Urteil des OLG Brandenburg vom 15.03.2017

OLG Brandenburg: rechtliches gehör, bindungswirkung, billigkeit, gas, vorfrage, elektrizität, konzentration, link, sammlung, quelle

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Gericht:
Brandenburgisches
Oberlandesgericht 1.
Zivilsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
1 AR 8/11
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 36 Abs 1 Nr 6 ZPO, § 281 Abs
2 S 4 ZPO, § 102 EnWG, Art 101
Abs 1 S 2 GG, Art 103 Abs 1 GG
Tenor
Zuständig ist das Landgericht Neuruppin.
Gründe
I.
Die Klägerin, ein Versorgungsunternehmen, nimmt den Beklagten auf Zahlung von
389,00 € nebst Zinsen für die Lieferung von Gas und Strom in Anspruch. Der Beklagte
macht geltend, dass die der Forderung zu Grunde liegenden Preiserhöhungen unbillig
und daher unwirksam seien. Die Klägerin stützt sich auf das in § 4 Abs. 2 AVBGasV bzw.
§ 5 Abs. 2 GasGVV geregelte Preisanpassungsrecht und vertritt außerdem die
Auffassung, dass die Preisanpassungen der Billigkeit entsprechen würden.
Mit Verfügung vom 26. August 2010 hat das Amtsgericht Oranienburg darauf
hingewiesen, dass gemäß § 102 Abs. 1 EnWG das Landgericht Neuruppin ausschließlich
sachlich zuständig sei. Die Klägerin hat mit ihrem Schriftsatz vom 17. September 2010
dieser Rechtsauffassung widersprochen, jedoch hilfsweise einen Antrag auf Verweisung
an das Landgericht Neuruppin - Kammer für Handelssachen - gestellt. Der Beklagte hat
sich der Auffassung des Gerichts mit Schriftsatz vom 24. September 2010
angeschlossen. Daraufhin hat sich das Amtsgericht Oranienburg mit Beschluss vom 27.
September 2010 für sachlich unzuständig erklärt und den Rechtsstreit an die Kammer
für Handelssachen des Landgerichts Neuruppin verwiesen. Mit Beschluss vom 28. Januar
2011 hat sich das Landgericht Neuruppin seinerseits für unzuständig erklärt und die
Sache zur Entscheidung über die Zuständigkeit dem Brandenburgischen
Oberlandesgericht vorgelegt.
II.
1. Der Zuständigkeitsstreit ist gemäß § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO durch das
Brandenburgische Oberlandesgericht zu entscheiden, weil es für die am
Kompetenzkonflikt beteiligten Gerichten das zunächst höhere gemeinschaftliche Gericht
ist.
2. Die Voraussetzungen für eine Zuständigkeitsbestimmung nach § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO
liegen vor. Sowohl das Amtsgericht Oranienburg als auch das Landgericht Neuruppin
haben sich im Sinne von § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO rechtskräftig für sachlich unzuständig
erklärt, ersteres durch nach § 281 Abs. 2 Satz 2 ZPO unanfechtbaren
Verweisungsbeschluss vom 27. September 2010 und letzteres durch den seine
Zuständigkeit abschließend verneinenden Vorlagebeschluss vom 28. Januar 2011, der
als solcher den Anforderungen genügt, die an das Merkmal „rechtskräftig“ im Sinne von
§ 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO zu stellen sind, weil es insoweit allein darauf ankommt, dass eine
den Parteien bekannt gemachte beiderseitige Kompetenzleugnung vorliegt (statt vieler
Senat NJW 2004, 780; Zöller/Vollkommer, ZPO, 28. Aufl. 2010, § 36 Rdnrn. 24 f.).
3. Zuständig ist das Landgericht Neuruppin.
Seine Zuständigkeit folgt aus der Bindungswirkung des Verweisungsbeschlusses des
Amtsgerichts Oranienburg vom 27. September 2010 (§ 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO).
Aufgrund der klaren gesetzlichen Regelung des § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO kann die
Bindungswirkung nur ausnahmsweise infolge der Verletzung höherrangigen
(Verfassungs-) Rechts, namentlich bei der ungenügenden Gewährung rechtlichen
Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) oder bei objektiv willkürlicher Entziehung des gesetzlichen
Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) entfallen. Im Interesse einer baldigen Klärung der
Gerichtszuständigkeit und der Vermeidung von wechselseitigen (Rück-)Verweisungen ist
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Gerichtszuständigkeit und der Vermeidung von wechselseitigen (Rück-)Verweisungen ist
die Willkürschwelle hoch anzusetzen. Einfache Rechtsfehler wie das Übersehen einer die
Zuständigkeit begründenden Rechtsnorm rechtfertigen die Annahme einer objektiv
willkürlichen Verweisung demzufolge grundsätzlich nicht. Hinzu kommen muss dafür
vielmehr, dass die Verweisung offenbar gesetzwidrig oder sonst grob rechtsfehlerhaft ist,
also gleichsam jeder gesetzlichen Grundlage entbehrt (statt vieler Senat JMBl. 2007, 65,
66; NJW 2006, 3444, 3445; MDR 2006, 1184; NJW 2004, 780; eingehend ferner Tombrink
NJW 2003, 2364, 2364 f.; jeweils mit weiteren Rechtsprechungsnachweisen).
Den derart zu konkretisierenden (verfassungsrechtlichen) Einschränkungen der
Bindungswirkung hält der Verweisungsbeschluss des Amtsgerichts Oranienburg stand:
Der Anspruch des Beklagten auf rechtliches Gehör ist beachtet worden.
Der Verweisungsbeschluss entbehrte auch nicht der gesetzlichen Grundlage.
Zwar teilt der Senat die vom Amtsgericht Oranienburg vertretene Rechtsauffassung,
wonach sich für das streitgegenständliche Verfahren aus § 102 EnWG eine
ausschließliche Zuständigkeit der Landgerichte ergibt, nicht. Gemäß § 102 Abs. 1 EnWG
sind für bürgerliche Rechtsstreitigkeiten, die sich aus diesem Gesetz ergeben, ohne
Rücksicht auf den Wert des Streitgegenstandes die Landgerichte ausschließlich
zuständig. Dies gilt gemäß § 102 Abs. 2 EnWG auch dann, wenn die Entscheidung eines
Rechtsstreits ganz oder teilweise von einer Entscheidung abhängt, die nach diesem
Gesetz zu treffen ist. Mit ihrer Klage macht die Klägerin Versorgungsentgelte gegenüber
dem Kläger geltend, die dieser bisher nicht bezahlt hat, da er die zu Grunde liegende
Preiserhöhung für unwirksam hält. Derartige Zahlungsansprüche werden von der
Zuständigkeitsregelung des § 102 EnWG jedoch nicht erfasst, da hier nicht der Anspruch
auf Grundversorgung Streitgegenstand ist (so auch die bisher wohl einhellige
Rechtsprechung verschiedener Oberlandesgerichte: OLG Oldenburg, Beschluss vom 3.
Januar 2011, Az. 5 AR 35/10, zitiert nach juris; OLG Celle, Beschluss vom 23. Dezember
2010, Az. 13 AR 9/10, zitiert nach juris; OLG Frankfurt, Beschluss vom 16. Dezember
2010, Az. 11 AR 3/10, zitiert nach juris; OLG Zweibrücken, Beschluss vom 10. Juli 2009,
Az. 2 AR 23/09; OLG München, Beschluss vom 15. Mai 2009, Az. AR (K) 7/09, zitiert nach
juris; wohl auch KG, Beschluss vom 9. Oktober 2009, Az. 2 AR 48/09, zitiert nach juris;
OLG Köln, Beschluss vom 3. April 2008, Az. 8 W 19/08, zitiert nach juris; OLG
Braunschweig, Beschluss vom 15. August 2008, Az. 1 W 43/07, zitiert nach juris).
Eine Rechtsstreitigkeit im Sinne des § 102 Abs. 1 EnWG liegt schon deshalb nicht vor, da
sich der mit der Klage geltend gemachte Zahlungsanspruch nicht auf eine
Anspruchsgrundlage des EnWG oder des auf dem EnWG beruhenden Regelwerks
stützten lässt und sich mithin nicht aus dem EnWG ergibt (vgl. Britz/Hellermann/Hermes-
Hölscher, EnWG, 2. Aufl., § 102 Rdnr. 12). Vielmehr handelt es sich um einen Anspruch,
der seine Grundlage gegebenenfalls in dem zwischen den Parteien geschlossenen
Vertrag hat.
Auch § 102 Abs. 2 EnWG ist nicht einschlägig, da die Entscheidung des Rechtsstreits
nicht von einer Entscheidung abhängt, die nach diesem Gesetz zu treffen ist. Der von
der Klägerin geltend gemachte Zahlungsanspruch hängt davon ab, ob die von ihr
vorgenommene Preiserhöhung wirksam ist. Auch diese Entscheidung ist jedoch nicht
nach den Regelungen des EnWG, sondern allein nach den Vorschriften des bürgerlichen
Rechts zu treffen. Ob die Klägerin sich auf das Preisanpassungsrecht nach der AVBGasV
bzw. GasGVV berufen kann oder ob die Preiserhöhung nach § 315 BGB der Billigkeit
entspricht, ergibt sich nicht aus dem EnWG, und zwar auch nicht aus § 1 Abs. 1 EnWG. §
1 Abs. 1 EnWG enthält lediglich die programmatische Umschreibung des
Gesetzeszweckes einer möglichst sicheren, preisgünstigen, verbraucherfreundlichen,
effizienten und umweltverträglichen leitungsgebundenen Versorgung der Allgemeinheit
mit Elektrizität und Gas und stellt keine Regelung dar, nach der die Vorfrage der
Anwendung der AVBGasV bzw. GasGVV oder der Billigkeit zu entscheiden wäre, sondern
zeigt lediglich allgemein Gesichtpunkte auf, die in diese Abwägung einzufließen haben
(vgl. OLG Oldenburg, a. a. O.; OLG Frankfurt, a. a. O.; Britz/Hellermann/ Hermes-
Hölscher, a. a. O., § 102 Rdnr. 13). Was der Billigkeit gemäß § 315 BGB entspricht, ergibt
sich nicht aus dem EnWG, sondern aus einer Abwägung der beiderseitigen
Vertragsinteressen.
Auch aus der Begründung des EnWG ergibt sich nichts anderes. So verweist der
Gesetzgeber (vgl. BT-Drs. 15/3917, S. 75) allein darauf, dass die Vorschrift dem § 87
GWB entspreche, was schon insoweit ungenau ist, als dort von bürgerlichen
Rechtsstreitigkeiten, „die die Anwendung dieses Gesetzes […] betreffen“ die Rede ist,
während in § 102 EnWG die Zuständigkeit für bürgerliche Rechtsstreitigkeiten, „die sich
aus diesem Gesetz ergeben“, geregelt ist. Aus der in § 87 GWB „zur Wahrung der
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aus diesem Gesetz ergeben“, geregelt ist. Aus der in § 87 GWB „zur Wahrung der
Rechtseinheitlichkeit“ (vgl. BR-Drs. 441/04, S. 122) getroffenen Regelung kann jedoch
nicht darauf geschlossen werden, dass durch § 120 EnWG jegliche Verfahren, an denen
Energieversorger beteiligt sind, bei den Landgerichten konzentriert sein sollen. Darauf
würde eine derart weite - nach hiesiger Auffassung- über den Wortlaut hinausgehende
Auslegung, wie sie das Amtsgericht Oranienburg in seinem Verweisungsbeschluss
vertritt, jedoch hinauslaufen. Einer Konzentration bedarf es jedoch nur hinsichtlich über
den Einzelfall hinausgehender, grundsätzlicher Fragen und nicht für individuelle
Streitigkeiten über einzelvertragliche Ansprüche (vgl. OLG Köln, a. a. O., Rdnr. 22).
Dennoch erscheint die Verweisung hier weder offenbar gesetzwidrig noch grob
rechtsfehlerhaft. Das Amtsgericht Oranienburg hat sich zur Begründung seiner
Rechtsauffassung auf eine auch von anderen Amts- und Landgerichten sowie in der
Literatur vereinzelt vertretene weite Auslegung des § 102 EnWG gestützt, die auch auf
der Grundlage des Gesetzeswortlautes jedenfalls nicht als schlechthin unvertretbar und
willkürlich angesehen kann. Es hat sich im Rahmen seiner Begründung auch mit den
Argumenten der Klägerseite, mit der Gesetzesbegründung sowie mit der
entgegenstehenden obergerichtlichen Rechtsprechung auseinandergesetzt. Eine
diesbezügliche Entscheidung des hiesigen Oberlandesgerichts zu dieser Streitfrage lag -
soweit ersichtlich - noch nicht vor, sodass dem Amtsgericht auch nicht vorgehalten
werden kann, eine etwa entgegenstehende Rechtsprechung des zuständigen
Obergerichts ignoriert zu haben, mit der möglichen Folge des Wegfalls der
Bindungswirkung.
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