Urteil des OLG Brandenburg vom 15.03.2017

OLG Brandenburg: behandlung, akteneinsicht, selbstbestimmungsrecht, erlass, beratung, verfügung, kopie, untersuchungshaft, dokumentation, verweigerung

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Gericht:
Brandenburgisches
Oberlandesgericht 2.
Strafsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
2 VAs 7/07
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 185 S 1 StVollzG, Art 1 Abs 1
GG, Art 2 Abs 1 GG
Untersuchungshaft: Anspruch auf Einsicht in die Krankenakte
Tenor
Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, dem Antragsteller Einsicht in die
vollständige bei ihr über den Antragsteller geführte Krankenakte zu gewähren. Den
Verfahrensbevollmächtigten des Antragstellers ist es zu ermöglichen, Ablichtungen der
vollständigen Krankenakte zu erstellen.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist erledigt.
Die Staatskasse trägt die notwendigen Auslagen des Antragstellers im
gerichtlichen Verfahren nach einem Geschäftswert von 300,- Euro.
Gründe
I.
Der Antragsteller befindet sich seit dem 12. Juli 2007 in Untersuchungshaft in der
Justizvollzugsanstalt C…. Er behauptet, an diversen gesundheitlichen
Beeinträchtigungen zu leiden, insbesondere an einer erheblichen Herzerkrankung. Er
begehrt, über seine Verfahrensbevollmächtigten Ablichtungen der vollständigen bei der
Antragsgegnerin über ihn geführten Krankenakte zu erhalten, um diese anstaltsfremden
Ärzten seines Vertrauens vorlegen zu können. Der Antragsteller will so seine bisherige
Behandlung in der Justizvollzugsanstalt überprüfen und sich zu seiner künftigen
Behandlung beraten lassen.
Der Antragsteller trägt vor, sein Verfahrensbevollmächtigter Rechtsanwalt E… habe mit
der Antragsgegnerin einen Termin am 21. November 2007 verabredet, zu dem die
Anstaltsärztin der Justizvollzugsanstalt die Krankenakte zur Einsicht habe vorlegen
sollen. Dieser Termin sei von der Anstaltsärztin jedoch nicht eingehalten worden, so dass
Rechtsanwalt E…, ohne Akteneinsicht erhalten zu haben, wieder abgereist sei. Die
Antragsgegnerin hat hierzu erwidert, die Anstaltsärztin habe sich am Vormittag des 21.
November 2007 für den vereinbarten Termin bereit gehalten; sie sei lediglich gegen
12.30 Uhr dieses Tages zu Tisch gegangen.
Mit Schreiben vom 21. November 2007 bat Rechtsanwalt E… unter Zusicherung der
Kostenübernahme die Antragsgegnerin um Übersendung einer vollständigen Kopie der
Krankenakte. Hierauf antwortete die Antragsgegnerin mit Schreiben vom 27. November
2007, Rechtsanwalt E… möge schriftlich mitteilen, zu welchen Fragen er Auskunft aus
den Krankenakten wünsche. Mit Schreiben vom 29. November 2007 wiederholte
Rechtsanwalt E… sein Gesuch um Einsicht in die vollständigen Krankenakten über den
Antragsteller. Erteilt wurde sie ihm jedoch nicht.
Nachdem der Antragsteller am 4. Dezember 2007 den Antrag auf gerichtliche
Entscheidung zur Erlangung der Akteneinsicht gestellt hat, hat die Antragsgegnerin ihm
am 10. Dezember 2007 Ablichtungen von 17 Blättern aus der Krankenakte, wobei es
sich nach Mitteilung der Verfahrensbevollmächtigten des Antragstellers überwiegend um
Anschreiben und Berichte anstaltsfremder Ärzte handeln soll, übersandt. Auf Anfrage
des Senats hat die Antragsgegnerin mit Schreiben vom 30. Januar 2008 mitgeteilt, die
Krankenakte des Antragstellers - von der Antragsgegnerin nun als "Gesundheitsakte"
bezeichnet - verfüge mittlerweile über ca. 130 Seiten. Dem Ansinnen der
Verfahrensbevollmächtigten des Antragstellers auf Überlassung einer Kopie der
gesamten Krankenakte sei nicht entsprochen worden. Diesen seien mit Schreiben vom
10. Dezember 2007 durch die Anstaltsärztin zusammengestellte Kopien von relevanten
Befunden der bisherigen medizinischen Behandlung des Antragstellers übersandt
worden. Diese Kopien enthielten jedoch keine Informationen über subjektive Eindrücke
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worden. Diese Kopien enthielten jedoch keine Informationen über subjektive Eindrücke
und Wertungen der Anstaltsärztin. Die Aufzeichnungen aus den Sprechstunden
entsprächen subjektiven Einschätzungen der Ärzte und würden dem Antragsteller nicht
zur Verfügung gestellt, da sich das Recht auf Einsichtnahme in Krankenunterlagen
hierauf nicht erstrecke.
II.
Das Rechtsmittel des Antragstellers hat Erfolg.
Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung ist insbesondere nicht deshalb unzulässig, weil
es - wie die Generalstaatsanwaltschaft ausgeführt hat - an einem anfechtbaren
Justizverwaltungsakt fehlen würde. Die Antragsgegnerin hat bereits mit ihrer Reaktion auf
die schriftlichen Gesuche der Verfahrensbevollmächtigten des Antragstellers um
Akteneinsicht vom 21. und 29. November 2007 und spätestens mit ihrem Schreiben
vom 30. Januar 2008 klargestellt, dass sie dem Antragsteller keine Einsicht in die
vollständigen Krankenakten gewähren will.
Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung ist auch begründet. Der Anspruch des
Antragstellers auf Akteneinsicht folgt hier aus § 185 Satz 1 StVollzG, der über Nr. 76
UVollzO für den Vollzug der Untersuchungshaft sinngemäße Anwendung findet. Für das
Begehren des Antragstellers, sich zur Überprüfung seiner bisherigen Behandlung in der
Justizvollzugsanstalt und Beratung über seine künftige Behandlung an anstaltsfremde
Ärzte wenden zu wollen, genügt eine Auskunftserteilung aus den Krankenakten nicht; der
Antragsteller ist hierfür vielmehr auf die Fertigung von Ablichtungen der Krankenakte
angewiesen.
Bei der Bestimmung des Umfangs des aus § 185 StVollzG folgenden Rechts auf Einsicht
in die Krankenakten ist das Grundrecht des Antragstellers auf Selbstbestimmung und
seine personale Würde als Patient zu beachten. Das Bundesverfassungsgericht hat
hierzu in seinem Beschluss vom 9. Januar 2006 - 2 BvR 443/02 - (NJW 2006, S. 1116 f.)
für den Fall eines im Maßregelvollzug Untergebrachten das Folgende ausgeführt:
"Bezogen auf den Zugang zu Krankenunterlagen hat das
Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass das Recht auf Selbstbestimmung und die
personale Würde des Patienten (Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG) es gebieten, jedem
Patienten gegenüber seinem Arzt und Krankenhaus grundsätzlich einen Anspruch auf
Einsicht in die ihn betreffenden Krankenunterlagen einzuräumen (Beschluss der 1.
Kammer des 1. Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 16. September 1998 - 1
BvR 1130/98 -, NJW 1999, S. 1777). Dieses Informationsrecht des Patienten ist zwar von
Verfassungs wegen nicht ohne Einschränkungen gewährleistet (BVerfG, a.a.O. ….). Das
ändert aber nichts daran, dass es seine Grundlage unmittelbar im grundrechtlich
gewährleisteten Selbstbestimmungsrecht des Patienten hat und daher nur zurücktreten
muss, wenn ihm entsprechend gewichtige Belange entgegenstehen.
Bei der demnach notwendigen Abwägung kommt dem Informationsinteresse des
Patienten grundsätzlich erhebliches Gewicht zu. Ärztliche Krankenunterlagen betreffen
mit ihren Angaben über Anamnese, Diagnose und therapeutische Maßnahmen den
Patienten unmittelbar in seiner Privatsphäre (vgl. BVerfGE 32, 373, 379; 44, 353, 372 …).
Deshalb und wegen der möglichen erheblichen Bedeutung der in solchen Unterlagen
enthaltenen Informationen für selbst bestimmte Entscheidungen des Behandelten hat
dieser generell ein geschütztes Interesse daran, zu erfahren, wie mit seiner Gesundheit
umgegangen wurde, welche Daten sich dabei ergeben haben und wie man die weitere
Entwicklung einschätzt …
Der Untergebrachte kann seinen Arzt und andere Therapeuten nicht frei wählen.
Er kann selbst dann nicht nach eigenem Wunsch in ein anderes Behandlungsverhältnis
wechseln, wenn ihm jedes Vertrauen zum Therapeuten fehlt und nach seiner
Wahrnehmung die Beziehung zerrüttet ist. Auch wo solche Einschätzungen rein
subjektiven Charakter haben, ist unter diesen Bedingungen das
Selbstbestimmungsrecht des Behandelten durch Verweigerung des Zugangs zu
wesentlichen Teilen der eigenen Krankenunterlagen wesentlich intensiver berührt als in
einem privatrechtlichen Behandlungsverhältnis, in dem der Betroffene - wie auch der
Bundesgerichtshof hervorgehoben hat (BGHZ 85, 327, 329) - sein
Selbstbestimmungsrecht dadurch ausüben kann, dass er sich aus dem
Behandlungsverhältnis zurückzieht."
Diese Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts gelten in gleicher Weise für den
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Diese Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts gelten in gleicher Weise für den
Anspruch eines Untersuchungsgefangenen auf Einsicht in seine Krankenakten. Wie ein
im Maßregelvollzug Untergebrachter kann auch der Untersuchungsgefangene seinen
Arzt nicht frei wählen; er ist grundsätzlich auf die Behandlung durch die in der Anstalt
tätigen Ärzte angewiesen. Daraus folgt, dass seinem Informationsinteresse über den
Inhalt der in der Justizvollzugsanstalt über ihn geführten Krankenakten ein besonderes
Gewicht zukommt, weil die darin enthaltene Dokumentation über den
Gesundheitszustand des Untersuchungsgefangenen regelmäßig eine notwendige
Information für die sachgerechte Beratung und Behandlung durch anstaltsfremde Ärzte
ist.
Zur Einschränkung des Akteneinsichtsrechts des Untersuchungsgefangenen könnten
nur gewichtige Interessen zum Schutz der Persönlichkeitsrechte der in der
Justizvollzugsanstalt tätigen Ärzte taugen, die vorliegend weder geltend gemacht noch
sonst ersichtlich sind. Soweit die Antragsgegnerin ausgeführt hat, die Aufzeichnungen
aus den Sprechstunden enthielten subjektive Einschätzungen der Ärzte und würden
(deshalb) dem Antragsteller nicht zur Verfügung gestellt, ist nicht nachvollziehbar,
warum durch die Offenlegung subjektiver Einschätzungen der in der Justizvollzugsanstalt
behandelnden Ärzte über das Krankheitsbild des Antragstellers deren
Persönlichkeitsrechte verletzt würden. Die Einschätzung des Krankheitsbilds eines
Patienten durch den behandelnden Arzt enthält notwendigerweise subjektive Wertungen;
in diesem Sinne liegen auch subjektive Wertungen im Kernbereich der medizinischen
Tätigkeit. Durch deren Preis- und Weitergabe an Dritte werden die Persönlichkeitsrechte
der behandelnden Ärzte regelmäßig selbst dann nicht verletzt, wenn sich deren
Einschätzungen im Nachhinein als falsch erweisen.
Soweit die Antragsgegnerin sich zur Begründung ihrer Rechtsmeinung auf die
Kommentierung in Calliess/Müller/Dietz, Strafvollzugsgesetz, § 185 Rn 4 beruft, ist in der
dort zitierten Rechtsprechung die vorgenannte Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts noch nicht berücksichtigt; das Bundesverfassungsgericht
hat in der oben zitierten Entscheidung vielmehr klargestellt, dass schon im
privatrechtlichen Arzt-Patienten-Verhältnis eine pauschale Beschränkung des
Akteneinsichtsrechts auf so genannte objektive Befunde nicht in Betracht kommt
(BVerfG, a.a.O., Juris Rn 37).
III.
Es kann offen bleiben, ob der vom Antragsteller gestellte Antrag auf Erlass einer
einstweiligen Anordnung zulässig war; dieser Antrag ist jedenfalls durch den Erlass der
Hauptsachenentscheidung überholt.
IV.
Die Auslagenentscheidung ergeht von Amts wegen nach billigem Ermessen.
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