Urteil des LSG Thüringen vom 19.12.2005

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Thüringer Landessozialgericht
Urteil vom 19.12.2005 (rechtskräftig)
Sozialgericht Altenburg S 14 KN 1713/01
Thüringer Landessozialgericht L 6 KN 390/02 KR
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Altenburg vom 18. April 2002 wird
zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Erstattung von Fahrtkosten im Zeitraum vom 4. April bis 23. Mai 2001 zu einer
stationären Behandlung im Rahmen einer Arzneimittelstudie unter Anwendung des in Deutschland zu dieser Zeit nicht
zugelassenen Arzneimittels Glivec® (Hersteller Novartis Pharma).
Der in G. wohnhafte Kläger leidet seit mindestens 1998 u.a. an einem hepatisch und abdominell metastasierten
gastrointestinalen Stromatumor (GIST). Ausweislich des Arztbriefes des Universitätsklinikums C., R.-Klinik am M.-
Zentrum für Molekulare Medizin (Prof. Dr. D., Dr. R., Dr. P.), B., vom 30. März 2001 befand er sich seit dem 27. März
2001 in dortiger stationärer Behandlung und erklärte sich zur Teilnahme an der EORTC (European Organisation for
Research and Treatment of Cancer) Studie Nr. 62005 bereit. Hierbei handelt es sich um eine internationale Phase III
randomisierte multizentrische Studie zur Bestimmung der Relation zwischen Dosis und klinischer Aktivität
(Dosisfindungsstudie) bei GIST-Patienten, die mit dem Enzymhemmer STI-571 (Imatinib, vom Hersteller Novartis
Pharma unter der Handelsbezeichnung Glivec® vertrieben) in niedriger Dosis (Arm A: 400 mg pro Tag) und - wie der
Kläger - in hoher Dosis (Arm B: zweimal 400 mg pro Tag) behandelt werden bis die Erkrankung progredient ist oder
davon auszugehen ist, dass der Patient von der Therapie nicht mehr profitiert. Die Abgabe des oral zu
verabreichenden Medikaments erfolgte kostenlos.
Da die am 29. März 2001 eingeleitete Therapie innerhalb der ersten zwei Monate eine wöchentliche Blutentnahme in
der R.-Klinik erforderte, reiste der Kläger am 4., 11., 18., 25. April sowie am 2., 9., 16. und 23. Mai 2001 jeweils mit
dem PKW von seinem Wohnort an, wobei er nach eigenen Angaben für die Hin- und Rückfahrt jeweils insgesamt 800
km zurücklegte.
Den unter dem 18. April 2001 durch Dr. P. gestellten Antrag auf Fahrtkostenübernahme lehnte die Beklagte mit
Bescheid vom 10. Mai 2001 mit der Begründung ab, dass es sich bei Teilnahme an einer medizinischen Studie nicht
um eine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung handele. Der Widerspruch blieb erfolglos
(Widerspruchsbescheid vom 16. August 2001).
Das Sozialgericht Altenburg hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 18. April 2002 u.a. mit der Begründung
abgewiesen, ein Anspruch auf Fahrtkosten sei nicht gegeben, weil es sich bei der medizinische Studie nicht um eine
Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung handele.
Mit seiner Berufung begehrt der Kläger für acht Hin- und Rückfahrten zu 800 Kilometern bei 0,16 EUR/Kilometer einen
Gesamtbetrag von 1.024,00 EUR und trägt vor, das Medikament Glivec® sei seit Mai 2002 in Deutschland für die
Behandlung von GIST zugelassen. Er habe es noch bis April 2003 eingenommen. Hierbei habe die Beklagte die
außerhalb des Zeitraums vom 4. April bis 23. Mai 2001 entstandenen stationären Behandlungskosten (vierteljährliche
Kontrolluntersuchungen für zwei bis drei Tage) und die entsprechenden Fahrtkosten erstattet. Nach der
Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) sei zwar geklärt, dass die vertragsärztliche Verordnungsfähigkeit
eines Arzneimittels zu Lasten der Gesetzlichen Krankenversicherung im Rahmen der klinischen Prüfung ausscheide.
Dies gelte nicht für die Übernahme von entsprechenden Fahrkosten. Seine einzige Überlebenschance habe in der
Einnahme von STI-571 bestanden, dessen Wirksamkeit sich bereits aus Phase I- und Phase-II-Studien ergeben habe.
Die Phase-III-Studie sei als Heilversuch zu qualifizieren, welche den Gesundheitszustand des Klägers verbessert und
seine Lebenserwartung verlängert habe, so dass seine Situation mit jener der so genannten Off-Label-Use-
Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG, Urteil vom 19. März 2002 - Az.: B 1 KR 37/00 R) vergleichbar sei.
Insoweit und angesichts des Umstandes, dass die Beklagte die Kosten einschließlich der entsprechenden
Fahrtkosten zu den stationären Nachkontrollen und andere Krankenkassen ihren an den Studien beteiligten
Mitgliedern sämtliche Fahrtkosten erstattet hätten, sei eine Kostenerstattung durch die Beklagte angemessen.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Altenburg vom 18. April 2002 und den Bescheid der Beklagten vom 10. Mai
2001 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Juni 2001 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm
1.024,00 EUR zuzüglich 5 v.H. Zinsen über dem Basiszinssatz der Europäischen Zentralbank seit dem 11.
September 2001 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie bezieht sich auf die Gründe ihrer angefochtenen Entscheidung und des Gerichtsbescheids.
Ausweislich der vom Senat beigezogenen Fachinformation Glivec® 100mg (Stand: Juni 2002) des Herstellers
Novartis Pharma ist das Arzneimittel seit dem 7. November 2001 zugelassen (vgl. §§ 11a, 21 Abs. 1 des
Arzneimittelgesetzes (AMG) 1976) und u.a. zur Behandlung Kit-(CD 117)-positiver nicht resezierbarer und/oder
metastasierter maligner gastrointestinaler Stromatumoren (GIST) bei Erwachsenen angezeigt. Darüber hinaus ist nach
der Fachinformation Glivec® Filmtabletten (Stand: Juli 2005) zu 100 oder 400 mg Imatinib am 11. November 2003
eine entsprechende Zulassung mit einem übereinstimmenden Anwendungsbereich erteilt worden.
In Ergänzung des Tatbestandes wird auf den Inhalt der Prozess- und der beigezogenen Verwaltungsakte der
Beklagten Bezug genommen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
Entscheidungsgründe:
Das Gericht konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten ihr Einverständnis hierzu erklärt
haben (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Diese Einverständniserklärung ist immer möglich, auch
wenn die Vorinstanz durch Gerichtsbescheid entschieden hat (vgl. Senatsurteil vom 23. Februar 2004 – Az.: L 6 RA
849/03; Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Sozialgerichtsgesetz, 8. Auflage 2005, § 124 Rdnr. 3a m.w.N.).
Die statthafte und zulässige Berufung ist unbegründet.
Der Bescheid der Beklagten vom 10. Mai 2001 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Juni 2001 ist
rechtmäßig, weil der Kläger keinen Anspruch gegen die Beklagte auf Erstattung seiner mit der Teilnahme an der
EORTC Studie Nr. 62005 vom 4. April bis 23. Mai 2001 aufgewandten Fahrtkosten hat.
Gemäß § 60 Abs. 1 Satz 1 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V) übernimmt die Krankenkasse die Kosten
für Fahrten, wenn sie im Zusammenhang mit einer Leistung der Krankenkasse notwendig sind.
Entgegen der Ansicht des Klägers gehören die am 4., 11., 18., 25. April sowie am 2., 9., 16. und 23. Mai 2001
aufgenommenen stationären Behandlungen nicht zu den notwendigen Leistungen der Beklagen. Zwar haben
Versicherte gemäß § 27 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 5 SGB V grundsätzlich einen (Sachleistungs-)Anspruch auf
Krankenhausbehandlung. Dies gilt nach der Rechtsprechung des BSG (vgl. BSGE 93, S. 137), der der Senat folgt,
jedoch nicht, wenn sie - wie vorliegend - im Rahmen einer klinischen Studie zur Erprobung eines
zulassungsbedürftigen aber (zumindest) zum Zeitpunkt der Durchführung dieser Studie (noch) nicht nach § 21 Abs. 1
AMG zugelassenen Arzneimittels (vgl. § 2 Abs. 1 AMG) erfolgt. Dies trifft auch für Studien der Phase III zu, in der -
wie hier - in einer erweiterten klinischen Untersuchung das Arzneimittel an einer großen Zahl von Patienten geprüft
und die Wirksamkeit und Verträglichkeit soweit abgeklärt wird, dass ein Antrag auf Zulassung des Arzneimittel
begründet erscheint (vgl. BSG, a.a.O.). Insoweit ist es unerheblich, dass aufgrund der guten Studienergebnisse
bereits am 7. November 2001 eine Zulassung nach dem AMG erfolgte.
Das BSG verweist im Übrigen unter Hinweis auf die Bestimmungen des AMG (§ 47 Abs. 1) und des SGB V (§ 63
Abs. 4) und die Amortisationsmöglichkeit der Kosten von Arzneimittelforschungen darauf, dass die Studien zur
Wirksamkeit und Dosierung von Glivec® nicht zu den klinischen Studien nach § 137c Abs. 1 Satz 2, 2. Halbsatz
SGB V zählen und daher nicht von der gesetzlichen Krankenversicherung zu finanzieren sind (vgl. BSG, a.a.O.).
Die Rechtsprechung des BSG zu dem so genannten Off-Label-Use - dem Gebrauch eines bereits zugelassenen
Arzneimittels in einem Anwendungsgebiet, das sich nicht auf die Zulassung erstreckt (grundlegend: Urteil vom 19.
März 2002 – Az.: B 1 KR 37/00 R in SozR 3-2500 § 31 Nr. 8 = BSGE 89, S. 184 = NJW 2003, S. 460) - ist im
vorliegenden Fall nicht einschlägig. Zwar hat das BSG (a.a.O.) den Off-Label-Use zu Lasten der Krankenversicherung
im bestimmten Ausnahmefällen erlaubt (Kriterien: lebensbedrohliche oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig
beeinträchtigende Erkrankung, keine andere Therapie verfügbar, objektiv begründete Aussicht auf einen
Behandlungserfolg,), doch misst es den Arzneimittelversuchen mit einem bisher nicht zugelassenen Mittel eine
andere rechtliche Qualität zu. So ist die Anwendung eines nicht zugelassen Arzneimittels zu Lasten der
Krankenversicherung ausgeschlossen, weil der Einsatz des Präparats (außerhalb von genehmigten Studien) auf
verbotswidrigem Handeln aufbaut (vgl. BSG, a.a.O., m.w.N.) und dabei (mangels effizienter Qualitätskontrolle) in Kauf
genommen wird, dass die Behandlung wirkungslos ist oder dem Patienten schadet (vgl. BSGE 93, S. 137).
Unerheblich ist, dass nach dem Vortrag des Klägers ggf. andere Krankenversicherungen die Behandlungs- und
Fahrtkosten für ihre an der EORTC Studie Nr. 62005 teilnehmenden Mitglieder erstattet haben, denn - wie dargelegt -
besteht hierauf nach der Rechtsprechung des BSG kein Rechtsanspruch. Dass die Abgabe des Arzneimittels im
Rahmen der Studie unentgeltlich erfolgte und die Beklagte sich somit 2.900,00 EUR monatlich "ersparte", kann
ebenfalls keine andere Beurteilung rechtfertigen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.