Urteil des OLG Brandenburg vom 15.03.2017

OLG Brandenburg: sexuelle handlung, betroffene person, nötigung, erheblichkeit, angriff, kausalität, verbrechen, beleidigung, sammlung, quelle

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Gericht:
Brandenburgisches
Oberlandesgericht 1.
Strafsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
1 Ss 70/09
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 177 Abs 1 Nr 1 StGB, § 184g
Nr 1 StGB, § 185 StGB, § 240
Abs 1 StGB
Sexuelle Nötigung: Erheblichkeit bei aufgedrängtem
Zungenkuss ohne weitere sexuell motivierte Körperberührung
Leitsatz
Erheblichkeitsschwelle von sexuellen Handlungen im Sinne des § 184 f Nr. 1 StGB bei
Annahme sexueller Nötigung hier durch aufgedrängten kurzzeitigen Zungenkuss ohne sexuell
motivierte Berührung des Körpers einer 15 jährigen Geschädigten im Übrigen nicht erreicht.
Tenor
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil der 2. großen Strafkammer des
Landgerichts Neuruppin - als Jugendschutzkammer - vom 11. Februar 2009 aufgehoben.
Der Angeklagte wird freigesprochen.
Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten werden der
Staatskasse auferlegt, mit Ausnahme derjenigen, die auf das Berufungsverfahren
entfallen.
Die Nebenklägerin hat die Kosten des Berufungsverfahrens und die darauf entfallenden
notwendigen Auslagen des Angeklagten sowie ihre eigenen notwendigen Auslagen zu
tragen.
Gründe
I.
Das Amtsgericht Neuruppin sprach den Angeklagten am 17. Juni 2008 vom Vorwurf der
sexuellen Nötigung aus tatsächlichen Gründen frei. Auf die Berufung der Nebenklägerin
hat die 2. große Strafkammer des Landgerichts Neuruppin als Jugendschutzkammer mit
dem angefochtenen Urteil vom 11. Februar 2009 das Urteil des Amtsgerichts Neuruppin
vom 17. Juni 2008 aufgehoben und den Angeklagten wegen sexueller Nötigung zu einer
Freiheitsstrafe von 8 Monaten verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung
ausgesetzt hat. Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision, mit
der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt. Er beantragt, das Urteil des
Landgerichts Neuruppin mit den zu Grunde liegenden Feststellungen aufzuheben und
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an eine andere Kammer des
Landgerichts Neuruppin zurückzuverweisen.
Die Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg hat sich dem Antrag
angeschlossen.
II.
Die gemäß § 333 StPO statthafte und gemäß §§ 341, 344, 345 StPO form- und
fristgerecht erhobene Revision des Angeklagten hat bereits mit der Sachrüge Erfolg.
Das angefochtene Urteil unterliegt der Aufhebung, weil die Urteilsfeststellungen eine
Verurteilung des Angeklagten wegen sexueller Nötigung nicht tragen. Zum konkreten
Tatgeschehen hat die 2. große Strafkammer Folgendes festgestellt:
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1. Diese Feststellungen tragen eine Verurteilung wegen sexueller Nötigung gemäß § 177
Abs. 1 Nr. 1 StGB nicht, da es den dem Opfer aufgedrängten sexuellen Handlungen an
der erforderlichen Erheblichkeit im Sinne des § 184 f Nr. 1 StGB fehlt.
§ 177 StGB schützt die sexuelle Selbstbestimmung einer Person als Teilaspekt ihrer
Menschenwürde und stellt die in § 177 Abs. 1 StGB genannten Nötigungshandlungen als
besonders intensive Eingriffe in den Rang eines Verbrechens. Er setzt voraus, dass das
Tatopfer mit Gewalt gezwungen wird, sexuelle Handlungen des Täters oder eines Dritten
zu dulden oder am Täter oder einem Dritten vorzunehmen. Die sexuelle Handlung muss
angesichts der hohen Strafandrohung und den Folgen der Einstufung einer Handlung als
Verbrechen von einiger Erheblichkeit sein. Unterhalb dieser Schwelle liegende
Nötigungshandlungen fallen unter § 240 StGB (vgl. Fischer, StGB, 55. Aufl., § 177 Rdnr.
4). Ob die Schwelle der Erheblichkeit für das betroffene Rechtsgut überschritten wurde,
ist nach Art, Intensität und Dauer der sexualbezogenen Handlung und der Beziehung der
Beteiligten untereinander zu beantworten, wobei die gesamten Begleitumstände des
Tatgeschehens zu berücksichtigen sind (vgl. BGH, NStZ-RR 2007, 12; OLG München,
Urteil vom 20.10.2008, 5 StRR 180/08, nach juris).
Die sexuelle Selbstbestimmung ist am ehesten bei Kontakt an Geschlechtsorganen
verletzt. Abhängig von der Einwirkungsintensität im Einzelfall können aber auch
Berührungen an anderen Körperregionen die Schwelle der Erheblichkeit überschreiten.
Ein Kuss kann bei Personen verschiedenen Geschlechts nicht stets und ohne Rücksicht
auf die Begleitumstände als sexuelle Handlung von einiger Erheblichkeit gewertet
werden. Dies gilt auch für den Zungenkuss (vgl. BGH, StV 1983, 415 f.). Als maßgebliche
Umstände für die vorzunehmende Bewertung kommen insbesondere Intensität und
Dauer des Kusses sowie etwaige begleitende Handlungen, wie Berührungen des Körpers,
das Verhältnis zwischen Täter und Opfer und die konkrete Tatsituation in Betracht.
Das Landgericht hat hierzu ausgeführt, dass der Angeklagte, der der Geschädigten
jahrelang bekannt war, plötzlich und für die Zeugin unerwartet der Zeugin in den Nacken
griff und sie so zu sich in Richtung Fahrersitz herüberzog. Er habe die Zeugin dann auf
die Lippen geküsst und kurzzeitig seine Zunge in ihren Mund gesteckt. Der gesamte
Vorfall habe nur wenige Sekunden gedauert. Diese Feststellungen des Landgerichts zur
Art des Handelns und zur Intensität, mit der der Angeklagte vorging, lassen eine
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Art des Handelns und zur Intensität, mit der der Angeklagte vorging, lassen eine
Einordnung nur unterhalb der Schwelle der Unrechtsbewertung des § 177 Abs. 1 Nr. 1
StGB zu.
Zwar ist das Eindringen des Angeklagten mit der Zunge in den Mund der Zeugin ein
Angriff auf die sexuelle Selbstbestimmung der Zeugin, der über die einer bloßen
Berührung der Lippen hinausgeht. Jedoch ist unter Berücksichtigung des Umstandes,
dass die Geschädigte 15 Jahre alt und damit für sie ein Zungenkuss grundsätzlich nichts
Unbekanntes gewesen sein dürfte, der kurzen Zeit des Kusses sowie des Umstandes,
dass der Angeklagte die Geschädigte im Übrigen am Körper nicht berührt hat, hier
davon auszugehen, dass in dem Zungenkuss keine sexuelle Handlung von einiger
Erheblichkeit zu sehen ist.
2. Das durch das Landgericht festgestellte Verhalten des Angeklagten erfüllt vorliegend
auch nicht den Tatbestand der Nötigung gemäß § 240 Abs. 1 StGB.
Eine Nötigung im Sinne der Vorschrift setzt voraus, dass der Täter der anderen Person
ein bestimmtes Verhalten aufzwingt, d. h. sie gegen ihren Willen dazu veranlasst. Dies
setzt zunächst voraus, dass ein entgegenstehender Wille überhaupt vorhanden ist: Wer
keinen Willen zu einem bestimmten Verhalten hat, kann nicht zum gegenteiligen
Verhalten gezwungen werden (vgl. Fischer, StGB, 55. Aufl., § 240 Rdnr. 4). Daher
scheiden insbesondere auch überraschende, lediglich “überrumpelnde” Handlungen
aus, auch wenn die betroffene Person sie nicht will (vgl. Fischer, a.a.O., § 177 Rdnr. 14;
OLG München, a.a.O.). Vorliegend war die Geschädigte nach den Feststellungen des
Landgerichts zunächst völlig überrascht und habe den Angeklagten sodann (in
Sekundenschnelle) mit den Händen weggedrückt, woraufhin er von ihr abließ. Danach
war das Greifen der Geschädigten im Nacken und das Heranziehen sowie der dann
folgende Kuss so überraschend für die Geschädigte, dass die Bildung eines
Abwehrwillens unterblieb. Als dieser zu Tage trat, ließ der Angeklagte sogleich von der
Geschädigten ab. Eine Kausalität des Gewalteinsatzes des Angeklagten für ein Verhalten
der Geschädigten fehlte daher.
3. Auch der Tatbestand der Beleidigung gemäß § 185 StGB ist nicht erfüllt. Ein Angriff auf
die sexuelle Selbstbestimmung oder, wie hier, die tätliche sexualbezogene Annäherung
ohne Einverständnis der betroffenen Person, können den Tatbestand erfüllen, wenn nach
den gesamten Umständen in dem Verhalten des Täters zugleich eine von ihm gewollte
herabsetzende Bewertung des Opfers zu sehen ist (vgl. Fischer, a.a.O., § 185 Rdnr. 11
a).
Davon ist vorliegend jedoch nicht auszugehen. Allein in dem der Geschädigten
aufgezwungenen Kuss an sich kann darin die Kundgabe nicht gesehen werden.
Insbesondere im vorliegenden Fall spricht die vorhergegangene Situation, in der der
Angeklagte der Geschädigten Komplimente machte gerade nicht dafür, dass er mit dem
Kuss zugleich eine von ihm gewollte herabsetzende Bewertung abgeben wollte.
Gemäß §§ 349 Abs. 4, 354 Abs. 1 StPO konnte der Senat eine eigene Sachentscheidung
treffen, da es ausgeschlossen erscheint, dass in einer erneuten Hauptverhandlung ein
Sachverhalt festgestellt werden kann, der über die Feststellungen der angefochtenen
Entscheidung hinaus geht.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 467 Abs. 1, 472 Abs. 1 und 473 Abs. 1 S. 3 StPO.
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