Urteil des OLG Brandenburg vom 15.03.2017

OLG Brandenburg: beweiswürdigung, gemeinnützige arbeit, versammlung, glaubwürdigkeit, aufzählung, beweismittel, quelle, bestandteil, form, aufzug

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Gericht:
Brandenburgisches
Oberlandesgericht 1.
Strafsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
1 Ss 74/09
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 17a Abs 2 Nr 1 VersammlG, §
27 Abs 2 Nr 2 VersammlG, Art 5
GG, Art 8 GG, § 267 Abs 1 S 3
StPO
Versammlungsrecht: Verstoß gegen Vermummungsverbot;
Beweiswürdigung einer Videoaufzeichnung
Leitsatz
Vermummung von "Gegendemonstranten" zur Vermeidung eines späteren Wiedererkennens
durch "gewaltbereite Demonstranten".
Fehlerhafte Beweiswürdigung einer Videoaufzeichnung- § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO-
Die Schilderung des Aussagegehalts der Videoaufzeichnung darf auch bei einer Bezugnahme
nicht ganz entfallen.
Tenor
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Amtsgerichts Potsdam –
Jugendrichter – vom 20. Februar 2009 mit den zugrunde liegenden Feststellungen
aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der
Revision, an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Potsdam – Jugendrichter –
zurückverwiesen.
Gründe
I.
Das Amtsgericht Potsdam – Jugendrichter – hat den bisher strafrechtlich nicht in
Erscheinung getretenen Angeklagten mit Urteil vom 20. Februar 2009 wegen Verstoßes
gegen das Vermummungsverbot (§§ 27 Abs. 2 Nr. 2, 17a Abs. 2 Nr. 1 VersammlungsG)
verwarnt und ihm die Auflage erteilt, innerhalb von sechs Monaten ab Rechtskraft der
Entscheidung 30 Stunden gemeinnützige Arbeit nach näherer Weisung der
Jugendgerichtshilfe Potsdam-Stadt zu leisten. Den Urteilsfeststellungen zu Folge habe
der Angeklagte am 1. Dezember 2007 in Berlin-Rudow einer Gruppe
angehört und schließlich einer
ein rotes Transparent mit dem Text
ausgerollt. Der Angeklagte und sein Begleiter hätten sich friedlich verhalten. Der
Angeklagte habe „einen dunklen Schlauchschal“ über Mund und Nase sowie eine dunkle
Kapuze derart in die Stirn gezogen, dass nur noch ein schmaler Streifen seines
Gesichtes in Höhe seiner Augen erkennbar gewesen sei.
Mit Anwaltschriftsatz vom 20. Februar 2009, eingegangen bei Gericht am selben Tag, hat
der Angeklagte Rechtsmittel eingelegt. Nach förmlicher Zustellung der Urteilsgründe am
14. April 2009 hat sich die Angeklagte mit der bei Gericht am 7. Mai 2009
eingegangenen anwaltlichen Begründungsschrift auf das Rechtsmittel der Revision
festgelegt. Die Angeklagte rügt die Verletzung formellen und materiellen Rechts, ist vor
allem der Auffassung, dass §§ 27 Abs. 2 Nr. 1, 17a Abs. 2 Nr. 1 VersammlungsG gegen
Art. 5 GG und Art. 8 GG verstoßen und erstrebt eine Freispruch.
II.
1.
§§ 341, 344, 345 StPO frist- und formgerecht bei Gericht angebracht worden.
2.
angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an eine andere
Abteilung des Amtsgerichts Potsdam.
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Auf die vom Revisionsführer erhobenen Verfahrensrügen braucht der Senat nicht
einzugehen, da schon die Sachrüge erfolgreich ist und zur Aufhebung des Schuldspruchs
führt.
a)
Verurteilung wegen Verstoßes gegen das Vermummungsverbot nicht.
Den Urteilsgründen kann schon nicht entnommen werden, ob der Angeklagte überhaupt
an einer Versammlung teilgenommen hat. Nach der Definition des
Bundesverfassungsgerichts ist eine Versammlung im Sinne des Art. 8 Abs. 1 GG, und
damit auch des § 1 Abs. 1 VersammlungsG, eine örtliche Zusammenkunft mehrerer
Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung
gerichteten Erörterung oder Kundgebung (BVerfGE 104, 92, 104 m.w.N.). Hinsichtlich der
notwendigen Teilnehmerzahl hat die frühere Rechtsprechung „eine größere Anzahl“ von
Personen verlangt (vgl. RGSt 21, 71; RGSt 46, 31), während heute „mindestens drei
Personen“ eine Versammlung bilden (vgl. BayObLGSt 1965, 157; BayObLGSt 1979, 11;
OLG Düsseldorf NStZ 1981, 226; OLG Hamburg MDR 1965, 319; OLG Köln MDR 1980,
1040; AG Tiergarten JR 1979, 207; BGH GA 1981, 521; BVerfGE 104, 92; von Münch-
Kunig, GG 5. Aufl. 2000, Art. 8 GG, Rdnr. 13; Hoffmann-Riem, Alternativkommentar GG,
2. Aufl. 1989, Art. 8 Rdnr. 12; BK-Benda, GG, Loseblatt, Stand 5/95, Art. 8 Rdnr. 21).
Soweit im amtsgerichtlichen Urteil festgestellt ist, dass der Angeklagte
gehörte (Bl. 2 UA), besteht die Möglichkeit, dass
die Gruppe, der der Angeklagte angehörte nur zwei Personen umfasste. Damit würde es
sich nicht um eine Versammlung im Sinne des Versammlungsgesetzes handeln, mithin
wäre dessen Anwendungsbereich nicht eröffnet.
Den Urteilsgründen kann auch nicht entnommen werden, ob es zu einem
Zusammentreffen der mit der
gekommen ist. Ausweislich der Urteilsgründe war der
Angeklagte 60 bis 100 Meter entfernt von dem und
rollte das Transparent der Demonstration auf.
Diesen Ausführungen kann – ungeachtet der Frage der notwendigen Anzahl der
Teilnehmer der Demonstration – nicht entnommen werden, ob der Angeklagte Teil einer
Versammlung war. Auch in soweit erweisen sich die Urteilsfeststellungen als lückenhaft.
b)
angefochtenen Entscheidung.
Die Würdigung der erhobenen Beweise gehört grundsätzlich zu den ureigenen
tatrichterlichen Aufgaben, die in weiten Bereichen der revisionsrechtlichen Überprüfung
entzogen ist. Dem Tatrichter bleibt es vorbehalten, sich eine Überzeugung von der
Schuld oder der nicht vorhandenen Schuld des Angeklagten zu verschaffen. Daher ist
das Revisionsgericht grundsätzlich an die Beweiswürdigung des Tatrichters gebunden.
Jedoch sind die Beweismittel und deren Würdigung in das schriftliche Urteil
aufzunehmen, weil anderenfalls jede Überprüfung der Richtigkeit des Schuldspruchs
durch das Revisionsgericht ausgeschlossen wäre. Die höchstrichterliche Rechtsprechung
verlangt vom Tatrichter regelmäßig eine Beweiswürdigung, in der die Ergebnisse der
Beweisaufnahme – als Grundlage der tatsächlichen Feststellungen – darzustellen und
erschöpfend zu würdigen sind. In welchem Umfang dies geboten ist, richtet sich nach der
jeweiligen Beweislage, nicht zuletzt nach der Bedeutung, die der jeweiligen Beweisfrage
unter Berücksichtigung des Tatvorwurfs und des Verteidigungsvorbringens für die
Wahrheitsfindung zukommt (statt vieler: BGH DRiZ 1994, 59 f). Der Nachprüfung der
tatrichterlichen Beweiswürdigung obliegt dem mit der Sachrüge befassten
Revisionsgericht aber nur unter dem Gesichtspunkt, ob sie rechtliche Fehler aufweist.
Solche Fehler können darin begründet sein, dass die Beweiswürdigung unklar,
unvollständig bzw. lückenhaft oder widersprüchlich ist, ferner gegen Denk- oder
Erfahrungssätze verstößt (vgl. BGH NStZ 1984, 17 m. w. N.). Im vorliegenden Fall
erweist sich die Beweiswürdigung als lückenhaft.
aa)
Zeugen, dem sich der Satz anschließt:
(Bl. 3 UA). Dies ist vor dem Hintergrund, dass der
Angeklagte sich zur Sache nicht eingelassen hat unzureichend und genügt nicht den an
§ 267 StPO zu stellenden Anforderungen. Es ist für das Revisionsgericht nicht
nachvollziehbar, aufgrund welcher konkreten Aussagen der Tatrichter den Angeklagten
der ihm vorgeworfenen Tat für überführt erachtet. Erforderlich wäre vielmehr eine kurze
prismenhafte Darstellung der Inhalte der Aussagen mit anschließenden Ausführungen
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prismenhafte Darstellung der Inhalte der Aussagen mit anschließenden Ausführungen
zur Glaubhaftigkeit der Aussagen und Glaubwürdigkeit der Zeugen.
bb)
nicht nachvollziehbar; mit der Bezugnahme liegt überdies ein Verstoß gegen § 267 Abs.
1 Satz 3 StPO vor. Hierzu heißt es in den Urteilsgründen:
Diesen Ausführungen lässt sich nicht entnehmen, welche Wahrnehmungen der Tatrichter
bei Inaugenscheinnahme der Videoaufzeichnungen gemacht hat. Ein Verstoß gegen §
267 Abs. 1 Satz 3 StPO, der auch die Videoaufzeichnung erfasst (OLG Zweibrücken VRS
102, 102), liegt insoweit vor, als nach dieser Norm zum einen nur wegen Einzelheiten
eine Bezugnahme erlaubt ist, zum anderen nur auf Abbildungen (hier:
Videoaufzeichnungen) verwiesen werden darf, die Bestandteil der Akte sind. Entgegen
dem Wortlaut der Urteilsgründe wird hier faktisch auf die gesamte Videoaufzeichnung
verwiesen. Die Schilderung des Aussagegehalts der Videoaufzeichnung darf auch bei
einer Bezugnahme nicht ganz entfallen; eine Beschreibung des Wesentlichsten in
knapper Form ist erforderlich (OLG Düsseldorf VRS 74, 449, 451; OLG Düsseldorf JMinBl
NW 1997, 263), woran es hier jedoch fehlt.
3.
überwiegenden Auffassung in Rechtsprechung und Literatur zu folgen, wonach §§ 27
Abs. 2 Nr. 2, 17a Abs. 2 Nr. 1 VersammlungsG nicht gegen Art. 5, Art. 8 GG verstößt
(vgl. Maunz/Dürig-Depenheuer, Grundgesetz, Loseblatt, Stand 11/2006, Art. 8, Rdnr.
148; Friauf/Höfling-Geis, Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Loseblatt, Stand
8/2006, Art. 8, Rdnr. 121; KG NStZ-RR 1997, 185; KG, Urteil vom 7. Oktober 2008, 1 Ss
486/07, zit. nach juris).
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