Urteil des LSG Schleswig-Holstein vom 08.05.2003

LSG Shs: unfallversicherung, rechtsstaatsprinzip, belastung, steigerung, rechtsgrundlage, satzung, grundrecht, zahl, beitragssatz, beitragspflicht

Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht
Urteil vom 08.05.2003 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Lübeck S 15 U 195/01
Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht L 5 U 116/02
Die Berufung der Klägerinnen gegen das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 12. Juni 2002 wird zurückgewiesen.
Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig sind Beitragsforderungen der Beklagten für das Jahr 2000.
Die Klägerinnen zu 1) bis 4) sind Bauunternehmen, für die die Beklagte als Unfallversicherungsträger zuständig ist.
Mit Bescheiden vom 24. April 2001 in der Fassung der Wider-spruchsbescheide vom 7. August 2001 (Klägerin zu 1)
bzw. 17. Juli 2001 und - berichtigt - 20. August 2001 (Klägerinnen zu 2) bis 4) setzte die Beklagte u. a. Beiträge für
das Jahr 2000 fest. Sie führte aus, dass die Beiträge gemäß § 152 Abs. 1 Siebentes Buch Sozialgesetzbuch (SGB
VII) nach Ablauf des Kalenderjahres im Wege einer Umlage festgesetzt würden. Diese müsse den Bedarf des
abgelaufenen Geschäftsjahres decken. Die Beiträge seien gemäß § 21 Viertes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV) so
zu bemessen, dass die gesetzlich vorgeschriebenen und zugelassenen Ausgaben des Versicherungsträgers erfüllt
werden könnten. Divisoren der Umlagerechnung seien nach § 153 SGB VII die Arbeitsentgelte der Versicherten und
die Gefahrklassen (Beitragseinheiten). Das Verfahren für das Umlagejahr 2000 entspreche den gesetzlichen
Vorschriften. Mit Beschluss vom 29. März 2001 habe der Vorstand den Beitragsfuß mit 6,90 DM pro 1.000,00 DM
Lohnsumme in der Gefahrklasse 1,0 festgesetzt (0,69 DM pro 100,00 DM Entgelt); durch Zuführung von
Betriebsmitteln habe dieser Wert um 1,32 Prozent unter dem rechnerischen Ergebnis der Umlage gelegen.
In einem den Beitragsbescheiden beigefügten Informationsblatt erläuterte die Beklagte ergänzend, dass eine
Erhöhung des Beitragsfußes im Vergleich zum Vorjahr um 2,99 Prozent unumgänglich gewesen sei, obwohl
zusätzlich ca. 2,5 Millionen DM aus dem Vermögen der BG (Betriebsmittel) zur Stützung entnommen worden seien.
Der Beitragssatz erhöhte sich damit in Gefahrklasse 1,0 um 0,20 DM pro 1.000,00 DM nachweispflichtigen Entgelts.
Die Beklagte setzte folgende Gesamtbeiträge fest:
Klägerin zu 1): 14.503,99 DM, Klägerin zu 2): 83.967,14 DM, Klägerin zu 3): 44.107,26 DM, Klägerin zu 4): 129.941,44
DM.
Wegen der Berechnung im Einzelnen wird auf den Inhalt der ergangenen Bescheide Bezug genommen. Die
verschiedenen zu Grunde gelegten Gefahrklassen entnahm die Beklagte den Veranlagungsbescheiden vom 20.
August 1999, gegen die die Klägerinnen keine Rechtsbehelfe eingelegt hatten.
Für die Klägerin zu 1) erging nach einer Lohnnachweisprüfung vom 18. Januar 2002 der Änderungsbescheid vom 30.
April 2002, der die Beitragsforderung um 194,01 DM reduzierte.
Die Klägerinnen haben am 16. August 2001 (Klägerin zu 1)) bzw. 20. August 2001 (Klägerinnen zu 2) bis 4)) bei dem
Sozialgericht Lübeck gegen die Beitragsbescheide jeweils gesondert Klage erhoben. Das Sozialgericht hat die
Verfahren mit Beschluss vom 30. November 2001 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden.
Zur Begründung ihrer Klagen haben die Klägerinnen geltend gemacht: Die Rechtsgrundlagen des SGB VII für die
Erhebung der Beiträge durch die Beklagte als Selbstverwaltungskörperschaft seien verfassungswidrig; die Beiträge für
die gesetzliche Unfallversicherung seien im Übrigen zur Höhe nicht dem Grundgesetz (GG) entsprechend festgesetzt
worden. Die Beitragspflicht widerspreche in ihrer jetzigen Ausgestaltung der Eigentumsgarantie aus Art. 14 GG.
Dieses Grundrecht schütze auch den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb. Die Rechtsverletzung liege hier
nicht in der Mitgliedschaft und auch nicht in der Beitragserhebung als solcher. Vielmehr beruhe sie darauf, dass ein
den Gewerbebetrieb in seiner Existenz bedrohender Beitragssatz erhoben werde. Die Beitragszahlungen hätten ein
außerordentliches, nicht mehr vertretbares Ausmaß angenommen. Dem könne nicht entgegengehalten werden, dass
die Beitragserhöhung wegen des Aufbrauchens von Rücklagen moderat geblieben sei. Zum einen seien auch diese
Rücklagen ausschließlich arbeitgeberfinanziert. Zum anderen sei nach Aufbrauchen der Rücklagen mit weiter
steigenden Beiträgen zu rechnen.
Weiterhin liege ein Verstoß gegen Art. 12 GG vor. Die Höhe der Beitragspflicht verstoße gegen die Berufsfreiheit.
Zwar sei der mit der Beitragserhebung verbundene Eingriff dem Grunde nach wegen der mit der gesetzlichen
Unfallversicherung verbundenen Ziele gerechtfertigt; die derzeit erhobenen Beiträge stellten jedoch der Höhe nach
eine unverhältnismäßige Belastung dar. Hierdurch würden die Bauunternehmer als Arbeitgeber so schwer betroffen,
dass für sie der Einsatz weiterer Beschäftigter nicht mehr rentabel sei. Im Übrigen sei die Wettbewerbsfähigkeit bei zu
hohen Beiträgen gefährdet. Insoweit sei auf das erhebliche Personalzusatzkostengefälle gegenüber ausländischen,
jedoch im Inland tätigen Konkurrenzunternehmen hinzuweisen.
Schließlich liege ein Verstoß gegen die Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG vor. Das SGB VII und die
Reichsversicherungsordnung - RVO - griffen in die genannten Grundrechte in einer Weise ein, die
verfassungsrechtlichen Schranken überschreite. Insbesondere sei in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen,
dass das SGB VII den Selbstverwaltungskörperschaften ein weit reichendes Rechtset-zungsermessen überlasse.
Dies widerspreche der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zur so genannten
Wesentlichkeitstheorie. Die Grenzen der Wesentlichkeit, also dessen, was der Gesetzgeber regeln müsse, würden
bestimmt durch die Intensität des Eingriffs. Diese hänge nahezu ausschließlich von der Höhe der zu zahlenden
Summe ab. Die Belastung der Betriebe sei in den letzten Jahren stetig gestiegen. Nach Ermittlungen des
Baugewerbeverbandes Schleswig-Holstein habe der Zuschlagssatz für lohngebundene Kosten für 2001 81,47 Prozent
betragen. Für 2002 habe dieser Wert sich auf 82,15 Prozent erhöht. Die Unfallversicherung mache dabei für 2001
einen Anteil von 5,15 Prozent aus. Zu berücksichtigen sei in diesem Zusammenhang auch die Festlegung der
Gefahrenklassen durch die Beklagte. Nach derzeitiger Praxis werde der Gefahrtarif pauschaliert eingesetzt, ohne dass
die Möglichkeit bestehe, die besonderen, wirtschaftlich nicht mehr tragbaren Belastungen einzelner
Mitgliedsunternehmen zu berücksichtigen. Dies belege, dass inso-weit der Gesetzgeber gefordert gewesen wäre,
diesen Rahmen ab-zustecken. Es dürfe nicht der Selbstverwaltungskörperschaft überlassen bleiben, diesen
verfassungsrechtlich relevanten Bereich selbst zu regeln. Ein ausreichender Grundrechtsschutz gebiete in Fällen wie
dem vorliegenden eine Verfassungskonkretisierung in dem Sinne, dass ein qualifiziert demokratisch legitimiertes
parlamentarisches Gesetz für eine solche Bestimmung erforderlich sei. Hieran fehle es vorliegend.
Wegen der weiteren Einzelheiten der Klagebegründung wird auf den Inhalt des Schriftsatzes vom 18. März 2002
Bezug genommen.
Ergänzend haben die Klägerinnen sich auf zur Akte gereichte Publikationen zur Ermittlung der lohngebundenen und
lohnbezogenen Kosten im Bauhauptgewerbe und die weiteren Anlagen zum Schriftsatz vom 18. März 2002 bezogen.
Die Klägerinnen haben beantragt,
die Bescheide der Beklagten vom 24. April 2001 in der Fassung der Widerspruchsbescheide vom 17. Juli 2001 bzw.
7. August 2001 und vom 20. August 2001 aufzuheben, hilfsweise das Verfahren gemäß Arti-kel 100 GG auszusetzen
und dem Bundesverfassungsgericht vorzulegen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klagen abzuweisen.
Sie hat den Inhalt der angefochtenen Bescheide weiter vertieft und ergänzend ausgeführt, dass die Argumentation der
Klägerinnen im Wesentlichen auf eine Verfassungswidrigkeit von §§ 157 und 85 Abs. 2 Satz 2 SGB VII hinausliefe.
Die im vorliegenden Verfahren allein angefochtenen Beitragsbescheide würden durch diese Vorschriften indessen
nicht berührt. Soweit es um die Festsetzung von Gefahrklassen und die jeweilige Gefahrklassenzuordnung gehe, sei
darauf hinzuweisen, dass dies nicht Gegenstand des Rechtsstreits sei. Maßgebend seien insoweit die bestandskräftig
gewordenen Veranlagungsbescheide vom 20. August 1999. Soweit für die Beitragshöhe eine Obergrenze des
Jahresar-beitsverdienstes maßgeblich sei, hätten die Klägerinnen nicht vorgetragen, dass hier der gesetzliche
Rahmen von § 85 Abs. 2 SGB VII überschritten worden sei.
Das Sozialgericht hat die Klagen mit Urteil vom 12. Juni 2002 abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen
ausgeführt: Die Klagen seien zulässig, aber nicht begründet. Die angefochtenen Bescheide seien rechtmäßig. Ihre
Rechtsgrundlage seien die §§ 23 und 28 der Satzung der Beklagten vom 17. Dezember 1998 i. d. F. des Nachtrags
vom 21. Dezember 1999 i. V. m. §§ 168 Abs. 1, 167, 152 ff. SGB VII. Mit diesen Vorschriften stünden die Bescheide
in Einklang. Insbesondere sei nicht ersichtlich, dass die Beklagte hinsichtlich der Beitragshöhe von unzutreffenden
Berechnungsfaktoren ausgegangen sei. Auch in Bezug auf die Berechnung des Beitragsfußes seien Bedenken weder
dargetan noch sonst ersichtlich. Die Satzung sei auch ihrerseits rechtmäßig. Die angefochtenen Bescheide seien
auch unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten nicht zu beanstanden. Gleiches gelte für die ihnen zu Grunde
liegenden gesetzlichen Bestimmungen. Ein Verstoß gegen Art. 14 GG liege nicht vor, weil die Ei-gentumsgarantie
nicht vor Zwangsbeiträgen schütze, solange diese die Unternehmen nicht übermäßig belasteten und keine
erdrosselnde Wirkung hätten. Beides sei hier angesichts der Beitragssteigerung um lediglich ca. 2,9 Prozent nicht der
Fall. Auch ein Verstoß gegen Art. 12 GG liege nicht vor, weil in das Recht der Berufswahl nicht eingegriffen werde und
die mit den Beitragsforderungen verbundene Regelung der Berufsausübung durch sachgerechte und vernünftige
Gemeinwohlerwägungen (Schutz der Arbeitnehmer vor berufsbedingten Risiken durch Zwangsmitgliedschaft der
Unternehmen in der gesetzlichen Unfallversicherung) gerechtfertigt sei. In diesem Zusammenhang sei auch
unbedenklich, dass nur die Unternehmen in die Pflichtversicherung einbezogen seien. Dies folge aus dem Prinzip der
Solidarhaftung der in den Berufsgenossenschaften zusammengeschlossenen Unter-nehmen, die mit dem weit
gehenden Ausschluss von gegen sie gerichteten Schadensersatzansprüchen der Arbeitnehmer bei Arbeitsunfällen
verbunden sei. Hinsichtlich der Frage, wen er in die Pflichtversicherung einbeziehe, habe der Gesetzgeber auch einen
weiten Gestaltungsspielraum, der hier nicht verletzt sei. Es sei auch nicht zu beanstanden, dass auch Wegeunfälle in
die gesetzliche Unfallversicherung einbezogen seien, denn der Anknüpfungspunkt der Haftung enthalte
betriebsbezogene Komponenten. Im Übrigen sei die Abgrenzung zwischen Aufgaben der Sozialversicherung und
denen der gesamten Gesellschaft politischer Natur und allein vom Gesetzgeber zu treffen. Ein Verstoß gegen Art. 12
GG folge auch nicht aus den Regelungen zur Beitragshöhe. Die Berechnung des Beitragsfußes auf der Grundlage von
Umlagesoll und Beitragseinheiten sei unbedenklich; dies gelte auch für die Berechnung des Gesamtbedarfs unter
Einbeziehungen von Aufwendungen für Prävention. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit werde auch durch die
gesetzlich vorgesehene Einbeziehung so genannter Altlasten nicht verletzt. Schließlich liege auch kein Verstoß gegen
Art. 2 GG vor, weil dieses Grundrecht hier neben Art. 14 und Art. 12 GG gar nicht zur Anwendung komme. Zu der
hilfsweise beantragten Vorlage an das BVerfG bestehe kein Anlass. Soweit die Klägerinnen § 157 SGB VII
hinsichtlich der Bildung des Gefahrtarifs für verfassungswidrig hielten, komme es hierauf nicht an. Denn die von
dieser Vorschrift erfasste Bildung des Gefahrtarifs sei angesichts der bindend ge-wordenen Veranlagungsbescheide
vom 20. August 1999 nicht Gegenstand des Rechtsstreits; eine Überprüfung der Gefahrklassenzuordnung sei über die
Beitragsbescheide unzulässig. Unabhängig hiervon verstoße die Vorschrift insgesamt weder gegen das Demokratie-
noch gegen das Rechtsstaatsprinzip. Das Wesentlichkeitsprinzip sei nicht verletzt, weil der Gesetzgeber die we-
sentlichen Grundentscheidungen in dieser Norm selbst geregelt habe. Der dichte Regelungsgehalt der Vorschrift
gewährleiste die Verwirklichung der gesetzgeberischen Intention. Die Belastung der einzelnen Unternehmen werde
durch einen internen Risikoausgleich sowie durch einen Ausgleich zwischen den Berufsgenossenschaften gemindert.
Auf die Auffassung der Klägerinnen, dass § 85 Abs. 2 S. 2 SGB VII verfassungswidrig sei, komme es hier nicht an.
Gegen das ihnen am 27. August 2002 zugestellte Urteil richtet sich die am 6. September 2002 bei dem Schleswig-
Holsteinischen Landessozialgericht eingegangene Berufung der Klägerinnen.
Zur Begründung wiederholen und vertiefen sie im Wesentlichen ihr bisheriges Vorbringen und weisen darauf hin, dass
die Beiträge von 1995 bis 2000 von 0,49 DM auf 0,69 DM pro 100,00 DM Arbeitsentgelt angestiegen seien. Diese
Steigerung um mehr als 40 Prozent des Ausgangssatzes übertreffe die Steigerung der allgemeinen Lohnkosten und
der Inflationsrate bei weitem. Im Übrigen sei die Zahl der Arbeitsstunden in den letzten Jahren kontinuierlich
gesunken. Bei einem solchen Rückgang der Arbeitsstunden und der versicherten Arbeitnehmer müsse aber nach
allgemeinen Wahrscheinlichkeitsregeln auch die Unfallgefahr zurückgehen, so dass die Beitragssätze gleich bleiben
müssten. Ergänzend sei auf die schlechte wirtschaftliche Entwicklung und die hohen Belastungen, insbesondere mit
Lohnnebenkosten, im Baugewerbe hinzuweisen. Diese spiegele sich auch in der Zahl der Insolvenzen wider.
Zum Rechtlichen sind die Klägerinnen unter ausführlicher Darlegung im Einzelnen weiterhin der Auffassung, dass §
157 Abs. 1 bis 3 SGB VII, der die Festsetzung des Gefahrtarifes normiere und somit den angefochtenen
Beitragsbescheiden zu Grunde liege, verfassungswidrig sei, weil er dem Unfallversicherungsträger keine der
Wesentlichkeitstheorie des BVerfG genügenden Anweisungen für die Bildung der Gefahrklassen gebe. Hierin liege ein
Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip. Im Übrigen würden die Klägerinnen durch die sich ständig erhöhenden
Beiträge zur Unfallversicherung zusammen mit den sonstigen Lohnnebenkosten in ihren Rechten aus Art. 14 GG und
Art. 12 Abs. 1 GG verletzt, weil diese Belastungen zusammen die Erdrosselungsgrenze erreichten.
Wegen der Einzelheiten der Berufungsbegründung wird auf die Schriftsätze vom 30. Januar 2003 und vom 8. Mai
2003 (jeweils nebst Anlagen) Bezug genommen.
Die Klägerinnen beantragen,
das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 12. Juni 2002 und die Bescheide der Beklagten vom 24. April 2001 in der
Fassung der Widerspruchsbescheide vom 7. August 2001 (Klägerin zu 1) bzw. 17. Juli 2001 und 20. August 2001
(Klägerinnen zu 2) bis 4) sowie den Berichtigungsbescheid vom 30. April 2002 (Klägerin zu 1) aufzuheben, hilfsweise,
das Verfahren gemäß Art. 100 Abs. 1 GG auszusetzen und dem Bundesverfassungsgericht die Fragen vorzulegen, 1.
ob § 157 Abs. 1 SGB VII deshalb gegen das im Rechtsstaatsprinzip verankerte Wesentlichkeitsgebot verstößt, weil
der Unfallversicherungsträger den Gefahrtarif als autonomes Recht setzen darf, ohne dass er vom Gesetzgeber
ausreichende Vorgaben für die Bildung der Gefahrklassen erhalten hat, 2. ob die §§ 150, 152 Abs. 1 und 153 Abs. 1
SGB VII insoweit verfassungswidrig sind, als sie ohne die erforderliche Einschränkung den Berufsgenossenschaften
die ständige Erhöhung der Beiträge auch über das Maß hinaus ermöglichen, durch das in den Kern des Ertrags der
wirtschaftlichen Betätigung von Unternehmen eingegriffen wird.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie stützt das angefochtene Urteil.
Dem Senat haben die die angefochtenen Bescheide betreffenden Vorgänge der Beklagten und die Gerichtsakten
vorgelegen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes und des Vorbringens der Beteiligten wird
hierauf Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerinnen ist zulässig, aber nicht begründet. Das Sozialgericht
hat zu Recht und aus zutreffenden Gründen entschieden, dass die ange-fochtenen Beitragsbescheide rechtsfehlerfrei
sind. Der Senat teilt hierzu nach erneuter Überprüfung im Berufungsverfahren die vom Sozialgericht ausführlich und
überzeugend niedergelegte Rechtsauffassung, macht sich diese ausdrücklich zu Eigen und weist die Berufung in
Anwendung von § 153 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) aus den Gründen der angefochtenen Entschei-dung als
unbegründet zurück.
Im Hinblick auf die Berufungsbegründung, mit der die Klägerinnen im Wesentlichen ihr erstinstanzliches Vorbringen
weiter vertiefen, ist Folgendes zu ergänzen:
Auf die von den Klägerinnen in den Vordergrund ihrer Argumentation gestellte Frage der Verfassungsmäßigkeit von §
157 SGB VII kommt es im Rahmen des vorliegenden Rechtsstreits nicht ent-scheidend an. Denn diese die
Aufstellung des sog. Gefahrtarifs regelnde Bestimmung ist nicht unmittelbar Rechtsgrundlage der hier angefochtenen
Beitragsbescheide. Zwar sind die Gefahrklassen - wie sich aus § 167 Abs. 1 SGB VII ergibt - ein Faktor der
Beitragsberechnung. Die Beklagte hat mit den Beitragsbescheiden jedoch keine Veranlagung der Klägerinnen zu den
Gefahrklassen vorgenommen; diese ist vielmehr bereits mit den unanfechtbar gewordenen Veranlagungsbescheiden
vom 20. August 1999 erfolgt. Dieses Verfahren entspricht § 159 Abs. 1 S. 1 SGB VII, wonach der
Unfallversicherungsträger die Unternehmen für die Tarifzeit nach dem Gefahrtarif zu den Gefahrklassen veranlagt. Die
Veran-lagung wirkt "für die Tarifzeit", d. h. bis zu einer etwaigen Neuaufstellung des Gefahrtarifs. Vorliegend hatte der
ab 1. Januar 1999 geltende Gefahrtarif der Beklagten - auch unter Berücksichtigung der in § 157 Abs. 5 SGB VII
enthaltenen Regelung der höchstens sechsjährigen Geltungsdauer - seine Gültigkeit bei Erlass der hier angefochtenen
Beitragsbescheide noch nicht verloren. Diese Beitragsbescheide haben - was den Berechnungsfaktor Gefahrklassen
betrifft - lediglich den Inhalt der bindend gewordenen Veranlagungsbescheide übernommen; deshalb ist die
Veranlagung als solche hier der rechtlichen Überprüfung entzogen.
Abgesehen davon teilt der Senat auch nicht die Rechtsauffassung der Klägerinnen, § 157 SGB VII verstoße gegen
den verfassungsrechtlichen Wesentlichkeitsgrundsatz (vgl. dazu BVerfGE 61, 260, 275; 77, 170, 230). Der
Gesetzgeber hat den äußeren Rahmen der Aufstellung des Gefahrtarifs festgelegt (Bildung von Tarifstellen, § 157
Abs. 2 SGB VII, und Bildung von Gefahrklassen mit daraus resultierenden Belastungsziffern, § 157 Abs. 3 SGB VII;
vgl. i.ü. die weiteren Regelungen zum Gefahrtarif in § 157 Abs. 4 und 5 SGB VII). Im Übrigen ist der Gefahrtarif durch
die Wertentscheidung des Gesetzgebers begrenzt und darf deshalb nicht in Widerspruch zu den tragenden
Grundsätzen der Unfallversicherung stehen (vgl. Ricke in Kasseler Kommentar, § 157 SGB VII Rz. 6 m. w. N.).
Der Senat vermag sich auch nicht der Auffassung der Klägerinnen anzuschließen, dass diese durch ständig sich
erhöhende Beiträge zur Unfallversicherung zusammen mit den sonstigen Lohnnebenkosten in ihren Grundrechten aus
Art. 14 GG und Art. 12 Abs. 1 GG verletzt würden, weil diese Belastungen zusammen die Erdrosselungsgrenze
erreichten. Zum einen ist in tatsächlicher Hinsicht darauf hinzuweisen, dass der Beitragsfuß im Verhältnis zum
Vorjahr um (lediglich) 2,99 Prozent angehoben worden ist; der je 1.000,00 DM Lohnsumme in Gefahrklasse 1,0 zu
zahlende Beitrag hat sich damit von 6,70 DM im Vorjahr auf 6,90 DM erhöht. Gleichzeitig wurden - wie den
Klägerinnen in dem Informationsblatt zum Beitragsbescheid 2000 mitgeteilt worden ist - die Beiträge aller
Nebenumlagen deutlich gesenkt (Arbeitsmedizinischer Dienst um 8,89 Prozent, Sicherheitstechnischer
Beratungsdienst um 13,56 Prozent, Finanzausgleichslast um 6,41 Prozent, Insolvenzgeld um 7,06 Prozent).
Hierdurch wurden die tatsächlichen Belastungen der Beitragspflichtigen weiter relativiert. Der Senat verkennt nicht die
von den Klägerinnen aus-führlich geschilderten und auch belegten schwierigen wirtschaftlichen Verhältnisse in der
Bauwirtschaft, sieht jedoch schon angesichts der vorstehend beschriebenen konkreten Beitragsbelastung die
Erdrosselungsgrenze als bei weitem nicht erreicht an.
Im Übrigen liegt eine erdrosselnde Wirkung nicht schon dann vor, wenn die Geldleistungspflicht die Fortführung
einzelner Unternehmen auf Grund ihrer besonderen Lage unmöglich macht; sie muss diese Wirkung als Regel haben,
den Effekt also bei ihrer Anwendung regelmäßig hervorrufen (BVerfGE 95, 267, 301; vgl. auch BVerwG, Beschluss
vom 7. Juni 2002 ? 9 B 30/02). Dass überhaupt auch nur ein einzelnes Unternehmen gerade wegen der hier strittigen
Beitragsheranziehung nicht hätte fortgeführt werden können, ist weder dargetan noch sonst ersichtlich.
Dass die Beitragsbemessung im Übrigen in jeder Hinsicht verfassungsrechtlichen Vorgaben genügt, ist im
erstinstanzlichen Urteil - wie ausgeführt - in nicht zu beanstandender Weise ausgeführt worden. Hierauf nimmt der
Senat nochmals ausdrücklich Bezug.
Zu den hilfsweise beantragten Vorlagebeschlüssen i. S. v. Art. 100 Abs. 1 GG besteht nach Vorstehendem kein
Anlass. Soweit es um die im zweiten Hilfsantrag genannten §§ 150, 152 Abs. 1 und 153 Abs. 1 SGB VII geht, ist
ergänzend darauf hinzuweisen, dass Gegenstand der gerichtlichen Entscheidung hier allein die konkret angefochtenen
Beitragsbescheide sind. Auf die Frage, inwieweit die genannten Vorschriften zukünftig weitere Beitragserhöhungen
ermöglichen, kommt es hier nicht an.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 und 4 SGG, diejenige über die Nichtzulassung der Revision aus § 160
Abs. 2 SGG.