Urteil des OLG Celle vom 28.12.2011

OLG Celle: geschwindigkeit, betriebsgefahr, vorrang, könig, fahrzeug, kreuzung, verkehrsunfall, anhalten, kritik, toleranzgrenze

Gericht:
OLG Celle, 14. Zivilsenat
Typ, AZ:
Urteil, 14 U 107/11
Datum:
28.12.2011
Sachgebiet:
Normen:
RVG § 14 Abs 1
Leitsatz:
Ein Rechtsanwalt kann nur dann die Erhöhung der 1,3fachen Geschäftsgebühr auf eine 1,5fache
Gebühr verlangen, wenn die Voraussetzungen von Nr. 2300 der Anlage 1 zu § 2 Abs. 2 RVG
vorliegen, d. h. die Tätigkeit umfänglich oder schwierig war.
Ob diese Voraussetzungen vorliegen, unterliegt der gerichtlichen Überprüfung
(entgegen BGH MDR 2011, 454 f.)
Volltext:
Oberlandesgericht Celle
Im Namen des Volkes
Urteil
14 U 107/11
9 O 282/10 Landgericht Lüneburg
Verkündet am
28. Dezember 2011
…,
Justizobersekretärin
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
In dem Rechtsstreit
… Versicherung AG, vertreten durch den Vorstand, …,
Beklagte und Berufungsklägerin,
Prozessbevollmächtigte:
Rechtsanwälte …,
gegen
D.K. L.D. e. V., vertreten durch den ersten Vorsitzenden, …,
Kläger und Berufungsbeklagter,
Prozessbevollmächtigte:
Rechtsanwälte …,
hat der 14. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Celle auf die mündliche Verhandlung vom 13. Dezember 2011 durch
die Vorsitzende Richterin am Oberlandesgericht …, die Richterin am Oberlandesgericht … und den Richter am
Oberlandesgericht … für Recht erkannt:
Auf die Berufung der Beklagten wird unter Zurückweisung ihres weitergehenden Rechtsmittels das Urteil des
Landgerichts Lüneburg vom 18. Mai 2011 teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:
Unter Abweisung der Klage im Übrigen wird die Beklagte verurteilt, an den Kläger 1.449,89 € nebst Zinsen in Höhe
von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 17.08.2010 sowie weitere 111,38 € nebst Zinsen in Höhe
von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 05.11.2010 zu zahlen.
Die Kosten des Rechtsstreits tragen der Kläger zu 86 % und die Beklagte zu 14 %.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Parteien können die Zwangsvollstreckung gegen Sicherheitsleistung in
Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die jeweils andere Seite in
Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages Sicherheit leistet.
Die Revision wird zugelassen, soweit der Senat von der Rechtsprechung des BGH abweicht, wonach dem
Rechtsanwalt bei der Bestimmung der 1,3fachen Geschäftsgebühr in einem Durchschnittsfall ein gerichtlich nicht
überprüfbarer Spielraum von 20 % zustehen soll.
Gründe:
I.
Die Parteien streiten um Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall, der sich am 23. Mai 2010 auf der Landstraße …
zwischen den Orten M. und G. ereignet hat.
Wegen der tatsächlichen Feststellungen und des Sach und Streitstands erster Instanz wird auf das angefochtene
Urteil Bezug genommen.
Gegen dieses Urteil wendet sich die beklagte Versicherung. Sie ist der Auffassung, dem Fahrer des klägerischen
Fahrzeugs sei zumindest ein hälftiges Mitverschulden anzulasten aufgrund unangepasster Geschwindigkeit und
nicht eingeschalteten Martinshorns. Die Beklagte rügt, das Landgericht habe die vom Sachverständigen festgestellte
Geschwindigkeitsüberschreitung nicht hinreichend im Urteil gewürdigt. Der Fahrer des klägerischen Fahrzeugs habe
sich in der konkreten Gefahrensituation völlig falsch verhalten. Statt sofort zu bremsen habe er zunächst versucht,
unter Betätigung eines Fußschalters das Martinshorn einzuschalten. Erst dann habe er eine Ausweichbewegung
gefahren und gebremst. Diese Bremsung sei dann viel zu spät gewesen. Die Betriebsgefahr des klägerischen
Fahrzeugs sei deutlich erhöht, weil es sich um ein erheblich größeres Fahrzeug handele und dieses mit deutlich
überhöhter Geschwindigkeit gefahren sei. Deshalb dürfe die Betriebsgefahr nicht vollständig zurücktreten. Die
Beklagte bestreitet weiterhin, dass hier höchste Eile für den RTW Fahrer geboten gewesen sei. Der Fahrer des
klägerischen Fahrzeugs habe gegen das Übermaßgebot verstoßen. Der Einsatz des Martinshorns sei erforderlich
gewesen, weil es sich bei dem Einmündungsbereich um einen Gefahrenbereich gehandelt habe.
Die Beklagte beantragt
unter Abänderung des am 18. Mai 2011 verkündeten Urteils des Landgerichts Lüneburg die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er verteidigt das angefochtene Urteil. Er ist der Ansicht, das Maß der Verursachung auf Seiten der Fahrzeugführerin
des bei der Beklagten versicherten Fahrzeugs sei so erheblich, dass die vom Unfallgegner ggf. zu tragende
Verantwortung dahinter zurücktrete. Der Unfall beruhe auf einem groben Verkehrsverstoß der Führerin des bei der
Beklagten versicherten Fahrzeugs. Zum Einsatz des Martinshorns sei der Fahrer des RTW nicht verpflichtet
gewesen, weil weder eine Ampelkreuzung mit Rotlicht noch ein entsprechendes Verkehrsaufkommen im Rahmen
eines Kreuzungsbereichs vorgelegen hätten. Es habe kein Anlass bestanden, das Signalhorn zusätzlich
einzuschalten, weil während des Zufahrens auf den Kreuzungsbereich keine anderen Verkehrsteilnehmer sichtbar
gewesen seien.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach und Streitstands wird auf die gewechselten Schriftsätze der Parteien
nebst Anlagen und das Sitzungsprotokoll vom 13.12.2011 Bezug genommen.
Die Ermittlungsakten 5106 Js 18542/10 lagen vor und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
II.
Die Berufung ist zulässig und hat in der Sache teilweise Erfolg.
1. Dem Kläger steht gegen die Beklagte - entgegen der Auffassung des Landgerichts - nur ein Anspruch auf Ersatz
von 75 % der durch den Unfall entstandenen Schäden aus §§ 7 Abs. 1 StVG, 115 VVG zu.
Der Unfall war für beide Seiten nicht nachweislich unabwendbar. Der von der Staatsanwaltschaft bestellte
Sachverständige H. G. hat festgestellt, dass der Unfall für den Fahrer des Rettungswagens bei einer
Geschwindigkeit von ca. 83 bis 87 km/h vermeidbar gewesen wäre (Seite 20 des Gutachtens vom 18.06.2010). Für
die Fahrerin des bei der Beklagten versicherten Fahrzeugs wäre der Unfall nach den Feststellungen des
Sachverständigen vermeidbar gewesen, wenn sie das Einfahren in die Vorfahrtstraße zurückgestellt oder den
Abbiegevorgang so durchgeführt hätte, dass sie nicht mit einer so geringen Abbiegegeschwindigkeit oder
Beschleunigung nach links abgebogen wäre (Seite 22 des Gutachtens). Der Sachverständige hat ausgeführt, dass
zwar eine gewisse Sichtbehinderung durch ein Schild bestand, der Rettungswagen aber für die Fahrerin des bei der
Beklagten versicherten Fahrzeugs ab einer Entfernung von 260 m deutlich erkennbar gewesen ist. Das unstreitig
eingeschaltete Springlicht und Abblendlicht des Rettungswagens habe sich vorher bereits unterhalb des Schildes
erkennen lassen. Deshalb hat der Sachverständige einen Einfluss des Schildes als Sichthindernis ausgeschlossen
(Seite 22 des Gutachtens). Der Rettungswagen sei für die bei der Beklagten versicherte Fahrzeugführerin 7,3 bis 7,8
Sekunden vor der Kollision nicht nur mit den Frontscheinwerfern, sondern auch mit der Fahrzeugseite und dem
Hochdach mit den Blaulichtbalken sichtbar gewesen (Seite 21 des Gutachtens).
Damit kommt es gem. § 17 Abs. 1 StVG für die Bildung der Haftungsquote auf die unterschiedlichen Verursachungs
und Verschuldensbeiträge der Parteien an. Das Landgericht ist von einer Quote von 100 : 0 zu Lasten der Beklagten
ausgegangen. Dies ist nach Überzeugung des Senats nicht sachgerecht. Vielmehr ist auf eine Haftungsquote von 25
% zu Lasten des Klägers und 75 % zu Lasten der
Beklagten zu erkennen.
Die Fahrerin des bei der Beklagten versicherten Fahrzeugs trifft ein schwerer Schuldvorwurf. Sie hat gegen § 8 Abs.
2 StVO verstoßen. Wer die Vorfahrt zu beachten hat, darf nach § 8 Abs. 2 StVO nur weiterfahren, wenn er
übersehen kann, dass er den Vorfahrtberechtigten weder gefährdet noch wesentlich behindert. Kann er dies nicht
übersehen, weil die Straßenstelle unübersichtlich ist, darf er sich nur vorsichtig in die Kreuzung hineintasten, bis er
Übersicht hat. „Hineintasten“ bedeutet zentimeterweises Vorrollen bis zum Übersichtspunkt mit der Möglichkeit,
sofort anzuhalten (vgl. BGH, NJW 1985, 2757. KG, NZV 1999, 85).
Der von der Staatsanwaltschaft beauftragte Sachverständige hat festgestellt, dass die Fahrerin des bei der
Beklagten versicherten Fahrzeugs bis zur Sichtlinie vorfahren musste, um die Vorfahrtstraße einsehen zu können.
Von der Sichtlinie aus ist die Sicht in Richtung G. durch ein Hinweisschild (ca. 109 m entfernt) eingeschränkt. Das
Hinweisschild stellt ein Sichthindernis gegenüber dem sich auf der Vorfahrtstraße nähernden Verkehr aus Richtung
G. dar (Seite 20 des Gutachtens). Daher war die Stelle unübersichtlich im Sinne der o. g. Vorschrift. Die sich aus
dem Gesetz ergebenden Anforderungen hat die Führerin des bei der Beklagten versicherten Fahrzeugs nicht
beachtet:
Der Sachverständige hat festgestellt, dass der Rettungswagen von der Sichtlinie aus 7,3 bis 7,8 Sekunden vor dem
Unfall sichtbar gewesen ist. Zum Überqueren der Straße hätte ein Pkw aber nur 3,4 Sekunden gebraucht (Seite 22
des Gutachtens). Bei Einhaltung der vom Gesetz verlangten Sorgfalt hätte der Unfall deshalb weder bei einem
Anhalten und Zuwarten noch bei einem zügigen Überqueren der Straße - wozu der Wartepflichtige verpflichtet ist
(vgl. Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 41. Aufl., § 8 StVO Rn. 55 m. w. N.) - passieren können.
Dem Fahrer des klägerischen Rettungswagens kann zwar kein Rechtsverstoß und damit kein Verschulden
vorgeworfen werden. es verbleibt aber eine unfallursächliche erhöhte Betriebsgefahr, die hinter dem Verschulden der
Fahrerin des bei der Beklagten versicherten Fahrzeugs nicht zurücktritt.
Grundsätzlich mindert sich der Haftungsanteil des die Vorfahrt verletzenden Verkehrsteilnehmers, wenn der
fließende Verkehr sich infolge überhöhter Geschwindigkeit außerstande setzt, unfallverhütend zu reagieren, oder
genügend Zeit hat, sich auf das Verhalten des Herausfahrenden einzurichten (vgl. KG, NZV 2003, 481 ff.). Die
Überschreitung der zulässigen Geschwindigkeit durch den Vorfahrtsberechtigten führt also grundsätzlich zu dessen
Mithaftung (vgl. die Nachweise bei Grüneberg, Haftungsquoten bei Verkehrsunfällen, 10. Aufl., Rn. 17 m. w. N.).
Der Sachverständige hat in seinem im Rahmen des Strafverfahrens erstatteten Gutachten festgestellt, dass die
Ausgangsgeschwindigkeit des klägerischen Rettungswagens 122 bis 131 km/h betragen und die
Kollisionsgeschwindigkeit bei 110 bis 120 km/h gelegen hat. Erlaubt waren an der Unfallstelle 70 km/h.
Diese Geschwindigkeit begründet als solche jedoch kein bei der Haftungsabwägung zu berücksichtigendes
Verschulden, da sie keinen rechtswidrigen Verstoß gegen die am Unfallort geltende Höchstgeschwindigkeit von 70
km/h bedeutet: Denn nach § 35 Abs. 5 a StVO sind Fahrzeuge des Rettungsdienstes von den Vorschriften der StVO
befreit, wenn höchste Eile geboten ist, um Menschenleben zu retten oder schwere gesundheitliche Schäden
abzuwenden. Diese Rechtsfolge tritt auch dann ein, wenn das Sonderrechtsfahrzeug weder Horn noch Blaulicht
führt, oder diese zwar vorhanden sind, aber nicht betätigt werden (vgl. OLG Köln, NZV 96, 237. OLG Düsseldorf, VM
75, 70. Hentschel/ König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 40. Aufl., § 35 Rdnr. 4). Nach § 38 Abs. 2 StVO darf bei
Einsatzfahrten auch blaues Blinklicht allein verwendet werden. Allerdings ist blaues Blinklicht
allein lediglich ein Warnzeichen und gewährt weder Vorrang noch Wegerecht, sodass bei Inanspruchnahme des
Wegerechts i. S. d. § 38 Abs. 1 StVO stets beide Sondersignale, also Blaulicht und Martinshorn, zu betätigen sind
(vgl. OLG Köln, NZV 96, 237. KG, NZV 2006, 307).
Um Derartiges geht es im vorliegenden Fall jedoch - entgegen der Meinung des Klägers - nicht. denn der Fahrer des
klägerischen Rettungswagens beabsichtigte nicht, mit seinem Fahrzeug ein Wegerecht i. S. d. § 38 Abs. 1 StVO zu
beanspruchen. Vielmehr befand sich der Rettungswagen auf einer Vorfahrtsstraße und war daher ohnehin gegenüber
dem bei der Beklagten versicherten Fahrzeug bevorrechtigt.
Für die Beurteilung, ob es sich um eine Einsatzfahrt im Sinne von § 35
Abs. 5 a StVO handelt, kommt es nicht auf die spätere objektive Betrachtung
nach Beendigung der Einsatzfahrt, die der Einsatzfahrer nicht anstellen konnte, an. Vielmehr ist allein entscheidend,
ob der Fahrer sich nach der ihm bekannten Lage aufgrund des Inhalts des Einsatzbefehls und der beschriebenen
Krankheitssymptome für berechtigt halten durfte, die Sonderrechte aus § 35 Abs. 5 a StVO in Anspruch zu nehmen
(vgl. OLG Düsseldorf, NZV 2010, 267. OLG Köln, VRS 59, 382. OLG Celle, VRS 74, 220 f.. Hentschel/König/Dauer,
Straßenverkehrsrecht, 41. Aufl., § 35 StVO Rn. 5).
Hier befand sich der Rettungswagen auf einer Einsatzfahrt. Dies ist hinreichend belegt (Bl. 38 d. A.). Der
Einsatzbefehl enthielt das Einsatzstichwort ´internistischer Notfall in L.´ und die Anordnung der Verwendung von
Sondersignalen auf dem Weg zur Einsatzstelle. Der Rettungswagen war unstreitig auf einer Fahrt zu einer Person im
Zuckerschock. Nähere Informationen lagen nicht vor. Es ist allgemein bekannt, dass ein Zuckerschock
lebensbedrohlich sein kann und schwere gesundheitliche Schäden bis hin zum Tod drohen können, wenn nicht
schnell geholfen wird.
Aufgrund dieses Einsatzbefehls und der dem Fahrer des Krankenwagens bekannten Informationen war bei einer
sachgemäßen Vorwegbeurteilung höchste Eile zur Abwehr schwerer gesundheitlicher Schäden geboten. Denn dem
Fahrer des Rettungsdienstfahrzeuges waren keine weiteren Informationen zugänglich, die ihn in die Lage versetzt
hätten, eine verlässliche Einschätzung im Hinblick auf den Einsatzbefehl und die Notwendigkeit der
Inanspruchnahme von Sonderrechten abzugeben. In einer solchen Situation darf ein Fahrer eines
Rettungsdienstfahrzeuges aber insbesondere mit Blick auf die möglichen Folgen eines zu späten
Eintreffens am Einsatzort davon ausgehen, dass zur Abwendung schwerer gesundheitlicher Schäden Sonderrechte
in Anspruch genommen werden dürfen (vgl. zu einem vergleichbaren Fall - ´medizinischer Notfall´ - LG Saarbrücken,
NJWSpezial 2011, 587 - zitiert bei juris, dort Rn. 17). Die Einwände der Beklagtenseite gegen die Annahme einer
Einsatzfahrt im Sinne des § 35 Abs. 5 a StVO greifen mithin nicht durch.
Dem Führer des Rettungswagens kann nicht vorgeworfen werden, er habe die Sonderrechte nicht unter gebührender
Berücksichtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgeübt, § 35 Abs. 8 StVO.
§ 35 Abs. 5 a StVO befreit nicht von der allgemeinen Sorgfaltspflicht. die Wahrnehmung der Sonderrechte darf
jeweils nur unter ´größtmöglicher Sorgfalt´ erfolgen (vgl. BGH, NJW 1975, 648). Fahrer von Einsatzfahrzeugen haben
darauf zu achten, dass bei der Einsatzfahrt keine anderen Verkehrsteilnehmer zu Schaden kommen. Sie müssen bei
ihrer Fahrweise berücksichtigen, dass Abweichungen von den allgemeinen Vorschriften eine erhöhte Unfallgefahr für
andere Straßenbenutzer begründen und deshalb die Inanspruchnahme von Sonderrechten durch besondere Vorsicht
ausgleichen (vgl. OLG Düsseldorf, VersR 1985, 669. Senat, PVR 2003, 232 ff., zitiert bei juris, dort Rn. 23). Je mehr
sich der Einsatzfahrer über allgemeine Verkehrsregeln hinwegsetzt und dadurch die Unfallgefahren erhöht, desto
größer ist die ihm obliegende Sorgfaltspflicht (OLG Düsseldorf, OLGR Düsseldorf 1992, 107 ff.. KG, VRS 108, 417
ff. - zitiert bei juris, dort Rn. 5). Besonders bei regelmäßigem Verkehr darf der Vorrechtsfahrer nicht auf allgemeine
Berücksichtigung seines Vortritts vertrauen, sondern muss sich hiervon überzeugen (vgl. Hentschel/König/Dauer,
Straßenverkehrsrecht, 40. Aufl., § 35 Rdnr. 8 m. w. N.). Über fremden Vorrang darf sich der Wegerechtsfahrer nur
hinwegsetzen, wenn er nach ausreichender Ankündigung sieht, dass der Verkehr ihm Vorrang einräumt (BGH, NJW
1971, 616). Daher darf er nicht „drauflosfahren“ und nicht in eine unübersehbare Lage hineinfahren, ohne anhalten zu
können (vgl. Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 40. Aufl., § 35 Rdnr. 8). Die Erfordernisse der
Verkehrssicherheit haben Vorrang vor dem raschen Vorwärtskommen. Darüber hinaus darf die zu erfüllende Aufgabe
zu dem Verkehrsverstoß nicht außer Verhältnis stehen (KG, VRS 108, 417 ff. - zitiert bei juris, dort Rn. 5).
Eine Abwägung der konkreten Umstände ergibt, dass hier kein unfallursächlicher Sorgfaltspflichtverstoß vorliegt.
Der Fahrer des Krankenwagens hat sich nicht über fremden Vorrang hinweggesetzt. Der Krankenwagen befuhr eine
Vorfahrtstraße und war damit ohnehin bevorrechtigt. Regelmäßiger Verkehr war für den Fahrer des Rettungswagens
nicht ersichtlich. Es ist unstreitig, dass zur Unfallzeit auf der Vorfahrtstraße für den Fahrer des klägerischen
Rettungswagens keine anderen Verkehrsteilnehmer sichtbar waren. Die Vorfahrtstraße verläuft im Unfallbereich über
eine längere Strecke geradlinig und war für den Fahrer des klägerischen Rettungswagens bis weit über die Kreuzung
hinaus frei, als sich dieser der Kreuzung näherte. Fahrzeuge auf den seitlich kreuzenden Straßen waren ohnehin
wartepflichtig (Stoppschilder). Nach den Feststellungen des Sachverständigen war der Rettungswagen für die
Führerin des bei der Beklagten versicherten Fahrzeugs 260 Meter vor der Unfallstelle trotz des Hinweisschildes
aufgrund des Blaulichts, Springlichts und Scheinwerferlichts sichtbar. Für diese Strecke benötigte der
Rettungswagen 7,3 - 7,8 Sekunden. Ein halbwegs aufmerksamer Wartepflichtiger hätte den herannahenden
Krankenwagen also in weiter Entfernung bereits bemerken müssen und können.
Angesichts der konkreten Umstände hätte der Fahrer des Krankenwagens jedenfalls mit 90 km/h fahren dürfen. Bei
einer solchen Geschwindigkeit wäre der Unfall aber nach den Feststellungen des Sachverständigen auch nicht mehr
zu verhindern gewesen. Dies wäre nur bei bis zu 87 km/h möglich gewesen. Demnach ist die höhere
Geschwindigkeit - die 87 km/h übersteigt - nicht unfallursächlich geworden.
Dem Fahrer des Rettungswagens kann auch das Unterlassen von akustischen Warnsignalen nicht
haftungsbegründend vorgeworfen werden. Maßgeblich ist, ob der Fahrer des Krankenwagens in der konkreten
Situation Anlass hatte, mit einem plötzlich sorgfaltswidrig in die Straße hineinfahrenden Fahrzeug zu rechnen (vgl.
KG, NZV 2003, 481 ff., zitiert bei juris, dort Rn. 31. KG, Urteil vom 02.05.1996, Az.: 12 U 2664/95, zitiert bei juris,
dort Rn. 22). In Anbetracht dessen, dass sich der Rettungswagen nicht über fremden Vorrang hinwegsetzen wollte,
sondern sich auf einer Vorfahrtstraße bewegte, auf der mit 70 km/h ohnehin eine recht hohe Geschwindigkeit erlaubt
war, und sich keine weiteren Fahrzeuge auf der Vorfahrtstraße befanden, ist diese Frage hier zu verneinen. Es liegt
hier eine andere Situation vor als in den Fällen, in denen das Einsatzfahrzeug sich über fremdes Vorrecht
hinwegsetzen möchte, indem es z. B. bei Rot in eine ampelgeregelte Kreuzung einfährt.
Ein Fahrfehler nach Erkennen der Gefahrenlage kann dem Fahrer des Krankenwagens ebenfalls nicht vorgeworfen
werden. Es kann nicht festgestellt werden, dass der Fahrer des klägerischen Rettungswagens genügend Zeit gehabt
hätte, sich auf das Verhalten der wartepflichtigen Fahrerin des bei der Beklagten versicherten Fahrzeuges
einzustellen. Vielmehr ergibt sich aus dem Gutachten des Sachverständigen, dass der Unfall für den Fahrer des
Rettungswagens bei der gefahrenen Geschwindigkeit von mind. 122 km/h nicht vermeidbar war. Der
Sachverständige hat zudem eine rechtzeitige Reaktion des Fahrers des Rettungswagens festgestellt (Seite 23 des
Gutachtens).
Nach dem vorbezeichneten Unfallverlauf liegt die wesentliche Unfallursache in der groben Sorgfaltspflichtverletzung
der Fahrerin des bei der Beklagten versicherten Fahrzeuges, die die Vorfahrt missachtete, obwohl sie das
herannahende Rettungsfahrzeug schon in einer Entfernung von 260 Metern hätte sehen können und müssen.
Allerdings ist eine Veränderung der Haftungsquote unter dem Gesichtspunkt der erhöhten Betriebsgefahr des
Krankenwagens geboten. Die stark erhöhte Geschwindigkeit des Krankenwagens und dessen hohes Gewicht - er
war über 74 % schneller als an sich erlaubt und war ein deutlich größeres und schwereres Fahrzeug als der Pkw -
machten diesen gleichsam zu einem Geschoss. Die erhöhte Betriebsgefahr hat sich auch konkret in den
Unfallfolgen ausgewirkt. Es ist offensichtlich, dass die Unfallfolgen bei einer niedrigeren Geschwindigkeit geringer
gewesen wären. In der Rechtsprechung wird ein vollständiges Zurücktreten der Betriebsgefahr regelmäßig nur bei
wesentlich geringeren Geschwindigkeitsüberschreitungen angenommen (vgl. KG, NZV 2003, 481 ff.. KG, Urteil vom
02.05.1996, Az.: 12 U 2664/95, zitiert bei juris). Hier tritt die erhöhte Betriebsgefahr deshalb nicht zurück. Der Senat
bewertet diese mit 25 %, so dass insgesamt von einer Haftungsquote von 25 % zu 75 % zu Lasten der Beklagten
auszugehen ist.
2. Unter Berücksichtigung der bereits erfolgten Zahlungen seitens der Beklagten steht dem Kläger gegen die
Beklagte noch ein Anspruch auf Zahlung
von weiteren 1.449,89 € zu.
Dem Kläger ist insgesamt ein Schaden in Höhe von 34.758,85 € (= 100 %)
entstanden:
28.400,00 € Schaden am Rettungswagen
581,91 € Abschleppkosten
1.281,87 € Reparaturkosten für medizinischtechnisches Gerät
4.470,07 € Lohn bzw. Arbeitgeberkosten
25,00 € Kostenpauschale.
Die einzelnen Positionen sind unstreitig. Die Beklagte hat bereits insgesamt 24.619,24 € bezahlt, und zwar
17.687,18 € auf den Schaden am Rettungswagen, 1.902,65 € auf die Lohnkosten und weitere 5.029,41 € auf den
Schaden am Rettungswagen. Deshalb hatte der Kläger mit seiner Klage auch nur noch restliche 10.139,61 € geltend
gemacht. 75 % vom insgesamt entstandenen Schaden sind 26.069,13 €. Die Differenz zwischen diesen 75 % und
den bereits von der Beklagten an den Kläger gezahlten Beträgen in Höhe von 24.619,24 € beträgt 1.449,89 €. Dies
ist der dem Kläger noch zustehende offene Betrag.
3. Hinzu kommen die berechtigten vorgerichtlichen Anwaltsgebühren, soweit sie noch offen sind. Dabei handelt es
sich um weitere 111,38 €.
Bei einem berechtigten Streitwert von bis zu 30.000 € (26.069,13 €) beträgt die einfache Gebühr 758 €. Bei
Zugrundelegung einer 1,3fachen Gebühr, der
Pauschale in Höhe von 20 € zzgl. MwSt. ergeben sich Gebühren in Höhe von 1.196,42 €. Darauf hat die Beklagte
bereits 1.085,04 € gezahlt, so dass eine
Differenz in Höhe von 111,38 € verbleibt.
Nach Auffassung des Senats ist hier eine Erhöhung der 1,3fachen Regelgebühr auf eine 1,5fache Gebühr - wie vom
Kläger beantragt - nicht gerechtfertigt. Die Sache ist für den Rechtsanwalt des Klägers nicht überdurchschnittlich
aufwändig oder schwierig gewesen. Es handelt sich für den Klägervertreter in diesem Verfahren um einen
durchschnittlich schwierigen Verkehrsunfall, nämlich lediglich um die Abwicklung von Sachschäden aus einem
Verkehrsunfall. Ein über den durchschnittlichen Verkehrsunfall hinausgehender Aufwand oder eine besondere
Schwierigkeit ist weder vorgetragen noch sonst aus der Akte ersichtlich. Der Sachschaden als solcher ist unstreitig.
Die Parteien streiten in der Sache lediglich - wie regelmäßig - um die Haftungsquote.
Der Senat ist auch nicht an die Bestimmung einer 1,5fachen Geschäftsgebühr durch den Rechtsanwalt gebunden.
Zwar räumt der 9. Zivilsenat des BGH dem Rechtsanwalt auch im Rahmen von Nr. 2300 VV RVG einen Spielraum
zur Gebührenbestimmung von 20 % (sog. Toleranzgrenze) mit der Folge ein, dass im Falle einer lediglich
durchschnittlich aufwändigen Tätigkeit dennoch die Erhöhung der 1,3fachen Geschäftsgebühr auf eine 1,5fache
Gebühr einer gerichtlichen Nachprüfung entzogen sei (BGH, MDR 2011, 454 f.). Allerdings stößt diese
Rechtsprechung zu Recht auf Kritik (vgl. Finanzgericht SachsenAnhalt,
Beschluss vom 12. Juli 2011, Az.: 2 KO 225/11. AG Halle (Saale), Beschluss
vom 20. Juli 2011, Az.: 93 C 57/10, zitiert bei juris. Nugel, jurisPRVerkR 18/2011, Anm. 4. Hansens,
Urteilsanmerkung in ZfSch 2011, 465. siehe ferner OLG Jena, JurBüro 2005, 303). Der Senat teilt diese Kritik und
folgt nicht der o. g. Rechtsprechung des BGH. Der Gesetzgeber hat für den „Durchschnittsfall“ in Nr. 2300 VV RVG
(bzw. zuvor in Nr. 2400) als Regelsatz die 1,3fache Gebühr vorgesehen. Für eine darüber hinaus gehende Gebühr
hat er ausdrückliche Kriterien dahingehend festgelegt, dass der Rechtsanwalt eine Gebühr von mehr als 1,3 nur
fordern kann, wenn die Tätigkeit umfangreich oder schwierig war. Diese Voraussetzungen unterliegen der
gerichtlichen Überprüfung. Das kann nicht durch die vom BGH herangezogene Toleranzgrenze eingeschränkt
werden. Der eindeutige Wortlaut einer Vorschrift zieht einer richterlicher Auslegung Grenzen (vgl. BVerfG,
Verwaltungsrundschau 2011, 250). Nr. 2300 VV RVG sieht es aber nicht vor, dass sich der Rechtsanwalt durch
einseitige Bestimmung in einem „Durchschnittsfall´ anstelle einer 1,3fachen Regelgebühr zu einer gerichtlich nicht
nachprüfbaren 1,5fachen Geschäftsgebühr verhelfen kann (Finanzgericht Sachsen Anhalt a. a. O.).
Eine andere Wertung, insbesondere die Einräumung eines Toleranzspielraums, würde dem klaren Gesetzeswortlaut
widersprechen und im Ergebnis dazu führen, dass die ohnehin schon erfolgte Erhöhung der Regelgebühr von 1,0 in
VV 2300 auf den 1,3 fachen Regelsatz in Zukunft in jedem durchschnittlichen Fall auf das 1,5 fache angehoben
werden könnte und würde. Dies aber läuft der eindeutigen Intention des Gesetzgebers zuwider.
4. Die Zinsansprüche ergeben sich mit Ablauf der Fristsetzungen zum 16.08.2010 bzw. 04.11.2010 aus dem
Gesichtspunkt des Verzuges, §§ 280
Abs. 1 und 2, 286, 288 BGB.
5. Den nicht nachgelassenen Schriftsatz des Klägers vom 16.12.2011 hat der Senat zur Kenntnis genommen. Sein
Inhalt gibt keine Veranlassung zur Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung.
6. Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 92 Abs. 1, 97 Abs. 1, 708 Nr. 10, 711 ZPO. Dass der
Kläger trotz der vom Senat angenommenen Haftungsquote von 75 zu 25 zu Lasten der Beklagten den Großteil,
nämlich 86 % der Kosten des Rechtsstreits zu tragen hat, resultiert aus dem Umstand, dass die Beklagte
vorprozessual bereits den größten Teil der berechtigten Ansprüche beglichen hatte.
7. Die Revision wird zugelassen, soweit der Senat entgegen der Rechtsprechung des BGH (MDR 2011, 454 f.) dem
Rechtsanwalt in einem Durchschnittsfall bei der Bestimmung der 1,3fachen Regelgebühr keinen gerichtlich nicht
überprüfbaren Spielraum von 20 % zugesteht.
… … …