.2011 in dieser Sache ohne Unterbrechung in
Untersuchungshaft.
Die Staatsanwaltschaft Stade erhob am 21.12.2011 gegen die beiden Angeklagten sowie gegen vier weitere
Personen Anklage beim Landgericht Stade. Darin werden dem Angeklagten J. insgesamt 14 schwere
Bandendiebstähle und dem Angeklagten D. fünf schwere Bandendiebstähle vorgeworfen. Am 12.01.2012 erließ das
Landgericht Stade nach Maßgabe dieser Anklageschrift neue Haftbefehle gegen die beiden Angeklagten, wobei die
bisher in den Haftbefehlen des Amtsgerichts Stade nicht berücksichtigten, aber in der Anklageschrift enthaltenen
Taten mit aufgenommen wurden. Danach wird den Angeklagten vorgeworfen, als Mitglieder einer Bande, die sich auf
Einbrüche in Bekleidungsgeschäfte mit hochpreisiger Markenware spezialisiert habe, in der Zeit von Februar bis
August 2011 regelmäßig von Polen in die Bundesrepublik Deutschland eingereist zu sein, um Einbrüche in
Ladengeschäfte zu begehen. Im unmittelbaren Anschluss an die Tat habe jeweils die Rückreise erfolgen sollen, um
die entwendeten Gegenstände, jeweils hochwertige Textilien, in Polen zu verwerten. Der Wert der entwendeten
Textilien soll bei den jeweiligen Taten zwischen 16.000,00 und 58.000,00 Euro gelegen haben. Die Haftbefehle
werfen dem Angeklagten J. eine Mittäterschaft in allen 14 Fällen und dem Angeklagten D. eine Mittäterschaft in 5
Fällen vor. Die neu gefassten und ergänzten Haftbefehle wurden dem Angeklagten J. am 20.01.2012 durch das
Amtsgericht Lehrte und dem Angeklagten D. am 06.02.2012 durch das Amtsgericht Oldenburg verkündet. Die
Haftbefehle sind jeweils auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO gestützt.
Mit Beschluss vom 16.01.2012 trennte die Kammer das Verfahren gegen den Mitangeklagten G. ab, der zu der ihm
vorgeworfenen Tatzeit Heranwachsender war, und eröffnete gegen die verbliebenen fünf Mitangeklagten das
Hauptverfahren.
Mit Verfügung vom 06.01.2012 wandte sich der Vorsitzende wegen der Abstimmung eines
Hauptverhandlungstermins an alle Verteidiger der Angeklagten. Mit Verfügung vom 08.02.2012 bestimmte er den
Beginn der Hauptverhandlung auf den 11.04.2012.
Die Strafkammer, die Staatsanwaltschaft und die Generalstaatsanwaltschaft halten die Fortdauer der
Untersuchungshaft bei beiden Angeklagten für erforderlich.
II.
Im Hinblick auf den Angeklagten J. liegen die Voraussetzungen für die besondere Haftprüfung nach §§ 121, 122
StPO derzeit nicht vor, im Hinblick auf den Angeklagten D. ergibt die besondere Haftprüfung, dass die
Untersuchungshaft fortdauern muss.
1.
a) Die allgemeinen Voraussetzungen für die Anordnung und Fortdauer der Untersuchungshaft gemäß § 112 Abs. 1,
Abs. 2 Nr. 2 StPO liegen vor. Der Angeklagte D. ist des schweren Bandendiebstahls in fünf Fällen dringend
verdächtig. Der dringende Tatverdacht ergibt sich aus den in der Anklage zusammengefassten
Ermittlungsergebnissen, insbesondere aus dem Umstand, dass der Angeklagte in zwei Fällen mit dem
Transportfahrzeug samt gestohlener Kleidung angetroffen werden konnte, sowie aus den Erkenntnissen aus der
Telefonüberwachung und den ermittelten Verkehrsdaten.
Es besteht auch der Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO. Nach den bisherigen Ermittlungen
wohnt der Angeklagte D. mit seiner Lebensgefährtin und einem gemeinsamen Kind in Polen. Einen
Lebensmittelpunkt in Deutschland hat er nicht. Danach besteht - auch angesichts der Straferwartung für den Fall des
Tatnachweises - ein erheblicher Fluchtanreiz für den Angeklagten. § 244 a StGB sieht für jede der ihm
vorgeworfenen Taten eine Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr vor, sodass der Angeklagte im Fall einer
Verurteilung mit einer Freiheitsstrafe zu rechnen hat, die voraussichtlich weit oberhalb der Grenze einer
Aussetzungsfähigkeit nach § 56 Abs. 2 StGB liegen wird.
Insgesamt ergibt sich aus diesen Umständen ein erheblicher Fluchtanreiz, der erwarten lässt, dass sich der
Angeklagte im Fall der Entlassung aus der Haft dem Strafverfahren entziehen wird.
Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist bei dem Angeklagten D. auch unter Berücksichtigung der bisher erlittenen
Untersuchungshaft angesichts der Schwere der ihm zur Last gelegten Taten und der daraus folgenden
Straferwartung nicht berührt. Weniger einschneidende Maßnahmen i. S. des § 116 StPO wären nicht ebenso
geeignet, eine mögliche Flucht des Angeklagten zu verhindern.
b) Außerdem liegen auch die besonderen Voraussetzungen für eine Fortdauer der Untersuchungshaft über einen
Zeitraum von sechs Monaten hinaus gemäß § 121 Abs. 1 StPO vor. Das besondere Beschleunigungsgebot in
Haftsachen ist nicht verletzt. Ein Urteil hat wegen der Besonderheiten des Verfahrens und auch des Umfangs der
Ermittlungen vor Ablauf der Sechs Monatsfrist noch nicht ergehen können.
Hierbei ist von folgenden Grundsätzen auszugehen:
Der verfassungsrechtliche Freiheitsanspruch aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG des noch nicht verurteilten Angeklagten
ist den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlichen und zweckmäßigen Freiheitsbeschränkungen ständig
als Korrektiv entgegenzuhalten, wobei sich das Gewicht des Freiheitsanspruchs gegenüber dem
Strafverfolgungsinteresse mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft vergrößert (vgl. BVerfGE 20, 45, 49 ff..
36, 264. 53, 152, 158 ff.. BVerfG StV 2007, 369. 2006, 248 und 708. weitere Nachweise bei Pieroth/Hartmann, StV
2008, 277). Dem trägt die Vorschrift des § 121 Abs. 1 StPO dadurch Rechnung, dass der Vollzug der
Untersuchungshaft vor Erlass eines Urteils wegen derselben Tat über sechs Monate hinaus nur aufrechterhalten
werden darf, wenn besondere Schwierigkeiten oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer
wichtiger Grund das Urteil noch nicht zulassen und die Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigen. Die
Bestimmung des § 121 Abs. 1 StPO, die eine Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus somit nur
in begrenztem Umfang zulässt, ist entsprechend eng auszulegen (BVerfGE 36, 264, 271. BGHSt 38, 43, 46.
Karlsruher Kommentar a. a. O., Rdnr. 13 m. w. N.). Den verfassungsrechtlichen Ansprüchen an die Zügigkeit der
Bearbeitung in Haftsachen wird nur dann entsprochen, wenn die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte alle
zumutbaren Maßnahmen getroffen haben, um die Ermittlungen so schnell wie möglich abzuschließen und ein Urteil
herbeizuführen (BVerfGE 20, 45, 50. BVerfG, NJW 2003, 2895. OLG Brandenburg, StV 2000, 37. OLG Köln, StV
1999, 40. OLG Düsseldorf, NJW 1996, 2587. OLG Frankfurt, StV 1995, 423. OLG Hamm, StV 2000, 90, 91).
Unter Zugrundelegung dieser Anforderungen ist das besondere Beschleunigungsgebot von den Ermittlungsbehörden
und vom Landgericht stets beachtet worden. Die Polizei hat nach der Festnahme vom 22.08.2011 die Ergebnisse
aus Telefonüberwachungen und Verkehrsdatenermittlungen ausgewertet. Diese resultierten aus zahlreichen
Beschlüssen des Amtsgerichts Stade aus dem Zeitraum 06.05. bis 19.08.2011. Hierbei muss berücksichtigt werden,
dass die überwachten Telefongespräche der Angeklagten ausschließlich in polnischer Sprache geführt worden
waren, was zusätzlich Zeit für die Übersetzung in Anspruch nahm. So mussten drei Aktenbände mit
Gesprächsprotokollen angelegt werden. Die ausgewerteten Verkehrsdaten in Form von Geodaten und
Funkzellenauswertungen hatten einen erheblichen Umfang erreicht. Auch die Sonderhefte, welche die Verkehrsdaten
betreffen, bestehen aus drei Aktenbänden.
Dennoch konnte die Polizei bereits am 20.10.2011 einen vorläufigen, 97 Seiten umfassenden Abschlussbericht
vorlegen, der aber im Nachgang noch durch weitere Ermittlungsergebnisse ergänzt wurde.
Auch die folgende Bearbeitung des Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft Stade ist ohne jede vermeidbare
Verzögerung erfolgt. Nach Eingang der Akten bei der Staatsanwaltschaft am 24.10.2011 musste zunächst über
mehrere Anträge auf Verteidigerwechsel bis in die Beschwerdeinstanz hinein entschieden werden. Parallel dazu
erwirkte die Staatsanwaltschaft im Wege der Rechtshilfe Durchsuchungsbeschlüsse in S., der polnischen
Heimatstadt der Beschuldigten, die nach richterlicher Anordnung am 24.10.2011 vollstreckt wurden. Zudem wurden
zwei aufgrund der Haftbefehle des Amtsgerichts Stade in Polen festgenommene Mitangeklagte erst am 09.11.2011
nach Deutschland überstellt.
Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass die Staatsanwaltschaft Stade am 07.12.2011 die verschrifteten Ergebnisse
der Telefonüberwachung sowie die dazugehörigen Audiodateien von der polizeilichen Ermittlungsgruppe erhalten hat.
Diese mussten nicht nur an sämtliche Verteidiger weitergeleitet, sondern auch durch die ermittelnde Staatsanwältin
selbst ausgewertet werden. Trotz des erheblichen Umfangs der Ermittlungsakten ist bereits zwei Wochen später die
Anklageerhebung erfolgt.
Auch die weitere Behandlung des Verfahrens durch die Strafkammer lässt keinerlei Verzögerung erkennen. Der
Vorsitzende hat die Anklagen unmittelbar nach dem Akteneingang zustellen lassen und zugleich eine - angesichts
des Verfahrensumfanges - knappe Frist zur Äußerung von drei Wochen eingeräumt. Danach hat der Vorsitzende
durch Verfügung vom 06.01.2012 mögliche Hauptverhandlungstermine vorgeschlagen. Mit Beschluss vom
16.01.2012 hat die Kammer das Hauptverfahren eröffnet, drei Wochen danach hat der Vorsitzende nach
Abstimmung mit allen sieben Verteidigern den Beginn der Hauptverhandlung auf den 11.04.2012 terminiert.
An einer früheren Terminierung war das Gericht gehindert, weil im gesamten Februar bereits andere Haftverfahren
anstanden. Die Festlegung der Hauptverhandlungstermine ist im Übrigen parallel zur Vorlage der Akten an das
Oberlandesgericht erfolgt, sodass auch hier mögliche Verfahrensverzögerungen vermieden worden sind.
2.
Zu einer Entscheidung über die Haftfortdauer bezüglich des Angeklagten J. ist der Senat derzeit noch nicht berufen,
weil die Frist von sechs Monaten noch nicht abgelaufen ist und der Ablauf auch nicht kurz bevorsteht.
a) Das Oberlandesgericht ist gemäß § 121 Abs. 1 StPO nur dann zur Entscheidung berufen, wenn
Untersuchungshaft „wegen derselben Tat“ über sechs Monate hinaus vollzogen werden soll. Der Begriff „derselben
Tat“ wird in Rechtsprechung und Literatur unterschiedlich verstanden. Die inzwischen wohl überwiegende Auffassung
vertritt den sogenannten „erweiterten Tatbegriff“. Danach fallen unter den Begriff „derselben Tat“ alle Taten des
Beschuldigten von dem Zeitpunkt an, in dem sie im Sinne eines dringenden Tatverdachts bekannt geworden sind
und in den bestehenden Haftbefehl hätten aufgenommen werden können, und zwar unabhängig davon, ob sie
Gegenstand desselben Verfahrens oder getrennter Verfahren sind (so OLG Koblenz, NStZ RR 2001, 152 Rdnr. 9.
OLG Stuttgart, StV 2008, 85 Rdnr. 6. Karlsruher Kommentar StPO Schultheis, 6. Aufl., § 121 Rdnr. 10 m. w. N.).
Dieser Auffassung hat sich auch der Senat bereits angeschlossen (Beschluss vom 22.11.2010, 32 HEs 6/10). Er
hält an dieser Auslegung des Tatbegriffs aus § 121 Abs. 1 StPO fest.
Die gegenteilige Auffassung, welche den Tatbegriff gemäß § 121 Abs. 1 StPO verfahrensbezogen auslegt (OLG
Köln, NStZRR 1998, 181 f., OLG Koblenz, NStZ RR 2001, 124 m. w. N.), führt dazu, dass die Haftzeiten aus dem
früheren Haftbefehl und aus dem erweiterten Haftbefehl zusammengerechnet werden müssten, soweit die
Haftbefehle im selben Verfahren oder in verbindungsreifen Verfahren erlassen worden sind. Neu bekannt gewordene
Taten, die ihrerseits den Erlass eines Haftbefehls rechtfertigen, wären dann aber innerhalb der seit dem ersten
Haftbefehl laufenden Sechs Monatsfrist kaum noch aufzuklären und anzuklagen, geschweige denn einer
Hauptverhandlung zuzuführen. Zudem hinge die Weiterbehandlung der neuen Haftsache weitgehend vom Zufall ab,
da sich neue Vorwürfe sowohl im selben Verfahren als auch in völlig getrennt geführten Verfahren ergeben können.
Ein zwingender sachlicher Grund für diese Ungleichbehandlung von Haftverfahren erschließt sich nicht (so auch
OLG Koblenz, NStZ RR 2001, 152, Rdnr. 25 f.). Auch die Unterscheidung nach Ermittlungskomplexen, welche die
Ermittlungsrichtung bestimmt haben (so OLG Bremen, NStZ RR 1997, 334, 335, KG Berlin, Beschluss vom
28.02.2005, 1 HEs 11/05, Rn. 7 f.), liefert kein brauchbares Abgrenzungskriterium.
b) Die Auffassung, wonach die Fristberechnung nach §§ 121, 122 StPO unter Zugrundelegung der letzten bekannt
gewordenen Tat erfolgt, die in den Haftbefehl aufgenommen wurde, bedarf im Hinblick auf das Freiheitsgrundrecht
jedes Angeklagten und unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit allerdings der Einschränkung.
aa) Nur als selbstverständlich ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass es nicht zu missbräuchlichen,
sog. ´Reservehaltungen´ von Tatvorwürfen kommen darf, um die Frist des § 121 StPO künstlich zu verlängern (s.
zur einhelligen Auffassung nur MeyerGoßner, StPO, 54. Aufl. § 121 Rn. 12 m. w. N.).
bb) Zur Berechnung des Fristbeginns darf auch nicht auf den Erlasszeitpunkt des neuen oder erweiterten Haftbefehls
abgestellt werden, sondern auf den Zeitpunkt, an dem sich bei ordnungsgemäßer Ermittlungstätigkeit der dringende
Tatverdacht und somit die Möglichkeit einer Haftbefehlserweiterung erstmals ergeben hat (ebenso OLG Koblenz, a.
a. O.. OLG Düsseldorf NStZRR 2004, 125, Rnr. 15 KKSchultheis, a. a. O., m. w. N.).
cc) Schließlich muss die weitere Tat, um die der Haftbefehl ergänzt wird, auch für sich allein den Erlass eines
Haftbefehls rechtfertigen, um eine Schlechterstellung des Angeklagten im Hinblick auf die gesetzlichen
Voraussetzungen der besonderen Haftprüfung nach §§ 121, 122 StPO zu vermeiden. Denn für einen Haftbefehl nur
wegen der zuletzt genannten Tat liefe wiederum die Sechsmonatsfrist nach § 121 Abs. 1 StPO, sodass das
Freiheitsgrundrecht eines Angeklagten durch die vom Senat angewendete Fristberechnung nicht nachteilig berührt
wird.
c) Diese Anforderungen sind beim Angeklagten J. erfüllt. In dem neu gefassten Haftbefehl des Landgerichts Stade
gegen ihn vom 12.01.2012 war erstmals u. a. die Tat Nr. 2 der Anklage aufgenommen worden. Dabei geht es um
einen Einbruch in ein Bekleidungsgeschäft in W. in der Nacht zum 16.02.2011. Wie sich aus der zugehörigen
Fallakte ergibt, sind die Ermittlungen wegen dieses Vorwurfs zunächst gegen zwei andere Beschuldigte geführt
worden. In einem öffentlichen Mülleimer nahe dem Tatort waren Handschuhe und ein Hebelwerkzeug aufgefunden
worden. Die molekulargenetische Untersuchung der an diesen Handschuhen haftenden biologischen Spuren ist durch
die damals noch sachbearbeitende Polizeidirektion Südwest Sachsen bereits am 17.02.2011, also einen Tat nach
dem Einbruch, in Auftrag gegeben worden (Fallakte 2011/02/16, Bl. 235). Erst als sich im Laufe der Ermittlungen der
Anfangsverdacht einer Beteiligung des Angeklagten J. ergab, wurde der Untersuchungsauftrag auf dessen DNA
Daten ausgeweitet (Fallakte Bl. 254). Das Gutachten des Instituts für Rechtsmedizin der Universität L. dazu lag den
Ermittlungsbehörden erst am 24.10.2011 vor (Fallakte, Bl. 332). In diesem Gutachten wird der Angeklagte J. als
Hauptverursacher der genannten biologischen Spur bezeichnet. Damit bestand erst zu diesem Zeitpunkt ein
dringender Tatverdacht gegen den Angeklagten J. auch wegen der Tat vom 16.02.2011, sodass die Frist zur
Haftprüfung nach § 121 Abs. 1 StPO erst am 24.10.2011 begann. Der Sechsmonatszeitraum nach §§ 121, 122
StPO endet danach erst am 24.04.2012, sodass eine Entscheidung über die Fortdauer der Untersuchungshaft des
Angeklagten J. derzeit noch nicht ansteht.
III.
Die Übertragung der Haftkontrolle beruht auf § 122 Abs. 3 Satz 3 StPO.
xxxxxxxxx xxxxxxxxx xxxxxx