Urteil des OLG Brandenburg vom 15.03.2017

OLG Brandenburg: örtliche zuständigkeit, rechtliches gehör, gerichtsstandsvereinbarung, willkür, bindungswirkung, meinung, zuständigkeitsstreit, link, sammlung, quelle

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Gericht:
Brandenburgisches
Oberlandesgericht 1.
Zivilsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
1 AR 56/05
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 36 Abs 1 Nr 6 ZPO, § 36 Abs 2
ZPO, § 36 Abs 3 ZPO, § 38 ZPO,
§ 261 Abs 3 Nr 2 ZPO
Verweisungsbeschluss: Grenzen der Bindungswirkung
Tenor
Zuständig ist das Amtsgericht Hamburg-Harburg.
Gründe
I. Die Klägerin nimmt den Beklagten - als ehemaligen Geschäftsführer der inzwischen im
Insolvenzverfahren befindlichen, in ... ansässigen P. Wohnbau GmbH - wegen
Schadensersatzes aus behaupteter zweckwidriger Verwendung von Baugeldern für ein
Bauvorhaben in B. auf Zahlung von 2.867,98 € nebst Zinsen in Anspruch. Sie hat ihre
Klage bei dem für den Wohnsitz des Beklagten zuständigen Amtsgericht Nauen
eingereicht. Unter Bezugnahme auf eine entsprechende Gerichtsstandsvereinbarung
zwischen den Parteien hat die Klägerin mit Schriftsatz vom 25. Mai 2005 die Verweisung
des Rechtsstreits an das Amtsgericht Hamburg-Harburg beantragt. Der Beklagte hat
sich diesem Antrag mit Schriftsatz vom 6. Juni 2005 angeschlossen. Mit Beschluss vom
24. Juni 2005 hat sich das Amtsgericht Nauen hierauf für örtlich unzuständig erklärt und
den Rechtsstreit unter Hinweis auf die zwischen den Parteien geschlossene
Gerichtsstandsvereinbarung an das Amtsgericht Hamburg-Harburg verwiesen. Dieses
hat sich mit Beschluss vom 16. August 2005 seinerseits für örtlich unzuständig erklärt
und die Sache dem Brandenburgischen Oberlandesgericht zur Bestimmung des
zuständigen Gerichts vorgelegt.
II. 1. Der Zuständigkeitsstreit ist gemäß § 36 Abs. 1 Nr. 6 und Abs. 2 ZPO durch das
Brandenburgische Oberlandesgericht zu entscheiden, weil das zu seinem Bezirk
gehörende Amtsgericht Nauen unter den Zuständigkeitsstreit beteiligten Gerichten
zuerst mit der Sache befasst gewesen ist.
2. Die Voraussetzungen für eine Zuständigkeitsbestimmung nach § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO
liegen vor. Sowohl das Amtsgericht Nauen als auch das Amtsgericht Hamburg-Harburg
haben sich im Sinne von § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO rechtskräftig für unzuständig erklärt,
ersteres durch nach § 281 Abs. 2 Satz 2 ZPO unanfechtbaren Verweisungsbeschluss
vom 24. Juni 2005 und letzteres durch die seine Zuständigkeit abschließend verneinende
Entscheidung vom 16. August 2005, die als solche den Anforderungen genügt, die an
das Merkmal „rechtskräftig“ im Sinne von § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO zu stellen sind, weil es
insoweit allein darauf ankommt, dass eine den Parteien bekannt gemachte
ausdrückliche beiderseitige Kompetenzleugnung vorliegt (vgl. BGHZ Bd. 102, S. 338,
340; Bd. 104, S. 363, 366; BGH NJW 2002, S. 3634, 3635; Senat, OLG-NL 2005, S. 16,
17; NJW 2004, S. 780; OLG-NL 2001, S. 70 und S. 214; Zöller/ Vollkommer, ZPO, 25. Aufl.
2005, § 36 Rdn. 24 f.; Baumbach/Hartmann, ZPO, 63. Aufl. 2005, § 281 Rdn. 48;
Thomas/Putzo, ZPO, 26. Aufl. 2004, § 36 Rdn. 23).
3. Zuständig ist das Amtsgericht Hamburg-Hamburg.
Seine Zuständigkeit folgt aus der Bindungswirkung des Verweisungsbeschlusses des
Amtsgerichts Nauen vom 24. Juni 2005 (§ 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO).
Die Bindungswirkung nach § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO entfällt nur ausnahmsweise,
namentlich bei Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG)
oder bei objektiver Willkür, die etwa auch dann gegeben sein kann, wenn die Verweisung
offenbar gesetzeswidrig oder sonst grob rechtsfehlerhaft erfolgt ist (s. BGHZ Bd. 71, S.
69, 72; Bd. 102, S. 338, 341; BGH NJW 1993, S. 1273; NJW 2002, S. 3634, 3635;
BayObLG, NJW-RR 2000, S. 589; Senat, aaO.; Zöller/Greger, aaO., § 281 Rdn. 17, 17 a
m.w.Nw.; Baumbach/Hartmann, aaO., § 281 Rdn. 39 ff. m.w.Nw.; Thomas/Putzo/Reichold,
aaO., § 281 Rdn. 12). So liegt es hier aber nicht. Der Anspruch des Beklagten auf
Gewährung rechtlichen Gehörs ist beachtet worden. Die Verweisungsentscheidung des
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Gewährung rechtlichen Gehörs ist beachtet worden. Die Verweisungsentscheidung des
Amtsgerichts Nauen erweist sich auch in der Sache selbst nicht schon als geradezu
objektiv willkürlich.
Im Interesse an einer baldigen Klärung der Gerichtszuständigkeit und der Vermeidung
von wechselseitigen (Rück-)Verweisungen zwischen Gerichten sind an die Annahme einer
objektiven Willkür im Allgemeinen strenge Anforderungen zu stellen. Der Gesetzgeber
hat sich für die grundsätzliche Bindungswirkung und Unanfechtbarkeit von - auch:
fehlerhaften - Verweisungsbeschlüssen entschieden (§ 281 Abs. 2 Satz 2 und 4 ZPO).
Deshalb kann objektive „Willkür“ nur unter bestimmten - engen - Voraussetzungen
bejaht werden, und zwar dann, wenn die verfassungsrechtliche Garantie des
gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) eine Durchbrechung der
Bindungswirkung erfordert (s. Senat, NJW 2004, S. 780). Einfache Rechtsfehler genügen
daher für die Annahme der Willkür nicht (BGH NJW-RR 1992, S. 902, 903; NJW 1993, S.
1273 und S. 2810; NJW-RR 1994, S. 126; NJW 2003, S. 3201; BayObLGZ 1991, S. 387,
389; BayObLG, NJW-RR 2000, S. 589; NJW-RR 2001, S. 646, 647; Senat, ebd.;
Zöller/Greger, aaO., § 281 Rdn. 17; Zöller/Vollkommer, aaO., § 36 Rdn. 28;
Musielak/Foerste, ZPO, 4. Aufl. 2005, § 281 Rdn. 17). Dies gilt erst recht für im Ergebnis -
noch - vertretbare Entscheidungen. Die Abweichung von einer (bisher) „herrschenden
Meinung“ oder einer „(fast) einhelligen Ansicht“ rechtfertigt für sich allein die Annahme
von objektiver Willkür nicht; entscheidend ist, ob die Verweisung im Ergebnis noch
„vertretbar“ ist (vgl. etwa BGH MDR 2002, S. 1450, 1451; NJW-RR 2002, S. 1498 f.; NJW
2003, S. 3201 f.; BayObLG NJW 2003, S. 1196, 1197; Senat, ebd.; Baumbach/Hartmann,
aaO., § 281 Rdn. 39 m.w.Nw.; vgl. auch OLG Hamburg, MDR 2002, S. 1210 f.;
Zöller/Greger, aaO., § 281 Rdn. 17; Musielak/Foerste, aaO., § 281 Rdn. 17;
Thomas/Putzo/Reichold, aaO., § 281 Rdn. 12). So liegt es hier.
Die Annahme des Amtsgerichts Nauen, wonach die Gerichtsstandsvereinbarung der
Parteien (§ 38 Abs. 3 Nr. 1 ZPO) seine örtliche Zuständigkeit in Wegfall gebracht und -
auf entsprechenden Antrag der Klägerin - die Verweisung des Rechtsstreits an das als
zuständig vereinbarte Amtsgericht Hamburg-Harburg erzwungen habe, erweist sich als -
noch - vertretbar.
Nach überwiegender - auch vom Senat geteilter - Ansicht ist eine
Gerichtsstandsvereinbarung, die erst nach Eintritt der Rechtshängigkeit geschlossen wird
und einen Rechtsstreit betrifft, der bereits vor einem zuständigen Gericht anhängig ist,
im Hinblick auf § 261 Abs. 3 Nr. 2 ZPO allerdings nicht geeignet, dem bereits befassten
Gericht die Zuständigkeit zu nehmen, sodass die Verweisung des Rechtsstreits an das
andere, als zuständig vereinbarte Gericht in diesen Fällen nicht in Betracht kommt (s.
etwa BGH NJW 1963, S. 585, 586; NJW-RR 1994, S. 126 f.; BayObLGZ 2003, S. 187, 189
f.; BayObLG, Rechtspfleger 2002, S. 629, 630; OLG München, OLGZ 1965, S. 187, 190;
OLG Düsseldorf, OLGZ 1976, S. 475, 476 f.; Zöller/ Vollkommer, aaO., § 38 Rdn. 12;
Zöller/Greger, aaO., § 261 Rdn. 12; Baumbach/Hartmann, aaO., § 261 Rdn. 28;
Thomas/Putzo, aaO., § 38 Rdn. 18; Thomas/Putzo/Reichold, aaO., § 261 Rdn. 16;
Musielak/Heinrich, aaO., § 38 Rdn. 6; Musielak/Foerste, aaO., § 261 Rdn. 14;
Münch.Komm.-Patzina, ZPO, 2. Aufl. 2000, § 38 Rdn. 35). Diese Ansicht ist jedoch nicht
unumstritten. Unter Hinweis auf den Stellenwert der (gemeinschaftlichen)
Dispositionsbefugnis der Parteien im Zivilprozess und auf den Wortlaut von § 261 Abs. 3
Nr. 2 ZPO („Veränderung der sie begründenden Umstände“ vs. „neue Umstände“)
neigen einige Stimmen in der Rechtsprechung und im Schrifttum zu der Meinung, dass
eine Parteivereinbarung nach § 38 ZPO dem bereits befassten - an sich zuständigen -
Gericht die Zuständigkeit nehmen und es verpflichten kann, den Rechtsstreit auf Antrag
der Klägerseite an das als zuständig vereinbarte Gericht zu verweisen (s. LG Waldshut-
Tiengen, MDR 1985, S. 941; Münch.Komm.-Lüke, ZPO, 2. Aufl. 2002, § 261 Rdn. 93; s.
auch OLG Oldenburg, MDR 1962, S. 60 f.; OLG Düsseldorf, NJW 1961, S. 2355, 2356; LG
Flensburg, SchlHA 1979, S. 38, 39). Vor diesem Hintergrund beruht die hier streitige
Verweisung des Rechtsstreits an das Amtsgericht Hamburg-Harburg auf einer
vertretbaren Rechtsauffassung und erscheint somit auch nicht schon geradezu willkürlich
(so auch OLG Düsseldorf, OLGZ 1976, S. 475, 476 f.).
Soweit das Bayerische Oberste Landesgericht in der Entscheidung BayObLG
Rechtspfleger 2002, S. 629, 630, angedeutet hat, dass es die Verweisung an das als
zuständig vereinbarte Gericht in solchen Fällen für willkürlich und daher unwirksam
ansehe (so auch Zöller/ Vollkommer, aaO., § 38 Rdn. 12; Musielak/Heinrich, aaO., § 38
Rdn. 6), handelt es sich nicht um eine diese Entscheidung tragende Ansicht, sondern um
ein obiter dictum, da im dortigen Fall keine Gerichtsstandsvereinbarung vorlag, sondern
nur ein Verweisungsantrag des Klägers und ein dementsprechender „Abgabeantrag“
des Beklagten. Daher ist eine Vorlage an den Bundesgerichtshof nach § 36 Abs. 3 ZPO
nicht veranlasst.
11 4. Sonach verbleibt es bei der Zuständigkeit des angewiesenen Amtsgerichts Hamburg-
Harburg.
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