Urteil des OLG Celle vom 06.01.2009

OLG Celle: anrechnung der untersuchungshaft, konstitutive wirkung, reststrafe, entlassung, bewährung, widerruf, vollstreckung, zukunft, strafrecht, freiheitsentziehung

Gericht:
OLG Celle, 01. Strafsenat
Typ, AZ:
Beschluss, 1 Ws 623/08
Datum:
06.01.2009
Sachgebiet:
Normen:
StPO § 458 Abs 1, StGB § 51, StGB § 58 Abs 2 Satz 2
Leitsatz:
Für einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung über die Berechnung der Strafzeit besteht nach
Entlassung aus dem Justizvollzug kein Rechtsschutzbedürfnis mehr.
Volltext:
1 Ws 623/08
72 StVK 227/08 LG H.
B 14/55 Js 631/02 VRs StA B.
B e s c h l u s s
In der Strafvollstreckungssache
gegen A. E.,
geboren am 5. Juni 1971 in H. / S.,
wohnhaft W.straße, H.,
wegen Betruges
hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten gegen den
Beschluss der Strafvollstreckungskammer 2 des Landgerichts H. nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft
durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht #######, den Richter am Oberlandesgericht ####### und den
Richter am Oberlandesgericht ####### am 6. Januar 2009 beschlossen:
Die sofortige Beschwerde wird als unzulässig verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.
Gegen diese Entscheidung ist keine Beschwerde gegeben (§ 304 Abs. 4 StPO).
G r ü n d e:
I.
Der Beschwerdeführer wurde durch Urteil des Landgerichts B. vom 21. Juli 2003 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von
zwei Jahren und neun Monaten verurteilt. Unter Anrechnung von bis dahin in dieser Sache erlittener
Untersuchungshaft verbüßte er 2/3 der Strafzeit ab dem 3. Juli 2007 bis zu seiner vorzeitigen Entlassung aus dem
Vollzug am 26. September 2008. Die Reststrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Noch während des Vollzugs
beantragte der Verurteilte auf die Strafzeit die Anrechnung weiterer Untersuchungshaft, die er im Verfahren 320 Js
23166/96 StA E. (8. Oktober 1996 bis 19. Dezember 1996 = ursprünglich 73 Tage) erlitten hatte. Dieses Verfahren
war im Hinblick auf eine weitere Verurteilung durch das Landgericht E. vom 7. Mai 2002 (Gesamtfreiheitsstrafe von
zwei Jahren und acht Monaten im Verfahren 782 Js 20478/98) am 7. Juli 2003 nach § 154 Abs. 2 StPO eingestellt
worden. Mit der Einstellung galt wegen der dadurch vorzunehmenden Anrechnung der Untersuchungshaft aus dem
Verfahren 320 Js 23166/96 StA E. die Strafzeit aus dem Verfahren 782 Js 20478/98 StA E. als vollständig verbüßt.
Die Untersuchungshaft konnte dabei indessen nicht mehr vollständig angerechnet werden, weil die Reststrafe aus
dem Verfahren 782 Js 20478/98 StA E. am 7. Juli 2003 nur noch 25 Tage umfasste. Für die übrigen 48 der
ursprünglich 73 Tage Untersuchungshaft begehrte der Verurteilte daher die Anrechnung im vorliegenden Verfahren.
Er beruft sich maßgeblich darauf, dass sämtliche gegen ihn verhängten Strafen gesamtstrafenfähig gewesen wären,
wenn die Vollstreckung aus dem Urteil des Landgerichts E. vom 7. Mai 2002 nicht bereits vor Erlass des Urteils
durch das Landgericht B. vom 21. Juli 2003 als vollständig verbüßt gegolten hätte. Bei Bildung dieser Gesamtstrafe
wäre eine vollständige Anrechnung auch der Untersuchungshaftzeit aus dem Verfahren 320 Js 23166/96 StA E. auf
die neu berechnete Strafzeit erfolgt. Zusätzlich macht er die Anrechnung erbrachter Arbeitsauflagen aus zwei
Bewährungsverfahren geltend, deren zugrundeliegenden Strafen in das Urteil des Landgerichts E. vom 7. Mai 2002
einbezogen worden und die ebenfalls mit der hier zugrundeliegenden Tat gesamtstrafenfähig gewesen sein sollen.
Ergänzend begehrt er auch die Anrechnung von Untersuchungshaft, die er im Verfahren 320 Js 23166/96 StA E.
zusätzlich wegen desselben Tatvorwurfs in B. verbüßt haben will.
Die Kammer hat den Antrag auf Anrechnung im vorliegenden Verfahren mit dem angefochtenen Beschluss
abgelehnt. Sie beruft sich auf Ausführungen der Staatsanwaltschaft B. vom 20. Februar 2008, in denen eine
Anrechnung der vom Antragsteller benannten Zeiträume abgelehnt worden ist. Darin heißt es maßgeblich, dass eine
Anrechnung verfahrensfremder Untersuchungshaft nicht in Frage komme. Gegen diesen Beschluss, der dem
Verurteilten formlos übersandt worden ist, wendet sich der Verurteilte mit seinem als „Beschwerde“ bezeichneten
Rechtsbehelf, in dem er erneut auf die potentielle Gesamtstrafenfähigkeit aller ihm vorgeworfenen Taten hinweist
und ausführt, dass die zwischenzeitlich erfolgte Entlassung aus dem Strafvollzug nicht zur Erledigung seines
Antrags geführt habe, „da sich die zur Bewährung ausgesetzte Reststrafe verkürzen würde“.
II.
Die sofortige Beschwerde (§ 462 Abs. 3 StPO) ist mangels Rechtsschutzbedürfnis unzulässig.
Den ursprünglich zulässig gestellten Antrag auf Anrechnung von verfahrensfremder Untersuchungshaft bzw.
Berücksichtigung von erbrachten Arbeitsleistungen im Rahmen einer Bewährungsauflage zur gerichtlichen
Festlegung der noch zu verbüßenden Strafzeit (§ 458 Abs. 1 StPO, §§ 51, 58 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. 56f Abs. 3 StGB)
kann der Verurteilte nach seiner Entlassung aus dem Justizvollzug nicht mehr erfolgreich verfolgen. § 458 Abs. 1, 2.
Alt. StPO dient dazu, bei Unklarheiten über die Berechnung der erkannten Strafe eine gerichtliche Klärung
herbeizuführen. Dieser Entscheidung kommt eine konstitutive Wirkung darüber, welche freiheitsentziehenden
Maßnahmen auf eine erkannte Freiheitsstrafe anzurechnen sind, hingegen nicht zu. Denn die Wirkung der
Anrechnung solcher Maßnahmen folgt unmittelbar aus § 51 StGB (vgl. BGHSt 27, 287). Zweifel über die Berechnung
der erkannten Strafzeit können somit nur dann entstehen, wenn die hierfür zuständige Vollstreckungsbehörde (vgl.
BGHSt 18, 34. 21, 186. 27, 287) eine Strafzeitberechnung tatsächlich vorzunehmen hat. Kann sie dann aufgrund
einer Unklarheit nicht entscheiden, unterbreitet sie ihre Zweifel dem Gericht. Ebenso kann der Verurteilte eine von
der Vollstreckungsbehörde vorgenommene Strafzeitberechnung gerichtlich überprüfen lassen (vgl. SKPaeffgen, §
458 Rn. 6). Ist jedoch eine Strafzeitberechnung gar nicht veranlasst, ist auch für eine gerichtliche Überprüfung kein
Raum. So liegt es hier. Mit der Entlassung des Verurteilten endete die von ihm vormals berechnete und zu
verbüßende Strafzeit. Die Vollstreckungsbehörde ist nunmehr mangels Vollstreckung der Reststrafe gar nicht in der
Lage, eine (neue) Strafzeitberechnung, bei der gegebenenfalls eine Anrechnung erfolgen soll, vorzunehmen. Hierfür
müsste nämlich zumindest der Beginn der Strafzeit feststehen, welcher nach § 38 StrVollstrO davon abhängt, dass
sich der Verurteilte in staatlichem Gewahrsam befindet.
Der Antrag ist auch nicht unter dem Gesichtspunkt einer nachträglichen oder vorherigen Feststellung der noch zu
verbüßenden Strafe zulässig. Ein Interesse für eine nachträgliche Entscheidung kann bereits deshalb nicht
angenommen werden, weil anzurechnende Untersuchungshaft nach § 39 Abs. 4 StrVollstrO immer vom zu
ermittelnden Strafzeitende abgerechnet wird, die Anrechnung damit also für den Fall des Widerrufs der
Reststrafenaussetzung immer noch erfolgen kann und nicht etwa bereits vom Verurteilten verbüßte Tage für die
Anrechnung zu berücksichtigen sind. Angesichts der Höhe der Reststrafe ist auch ausgeschlossen, dass diese
durch die im Raum stehenden Zeiträume bereits vollständig verbüßt wäre. Im Übrigen wäre das
Rechtsschutzbedürfnis auch in diesem Fall zweifelhaft (vgl. OLG Stuttgart, NStZRR 2003, 60). Der Verurteilte beruft
sich in seinem Beschwerdevorbringen auch allein darauf, dass sich bei Berücksichtigung der von ihm vorgetragenen
Umstände die zur Bewährung ausgesetzte Reststrafe – also für die Zukunft – verkürzen würde. Dem Verurteilten
geht es im Ergebnis nur darum, gerichtlich klären zu lassen, wieviele Tage Freiheitsstrafe er noch zu verbüßen
hätte, wenn es zu einem Widerruf der Reststrafenaussetzung käme. Für eine solche Feststellung, gerichtet auf ein
unsicheres Ereignis, besteht indessen kein sachliches Interesse. Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass es zu einem
Widerruf kommen wird, sind bislang nicht ersichtlich. Es lässt sich auch nicht darauf abstellen, dass der Verurteilte
unter Bewährung steht, denn für die Dauer der festgelegten Bewährungszeit hätte eine solche Feststellung gar keine
Auswirkung. Ob auf die Reststrafe die vom Verurteilten geltend gemachten Zeiträume von verfahrensfremder
Untersuchungshaft bzw. die nach seinem Vortrag erbrachten Arbeitsstunden anzurechnen sind, kann der Verurteilte
nur im Fall des Widerrufs gerichtlich feststellen lassen.
Der Senat weist allerdings darauf hin, dass die angefochtene Entscheidung der Kammer inhaltlich bedenklich ist. Der
Hinweis auf den Vermerk der Staatsanwaltschaft B., wonach verfahrensfremde Untersuchungshaft nicht
anzurechnen sei, genügt den sich aus dem Freiheitsgrundrecht des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und Art. 3 GG ergebenden
Anforderungen an die Berechnung der Strafzeit nicht. Zwar muss nach dem Wortlaut des § 51 Abs. 1 StGB die
Freiheitsentziehung aus Anlass der Tat erlitten worden sein, die Gegenstand des Verfahrens ist oder gewesen ist.
Unter Zugrundelegung der Rechtsprechung des BVerfG (NJW 1999, 2430), des BGH (NJW 1997, 2392) und anderer
Oberlandesgerichte (vgl. etwa OLG
Naumburg, NStZ 1997, 129. OLG Hamm, NStZRR 1996, 377. OLG Frankfurt, NStZRR 2000, 159. OLG Düsseldorf,
NStZRR 2001, 122) ist aber auch verfahrensfremde Untersuchungshaft anrechenbar. Ausgehend von dem Begriff der
„funktionalen Verfahrenseinheit“ käme eine Anrechnung zumindest der erlittenen Untersuchungshaft aus dem
Verfahren 320 Js 23166/96 StA E. vorliegend in Betracht, wenn sich die Angaben des Verurteilten über die
potentielle Gesamtstrafenfähigkeit der den jeweiligen Verfahren zugrundeliegenden Straftaten bestätigen und auch
keine relevante Zäsur durch eines der gegen den Verurteilten ergangenen Urteile stattgefunden hat. Dies konnte der
Senat anhand des ihm vorliegenden Teils des Vollstreckungsheftes nicht feststellen. Es wird Aufgabe der Kammer
für den Fall des Widerrufs sein, die Berechnung der Strafzeit durch die Vollstreckungsbehörde dabei nicht nur auf
Plausibilität zu überprüfen, sondern die Strafzeit selbst verbindlich zu berechnen (vgl. KKAppl, § 458 StPO, Rn. 7
m.w.N.). Nur durch vollständige Vorlage aller Verfahrensunterlagen wird sich so auch feststellen lassen, ob die vom
Verurteilten behauptete Untersuchungshaft in B. tatsächlich erfolgt, ob es zu der behaupteten Erbringung von
Arbeitsauflagen gekommen und ob es gegebenenfalls zu einer sich auf die Berechnung der Strafzeit auswirkenden
Anrechnung nach §§ 58 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. 56f Abs. 3 StGB gekommen ist.
III.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 473 Abs. 1 StPO.
####### ####### #######