Urteil des LSG Schleswig-Holstein vom 16.12.2008

LSG Shs: bluthochdruck, alter, anerkennung, entstehung, schmerz, vergleich, befund, kausalzusammenhang, amputation, bindungswirkung

Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht
Urteil vom 16.12.2008 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Kiel S 12 V 215/05
Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht L 2 V 10/07
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 6. Februar 2007 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt als Rechtsnachfolgerin des Versorgungsberechtigten die Anerkennung weiterer
Gesundheitsstörungen als Schädigungsfolgen und höhere Beschädigtenversorgung nach dem
Bundesversorgungsgesetz (BVG) für den Zeitraum von November 2002 bis Oktober 2007.
Die Klägerin ist die Witwe des am 1. September 1924 geborenen und am 6. Oktober 2007 verstorbenen
Versorgungsberechtigten G P. Dieser hatte im April 1944 als Soldat eine Granatsplitterverletzung erlitten. Als
Schädigungsfolgen waren durch Neufeststellungsbescheid vom 23. Januar 1998 zuletzt anerkannt worden:
1.Verlust des linken Beines im Oberschenkel mit Phantomschmerzen und statischen Beschwerden der
Lendenwirbelsäule, linkskonvexe Ausbiegung der unteren Lendenwirbelsäule,
2. Weichteilstecksplitter und reizlose Narbe im linken Schulterbereich.
Beschädigtenversorgung war zunächst nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 70 v. H., seit Oktober
1969 nach einer MdE um 80 v. H. gezahlt worden. Durch Abhilfebescheid vom 15. Mai 1998 war die MdE seit Oktober
1997 auf 90 v. H erhöht worden. Dem lag insbesondere die gutachtliche Feststellung zugrunde, dass die
Phantomschmerzen sich verschlimmert hätten und diese sich auch im Zusammenhang mit der Funktionsstörung der
Wirbelsäule zusätzlich negativ auf das Gehvermögen auswirkten.
Im Verfahren nach dem Schwerbehindertengesetz wurde durch Neufestellungsbescheid vom 18. September 1998 ein
Grad der Behinderung (GdB) von 100 festgestellt. Dabei wurden neben den Schädigungsfolgen Herz- und
Kreislaufstörungen sowie eine Funktionsstörung der Lendenwirbelsäule berücksichtigt.
Im November 2002 stellte der Versorgungsberechtigte einen Neufeststellungsantrag nach dem BVG, mit dem er die
Verschlimmerung der Fehlbelastung der LWS durch die Oberschenkelprothese links mit Funktionsausfall sowie die
zusätzliche Anerkennung der dem beigefügten Röntgenbefund aus März 2002 zu 1) bis 4) zu entnehmenden
Gesundheitsstörungen (Fehlhaltung mit rechtskonvexer Skoliose und Hyperlordose des lumbo-sacralen Überganges,
Osteochondrose LW 5/SW 1, mäßige Spondylosis deformans LW 1 bis 5, Spondylarthrosis LW 4 bis SW 1) als
weitere Schädigungsfolgen geltend machte. Das Landesamt für soziale Dienste Schleswig-Holstein (LAsD) holte die
versorgungsärztlichen Stellungnahmen des Dr. S (1/03) und des Internisten Dr. A (5/05 und 6/05), das Gutachten des
Arztes für Chirurgie Dr. F (11/03), die ergänzende Stellungnahme des Dr. F (1/04) und nach dem Hinweis des Klägers
auf die Zunahme der Schmerzzustände das Gutachten der Ärztin für Neurologie und Psychiatrie B (4/04) ein und
lehnte den Antrag mit Bescheid vom 19. Juli 2004 ab. Nach den Ergebnissen der chirurgischen und nervenärztlichen
Untersuchungen sei es nicht zu einer wesentlichen Änderung der anerkannten Schädigungsfolgen gegenüber den bei
den Untersuchungen im Jahre 1996 erhobenen Befunden gekommen. Da sich nun eine rechtskonvexe Seitverbiegung
der Lendenwirbelsäule gezeigt habe, die sich zuvor als linkskonvexe Verbiegung dargestellt habe, sei nicht von einer
fixierten Seitverbiegung auszugehen. Auf die Beurteilung der Gesamt-MdE habe dies aber keinen Einfluss.
Mit seinem hiergegen gerichteten Widerspruch machte der Versorgungsberechtigte geltend, dass die Schwere seiner
Schmerzen auch an seinen Herz- und Kreislaufproblemen erkennbar sei. Infolge des täglichen Schmerzstress habe
sich seine Bluthoch¬druckerkrankung verschlimmert, und in den Jahren 2002/2003 sei zusätzlich eine absolute
Arrhythmie infolge Vorhofflimmerns aufgetreten, die Digitalisbehandlung und Antikoagulation erfordere. Nur durch
Kardioversion habe ein stabiler Sinusrhythmus wiederhergestellt werden können. Wegen seiner Schmerzen nehme er
stark wirkende Opioid-Analgetika ein, was ein weiteres Indiz für die Schmerzzunahme sei. Auch sei durch das
zunehmende Alter seine Widerstandskraft herabgesetzt.
Das LAsD holte hierzu zwei weitere Stellungnahmen des Dr. A (9/04 und 11/04), eine weitere Stellungnahme der
Ärztin für Neurologie und Psychiatrie B (11/04) und das Gutachten des Arztes für Anästhesiologie Dr. Sa (7/05) ein
und wies den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 01. September 2005 zurück. Nach dem Ergebnis der
Begutachtungen sei es zu keiner wesentlichen Verschlimmerung der als Schädigungsfolgen anerkannten
Gesundheitsstörungen gekommen. Die Stumpfbeschwerden seien bei der MdE-Bewertung ausreichend berücksichtigt
worden. Ein ursächlicher Zusammenhang mit der internistischen Erkrankung (Bluthochdruck, Herz- und
Kreislaufstörungen) bestehe nach versorgungsärztlicher Auffassung nicht.
Zur Begründung seiner am 12. September 2005 bei dem Sozialgericht Kiel erhobenen Klage hat der
Versorgungsberechtigte im Wesentlichen vorgetragen: Die Bewertung der Phantomschmerzen und der
Belastungsinsuffizienz der LWS sei zu kurz gekommen. Die ausführlichen Gutachten reichten jedoch aus, um eine
Gesamt-MdE um mehr als 90 v.H. anzunehmen, soweit bei der Beurteilung die persönliche Auffassung der Gutachter
über die nicht genügend ausgeschöpfte Therapie unbewertet bleibe. Zur Anwendung eines Tens-Gerätes sei z.B. zu
berücksichtigen, dass der damalige Leiter der Orthopädischen Versorgungsstelle Neumünster, der ca. 1975 mit einer
Tens-Erfolgsstudie beschäftigt gewesen sei, ihm von der Benutzung abgeraten habe. Viele Ärzte auch aus seinem
persönlichen Umfeld hätten sich seit Jahrzehnten laufend um Hilfe bemüht und wegen der katastrophalen
Nebenwirkungen verschiedener Medikamente zwischenzeitlich die Behandlung abgesetzt. Für die derzeitige
Schmerzintensität möge das innerhalb von zwei Jahren dreimal aufgetretene Vorhofflimmern als Indiz gelten. Er
glaube nicht, dass eine Kausalität mit dem fast lebenslangen Schmerzstress sicher verneint werden könne. Die
nachlassende Widerstandskraft im Alter von nunmehr 81 Jahren sei wahrscheinlich auch nicht unbeachtlich. Der auf
S. 27 des Gutachtens aus Juli 2005 erwähnte zügige Gang mit Stock auf dem Klinikflur gebe nicht die LWS-
Symptomatik bei alltäglichen Bodenverhältnissen auf Wegen und Straßen wieder. Hier benötige er Stockstützen oder
den PKW. Seite 24 des Gutachtens aus Juli 2005 beinhalte einen Schreib- oder Hörfehler, denn die tägliche Quälerei
gebe es nicht erst seit 2004. Rechtlich sei zudem zu klären, inwieweit eine Bindungswirkung an Entscheidungen nach
dem Schwerbehindertengesetz, hier die Festsetzung des GdB von 100 mit Feststellungsbescheid vom 18. September
1998, bestehe (unter Hinweis auf Bundessozialgericht, Urt. v. 08. März 1995 - 9 RV 9/94). Die Behinderungen deckten
sich inhaltlich mit den anerkannten Schädigungsfolgen bis auf die Kreislaufstörungen, die aber damals einen GdB von
10 ergeben hätten und für den Gesamt-GdB unbeachtlich gewesen seien.
Der Versorgungsberechtigte hat beantragt,
den Bescheid des beklagten Landes vom 19. Juli 2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 01.
September 2005 aufzuheben und das beklagte Land zu verurteilen, ihm Beschädigtenversorgung nach einer MdE von
100 v.H. seit November 2002 zu gewähren und als weitere Schädigungsfolge "Herz-/Kreislaufstörungen"
anzuerkennen.
Das beklagte Land hat sich auf die Begründung des Widerspruchsbescheides bezogen und beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das Sozialgericht hat Befund- und Behandlungsberichte des Arztes für Allgemeinmedizin V (11/05 und 12/05) nebst
beigefügten ärztlichen Unterlagen eingeholt und in der mündlichen Verhandlung am 6. Februar 2007 Beweis erhoben
durch Sachverständigenvernehmung des Arztes für Chirurgie Dr. Ab.
Durch Urteil vom 6. Februar 2007 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Der Kläger habe keinen Anspruch auf
Beschädigtenversorgung nach einer MdE um 100 v. H. seit November 2002 und auf Anerkennung von
Herz¬/Kreislaufstörungen als weitere Schädigungsfolge. Die Kammer folge insbesondere nach Anhörung des
Sachverständigen Dr. Ab , dessen Gutachten für sie nachvollziehbar und überzeugend sei, der Begründung des
angefochtenen Bescheides und sehe gemäß § 136 Abs. 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) von einer weiteren Darstellung
der Entscheidungsgründe ab.
Gegen das ihm am 14. Februar 2007 zugestellte Urteil richtet sich die am 13. März 2007 eingegangene Berufung des
Versorgungsberechtigten, zu deren Begründung im Wesentlichen vorgetragen wird: Dr. Ab , auf dessen Gutachten das
Sozialgericht das Urteil stütze, bestätige zwar im Ergebnis eine Verschlimmerung der Phantomschmerzen, gebe aber
zum Grad keine Stellungnahme ab und begründe auch nicht, warum sich trotz einer deutlichen Verschlimmerung der
Phantomschmerzen an der Gesamt-MdE nichts ändern solle. In dem Gutachten erfolge auch keine Erörterung und
Bewertung der durch die Veränderung der Lendenwirbelsäule bedingten Funktionsausfälle. Auch zu den massiven
Herz-Kreislaufbeschwerden des Versorgungsberechtigten treffe Dr. Ab keine Feststellungen. Hierzu fehle ihm als
Chirurg auch die nötige Fachkompetenz. Es sei ein fachinternistisches Gutachten einzuholen, auch zu der Frage, ob
eine Schmerzsymptomatik durch Phantomschmerz als Ursache der aufgetretenen Herzerkrankung angesehen werden
könne. Der Versorgungsberechtigte habe seit über 40 Jahren täglich an Phantomschmerzen gelitten. Die
Schmerzintensität habe seit ca. 8 Jahren kontinuierlich zugenommen, seit 2003/2004 in häufigeren Intervallen und
gesteigerter Schmerzqualität. Aufgrund dieser massiven Verschlechterung sei es nicht gerechtfertigt, den Grad der
MdE bezogen auf die Phantomschmerzen wie bereits seit 1998 auch weiterhin mit nur 30 v.H. zu bewerten. Es sei
darauf hinzuweisen, dass das Medikament Neurontin - erst ab 1/05 in der gelben Liste - dem Versorgungsberechtigten
lediglich nachts eine geringfügige Linderung verschafft habe. Den Gutachtern fehle offenbar eine Erfahrung mit
Patienten, die seit mehr als 40 Jahren unter Phantomschmerz aufgrund Kriegsverletzung litten; die Bewertung mit 30
v. H. erscheine mehr zufällig. Die Ausführungen des Dr. Sa , der oberflächlich behaupte, der Versorgungsberechtigte
sei im Vergleich zu anderen Amputierten nicht stärker oder ungewöhnlich stark durch Schmerzen beeinträchtigt,
zeigten, dass sein Gutachten erhebliche willkürliche bzw. subjektive Züge aufweise. Soweit Dr. Sa behaupte, der
Versorgungsberechtigte habe sich nicht bzw. inkonsequent therapiert, liege das Gegenteil auf der Hand. Die
Verschlimmerung des Bluthochdrucks und die Herzerkrankung seien Folgen des Phantomschmerz bedingten,
Jahrzehnte währenden Schmerzstress mit Schlafentzug. Bisher hätten sich lediglich die Ärzte Dr. Sa und A zu einem
Zusammenhang Schmerzstress/Schlafentzug und Herzrhythmusstörung geäußert. Beide verneinten zwar einen
Zusammenhang, es handele sich dabei aber offensichtlich nur um Vermutungen, Begründungen fehlten. Dr. Sa rate
zumindest zur Einholung eines fachinternistischen Gutachtens, das das Sozialgericht aber nicht eingeholt habe. Die
Wirbelsäulenerkrankung des Versorgungsberechtigten sei anerkanntermaßen Folge des Prothesen bedingten
Schiefganges. Dr. Ab nehme in seinem Gutachten aber keine Erörterung der LWS bedingten Funktionsausfälle vor.
Eine Bewertung der diesbezüglichen MdE fehle gänzlich. Die Einzel-MdE für die Funktionsstörung der
Lendenwirbelsäule sei mit mindestens 40 v.H. zu bewerten. Im Vergleich zu 1997/1998 sei dem
Versorgungsberechtigten ein Heben und Tragen, Vorbeugen und Bücken nicht mehr möglich gewesen. Er habe sich
im Vergleich zu 1998 nur noch stark eingeschränkt fortbewegen können. Entgegen der Darstellung des Dr. Ab habe er
auch nicht mehr mit dem Rad fahren können. Unzutreffend sei die Behauptung des Dr. Sa , der
Versorgungsberechtigte sei über eine Strecke von 80 m zügig und schmerzfrei gegangen. Richtig sei vielmehr, dass
er veranlasst worden sei, dem Arzt ohne Krücken und nur mit einem Handstock zu folgen. Hiermit sei eine erhebliche
und schmerzhafte LWS-Belastung verbunden gewesen, mit der er sich aber nicht an den Arzt gewandt habe, da
diesem ein Gutachtenauftrag nur zur Exploration des Phantomschmerzes erteilt worden war.
Die Klägerin als Rechtsnachfolgerin des Versorgungsberechtigten beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 6. Februar 2007 und den Bescheid des Landesamtes für soziale Dienste
Schleswig-Holstein vom 19. Juli 2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 1. September 2005
aufzuheben, und das beklagte Land zu verurteilen, als weitere Schädigungsfolgen Bluthochdruck und Herz-
/Kreislaufstörungen anzuerkennen und für den Zeitraum vom 1. November 2002 bis 31. Oktober 2007
Beschädigtenversorgung nach einer MdE bzw. einem GdS um 100 v.H. zu gewähren.
Das beklagte Land beantragt,
die Berufung zurückzuweisen
und schließt sich den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils an.
Der Senat hat einen Befund-(Verlaufs-)bericht des Herrn V (8/07) beigezogen und eine Stellungnahme des beklagten
Landes zu der Frage eingeholt, ob die AHP, zuletzt Stand 2008, insoweit aktuell sind, als sie keinen Hinweis auf
einen Kausalzusammenhang zwischen einer Gliedmaßenamputation/Phantomschmerzen und der Entstehung von
Bluthochdruck bzw. Vorhofflimmern geben, oder ob es neue Erkenntnisse aus dem Sachverständigenbeirat, Sektion
Versorgungsmedizin gibt, die noch nicht in die AHP eingeflossen sind.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und die den Versorgungsberechtigten G
P betreffenden Verwaltungsvorgänge des Landesamtes für soziale Dienste Schleswig-Holstein (Rentenakten nach
dem BVG, Schwerbehindertenakte) Bezug genommen. Diese Vorgänge sind auch Gegenstand der mündlichen
Verhandlung des Senats am 16. Dezember 2008 gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die statthafte (§ 143 Sozialgerichtsgesetz – SGG) und fristgerecht (§ 151 Abs. 1 SGG) eingelegte Berufung ist
unbegründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die Klägerin, die das Verfahren als
Rechtsnachfolgerin des verstorbenen Versorgungsberechtigten fortführt, hat keinen Anspruch auf die Anerkennung
weiterer Schädigungsfolgen und auf die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach einer MdE um 100 v. H.
Gegenüber der letzten bestandskräftigen Feststellung der MdE mit Bescheid vom 15. Mai 1998 ist keine wesentliche
Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch, (SGB X) eingetreten.
Auch sind gegenüber dem genannten Bescheid und dem weiteren Bescheid vom 23. Januar 1998, mit dem die
Schädigungsfolgen zuletzt neu bezeichnet worden waren, keine weiteren Schädigungsfolgen hinzugetreten.
Bei dem Versorgungsberechtigten bestand seit der Kriegsverletzung die Amputation des linken Beines im
Oberschenkel. Nach allen in den Akten vorliegenden medizinischen Unterlagen handelte es sich weder um einen
besonders kurzen Oberschenkelstumpf noch um besonders ungünstige Stumpfverhältnisse. Diese Schädigungsfolge
war nach den Vorgaben der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und
nach dem Schwerbehindertenrecht" (im Folgenden: AHP) in allen maßgeblichen Fassungen, zuletzt Teil 2 SGB IX,
Stand 2008, mit einer MdE um 70 v. H. zu bewerten (AHP Nr. 26.18 S. 123). Dies hat insbesondere Dr. A in seiner
Stellungnahmen aus November 2004 nochmals zutreffend zusammenfassend dargestellt und ist zwischen den
Beteiligten auch nicht streitig.
Dass für die Folgen der Oberschenkelamputation dennoch eine MdE um 90 v. H. angenommen wurde, folgt allein aus
den erheblichen Phantomschmerzen, unter denen der Versorgungsberechtigte - ebenfalls unstreitig – litt. Ausgeprägte
Phantomschmerzen bestanden bereits seit den sechziger Jahren. In seinem Neufeststellungsantrag aus Oktober
1969 machte der Versorgungsberechtigte ständig vorhandene Schmerzen geltend, die seinen Nachtschlaf stärker als
vorher beeinträchtigten, die Einnahme schmerzstillender Medikamente erforderten und ihm bei geistiger
Berufstätigkeit einen zusätzlichen Aufwand an Konzentration und Energie abverlangten. Wegen dieser Schmerzen
wurde die MdE bereits durch Bescheid vom 23. März 1970 auf 80 v. H. erhöht. Dabei wurde für die
Phantomschmerzen eine Minderung der Erwerbsfähigkeit um 20 v. H., nach Einschätzung des Gutachters im unteren
Ermessensspielraum, zu Grunde gelegt. Die weitere Erhöhung der MdE auf 90 v. H. mit Bescheid vom 15. Mai 1998
berücksichtigte nach den verschiedenen hierzu in der Akten vorliegenden gutachtlichen Stellungnahmen vor allem
eine weitere deutliche Verschlechterung der Phantomschmerzen. Eine detaillierte Schilderung der Schmerzen findet
sich dabei vor allem in dem nervenärztlichen Gutachten des Dr. Sb aus April 1996. Hier gab der
Versorgungsberechtigte an, er habe fast ständig Phantomschmerzen, zumindest jeden Tag und auch jede Nacht, in
den letzten Jahren mit dem Gefühl der Zehenverkrampfung. Es bestehe seit mehreren Jahren mit zunehmend kurzen
Unterbrechungen, eigentlich fast dauernd stechender Schmerz, schneidend-reißend im Stumpfbereich. Meist träten
darüber hinaus aber noch stärkere Schmerzanteile auf, die mit Verkrampfung gezielt begännen und dann nach oben
zögen, in sehr starker Form, nicht eigentlich in Intervallen, meist dann als über Stunden andauernder Schmerz. Er
schlafe wegen dieser Schmerzen nachts nur ca. zwei bis drei Stunden und müsse betonen, dass er gut schlafe, wenn
der Schmerz nicht da sei. Am Tag gehe es ihm eigentlich schlechter, wenn er in die Prothese gehe, es scheine
dadurch ein Reiz am Stumpfende mehr zu werden. Dieser Reiz verstärke sich weiter beim Stehen und besonders
beim Gehen. Dr. Sb hielt in seiner abschließenden Stellungnahme für den Phantomschmerz eine MdE um 30 v.H. als
untere Ermessensgrenze für angemessen unter Berücksichtigung eines jetzt nach den Angaben des
Versorgungsberechtigten fast ständig bestehenden Phantomschmerzes. Es folgt eine Erörterung dazu, dass die
geschilderten Schmerzen für Phantomschmerzen nicht ganz typisch seien, sondern die Schilderungen des
Versorgungsberechtigten eher so genannten kausalgieformen Schmerzen ähnelten.
Demnach wurde bereits in dem Neufeststellungsverfahren 1996 eine deutliche Verstärkung der bereits zuvor
berücksichtigten Phantomschmerzen angenommen und bewertet. Schon die damalige Schilderung des
Versorgungsberechtigten, die der Erhöhung der MdE auf 90 v.H. zugrunde lag, lässt eine weitere - wesentliche -
Verschlimmerung der Schmerzen von Vornherein nur schwer vorstellbar erscheinen. Sie kann auch nach dem
Ergebnis der umfangreichen Ermittlungen des Landesamtes für soziale Dienste im Zusammenhang mit dem aktuellen
Neufeststellungsantrag aus Oktober 2002 sowie nach der Beweisaufnahme durch das Sozialgericht im Ergebnis nicht
festgestellt werden. Weder der Gutachter auf dem chirurgischen Fachgebiet, Dr. F , noch die Gutachterin auf dem
nervenärztlichen Fachgebiet, Frau B , bejahten eine wesentliche Änderung der Verhältnisse gegenüber dem
Vorbefund. Auch der Facharzt für Anästhesiologie Dr. Sa konnte sich in seinem ausführlichen Gutachten aus Juli
2005 von einer wesentlichen Verschlechterung nicht überzeugen. In seiner zusammenfassenden Beurteilung führt Dr.
Sa aus, die von dem Versorgungsberechtigten angegebene zunehmende Schmerzsymptomatik im Vergleich zum
Zeitpunkt der Begutachtung durch Dr. Sb lasse sich aus den vorgelegten Akten nicht nachvollziehen, was aber daran
liegen könne, dass bisher keine systematische Dokumentation (z. B. durch einen schmerzdiagnostisch und -
therapeutisch Erfahrenen) vorgenommen worden sei. Weiter weist Dr. Sa darauf hin, dass eine Diskrepanz zwischen
dem erhobenen klinischen Befund, den Ergebnissen der Fragebögen zu den Schmerz assoziierten Beeinträchtigungen
und den nicht konsequenten bzw. nicht unternommenen Therapieversuche einerseits und der beklagten
Einschränkung bzw. Behinderung durch die Schmerzen andererseits auffällig sei. Eine depressive Störung oder einer
höhergradige Depression als Folge der Schmerzen lägen aus schmerztherapeutischer Sicht nicht vor. Auch hätten
sich keine Hinweise dafür gefunden, dass die geklagten Schmerzen Symptom einer depressiven Störung oder einer
Depression seien. Hierfür habe auch Frau B aus neurologisch-psychiatrischer Sicht keinen Hinweis gefunden.
Insgesamt sei damit die festgestellte Gesamt-MdE um 90 v. H. nicht zu erhöhen. Aus dem Gutachten der Frau B
ergibt sich zudem eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Tagesablauf des Versorgungsberechtigten, der auch
zum damaligen Zeitpunkt noch durch zahlreiche regelmäßige Aktivitäten geprägt war. Den Gutachten ist zudem zu
entnehmen, dass der Versorgungsberechtigte sich in sehr guten Allgemeinzustand befand und dabei einen deutlich
jüngeren Eindruck machte, als es seinem Alter entsprach; Dr. F schilderte den damals knapp 80jährigen
Versorgungsberechten als "frisch und vital". Auch der durch das Sozialgericht vernommene Arzt für Chirurgie Dr. Ab
ist im Ergebnis nicht zu der Annahme einer wesentlichen Verschlechterung gegenüber dem maßgeblichen Vorbefund
gelangt und hielt seinerseits eine Einzel-MdE von 30 v. H. für die Schmerzproblematik und eine Gesamt-MdE um 90
v. H. in Übereinstimmung mit allen Vorgutachtern auch weiterhin für angemessen. Der Senat schließt sich dieser ihn
überzeugenden Beurteilung an. Er berücksichtigt dabei auch, dass, wie der Versorgungsberechtigte es in seiner
Klagebegründung selbst angegeben hat, die Schmerzen für ihn mit zunehmendem Alter immer schlechter verkraftbar
waren. Dass die Auswirkungen von Funktionsstörungen, die sich ihrerseits nicht verschlechtert haben, sich mit
zunehmendem Alter subjektiv stärker auswirken, ist nachvollziehbar, führt jedoch nicht zu einer Erhöhung der MdE
(vgl. BSG, Urt. v. 6. September 1989 - 9 RV 26/88, SozR 3100 § 30 Nr. 79, zum sog. Nachschaden, insbesondere
juris Leitsatz 1 und Rn. 13).
Hinsichtlich der als mittelbare Schädigungsfolge anerkannten Verbiegung der Lendenwirbelsäule und der hierdurch
bedingten Funktionsstörung ist ebenfalls keine wesentliche Verschlechterung eingetreten. Dass eine linkskonvexe
Verbiegung der Lendenwirbelsäule anerkannt worden war, in dem von dem Versorgungsberechtigten zu einem
Neufeststellungsantrag eingereichten Röntgenbefund aus März 2002 jedoch eine rechtskonvexe Verbiegung
bescheinigt wurde, was auch dem Untersuchungsbefund des Dr. F entsprach, wohingegen Dr. Ab in seinem
Gutachten wiederum eine linkskonvexe Seitverbiegung feststellte, ist für die Beurteilung der MdE nicht von
Bedeutung. Allenfalls kann hieraus, sofern es sich nicht zum Teil um Seitenverwechslungen handelte, gefolgert
werden, dass jedenfalls keine fixierte Seitverbiegung besteht; hierauf hat Dr. F in seiner Stellungsnahme aus Januar
2004 überzeugend hingewiesen. Ebenso hat er darin zutreffend dargelegt, dass für die Bewertung der MdE nicht der
Röntgenbefund, sondern das Ausmaß der funktionellen Störungen ausschlaggebend ist. Insoweit ist aber noch für den
Zeitpunkt der Untersuchung des Klägers bei Dr. Ab im Januar 2007 eine - insbesondere unter Berücksichtigung des
Alters des Versorgungsberechtigten von zu diesem Zeitpunkt 82 Jahren - sehr gute Beweglichkeit der
Lendenwirbelsäule (Fingerspitzen-Fußboden-Abstand (FBA) 0, Maß nach Schober 10:13,5) dokumentiert. Dabei
bestand kein Druck- oder Klopfschmerz über der Wirbelsäule, und es ergaben sich auch keine Hinweise auf
Nervenwurzelreizerscheinungen oder gar motorische Störungen. Damit fällt die als mittelbare Schädigungsfolge
anerkannte Funktionsstörung der LWS bei der Bildung des Gesamtgrades der MdE/des GdS auch weiterhin nicht ins
Gewicht.
Der Bluthochdruck und die Herzrhythmusstörungen des Versorgungsberechtigten sind nicht als mittelbare
Schädigungsfolgen anzuerkennen. Die AHP, zuletzt Stand 2008, geben keinen Hinweis auf einen
Kausalzusammenhang zwischen einer Gliedmaßenamputation/Phantomschmerzen und der Entstehung von
Bluthochdruck bzw. Vorhofflimmern. Unter Nr. 97 Abs. 4 der AHP 2008 heißt es, es sei nicht erwiesen, dass ein
Gliedmaßenverlust wesentliche Bedingung für die Entwicklung eines Bluthochdrucks sei. Speziell zu dem
Zusammenhang zwischen Amputationen, hierdurch ggf. verursachten Stumpfschmerzen und Herzrhythmusstörungen
findet sich in den AHP keine Aussage. Damit kann von der Wahrscheinlichkeit des Ursachenzusammenhangs im
Sinne des § 1 Abs. 3 BVG nicht ausgegangen werden, wie dies auch der Internist Dr. A in seinen Stellungnahmen
ausgeführt hat. Nach der Rechtsprechung des BSG sind die AHP, im Sinne antizipierter Sachverständigengutachten,
auch insoweit maßgeblich, als darin der aktuelle medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisstand betreffend die
Ursachen für die Entstehung bestimmter Erkrankungen berücksichtigt ist. Sofern die AHP (noch) dem allgemeinen
medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstand entsprechen und sich daraus ein Kausalzusammenhang nicht
ableiten lässt, kann dieser nicht durch ein Gutachten im Einzelfall begründet werden (vgl. BSG, Urt. v. 27. August
1998 - B 9 VJ 2/97 R, juris Rn. 14; Urt. v. 12. Juni 2003 - B 9 VG 1/02 R, BSGE 91, 107, juris Rn. 21). Dass die AHP
hinsichtlich der hier bedeutsamen Fragstellungen noch dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand
entsprechen, ergibt sich aus der Stellungnahme des Dr. Hartwig vom 10. November 2008. Danach gibt es
insbesondere keine neuen Erkenntnisse aus den regelmäßigen Sitzungen des Sachverständigenbeirats von 1991 bis
November 2008. Die Thematik Gliedmaßenamputation und Entstehung von Bluthochdruck/Vorhofflimmern wurde hier
nicht erörtert. Weiter legt Dr. Hartwig dar, dass durchgeführte medizinische Studien keinen ursächlichen
Zusammenhang zwischen einer Gliedmaßenamputation und einer Blutdrucksteigerung oder einer anderweitigen
amputationsbedingten Rückwirkung auf das Herz im Sinne eines im EKG dokumentierten Herzschadens ergeben
haben. Auch wenn Dr. Hartwig sich zu dem Phantomschmerz nicht ausdrücklich geäußert hat, ist aus seiner
Stellungnahme hinreichend sicher abzuleiten, dass auch für Phantomschmerzen eine derartige Kausalität nicht
anerkannt ist. Denn Phantomschmerzen setzen eine Amputation voraus. Damit gibt es keine Hinweise darauf, dass
die AHP hinsichtlich der genannten Kausalitätsfragen nicht mehr auf dem aktuellen Stand sind, mit der Folge, dass
ein kausaler Zusammenhang zwischen der Amputation und hier insbesondere den dauerhaften Schmerzen und dem
erhöhtem Blutdruck bzw. Vorhofflimmern oder anderen Herzrhythmusstörungen des Versorgungsberechtigten nicht
wahrscheinlich ist. Die bloße Möglichkeit eines Ursachenzusammenhanges reicht für die Anerkennung als
Schädigungsfolge nicht aus. Erst recht kommt es nicht darauf an, dass ein Zusammenhang nicht ausgeschlossen
werden kann, wie es der Kläger in seiner Klagebegründung formuliert hat.
Da demnach die Bluthochdruckerkrankung und die Herzrhythmusstörungen nicht als mittelbare Schädigungsfolgen
anzuerkennen sind, bedarf es schon deshalb keiner näheren Erörterung der von dem Versorgungsberechtigten in
seiner Klagebegründung unter Hinweis auf die Rechtsprechung des BSG aufgeworfenen Frage einer Bindungswirkung
der Feststellung des GdB nach dem SchwbG/SGB IX für die Feststellung der MdE nach dem BVG. Diese Frage kann
sich allenfalls stellen, wenn die GdB-Feststellung ausschließlich Schädigungsfolgen betrifft. Hier sind dagegen in den
Bescheid vom 18. September 1998 über die Feststellung eines GdB von 100 auch nicht schädigungsbedingte Herz-
Kreislaufstörungen – unter (unzutreffender) Annahme der Bindungswirkung einer früheren zu hohen Bewertung des
Einzel-GdB hierfür - erneut mit einem Einzel-GdB von 40 in die Bewertung eingeflossen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 und 4 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG) sind nicht gegeben.