Urteil des LSG Schleswig-Holstein vom 10.09.2009

LSG Shs: wörtliche auslegung, falsche rechtsmittelbelehrung, systematische auslegung, entstehungsgeschichte, vergütung, widerspruchsverfahren, gebühr, verzicht, ermessen, gleichstellung

Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht
Beschluss vom 10.09.2009 (rechtskräftig)
Sozialgericht Kiel S sd9 AR 99/08 SK
Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht L 1 B 158/09 SK
Der Beschluss des Sozialgerichts Kiel vom 26. Juni 2009 wird geändert. Die Beschwerdegegnerin ist mit insgesamt
226,10 EUR zu vergüten. Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe:
I.
Nachdem die Beschwerdegegnerin schon im Widerspruchsverfahren für den Antragsteller tätig geworden war, machte
sie für ihn das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes S 9 AL 41/08 ER beim Sozialgericht Kiel anhängig. Das
Sozialgericht ordnete sie dem Antragsteller im Wege der Prozesskostenhilfe (PKH) als Prozessbevollmächtigte bei
(Beschluss vom 26. August 2008). Das Verfahren endete durch angenommenes Anerkenntnis, ohne dass eine
Verhandlung stattgefunden hatte.
Mit der Kostenrechnung vom 22. September 2008 machte die Beschwerdegegnerin u. a. eine Verfahrensgebühr nach
Nr. 3102 VV-RVG von 250,00 EUR und eine fiktive Terminsgebühr nach Nr. 3106 Ziff. 3 VV-RVG von 200,00 EUR
geltend. Die Urkundsbeamtin kürzte die Verfahrensgebühr auf 170,00 EUR und die fiktive Terminsgebühr auf 100,00
EUR.
Hiergegen haben die Beschwerdegegnerin und der Beschwerdeführer Erinnerung eingelegt. Letzterer hat beantragt, die
fiktive Terminsgebühr völlig zu streichen und die Vergütung auf insgesamt 226,10 EUR festzusetzen.
Mit Beschluss vom 26. Juni 2009 hat das Sozialgericht die Vergütung auf insgesamt 428,40 EUR festsetzt. Die
Kürzung der Verfahrensgebühr wegen der vorangegangenen Tätigkeit der Anwältin im Widerspruchsverfahren sei
gerechtfertigt. Es komme insofern die Nr. 3103 VV-RVG in Höhe der Mittelgebühr von 170,00 EUR zur Anwendung.
Außerdem erhalte sie die fiktive Terminsgebühr. Diese betrage ebenfalls 170,00 EUR und folge damit in der Höhe der
Verfahrensgebühr.
Gegen diesen am 14. Juli 2009 zugestellten Beschluss richtet sich die Beschwerde vom 28. Juli 2009, die sich gegen
die Festsetzung der fiktiven Terminsgebühr in einem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes wendet. Dieser
Auffassung tritt die Beschwerdegegnerin mit Rechtsausführungen entgegen.
Auf die gewechselten Schriftsätze und auf den Beschluss vom 26. Juni 2009 sowie auf die vorgelegten
Verfahrensakten S 9 AL 41/08 ER wird im Übrigen verwiesen.
II.
Die Beschwerde ist zulässig. Die falsche Rechtsmittelbelehrung hat die fristgerechte Einlegung nicht gehindert. Der
Beschwerdewert von 200,00 EUR ist überschritten.
Die Beschwerde ist auch begründet. Einziger Streitpunkt des Kostenverfahrens ist noch die Frage, ob die fiktive
Terminsgebühr nach Nr. 3106 Ziff. 3 VV-RVG in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes angesetzt werden darf.
Diese Frage ist zu verneinen. Die fiktive Terminsgebühr nach Nr. 3106 Ziff. 3 VV-RVG kann der PKH-Anwalt nur in
solchen Verfahren geltend machen, in denen eine mündliche Verhandlung vorgeschrieben ist.
Der Wortlaut der Nr. 3106 VV-RVG verwendet mehrfach das Wort "Verfahren". Dieser Begriff lässt nicht erkennen, ob
er sich nur auf Verfahren mit vorgeschriebener mündlicher Verhandlung bezieht. Die Amtliche Vorbemerkung 3.2 Abs.
2 Satz 2 zum Vergütungsverzeichnis schafft keine Klarheit. Danach bestimmen sich die Gebühren nach Abschnitt 1
(also Nr. 3100 – 3106 VV-RVG), wenn in der Sozialgerichtsbarkeit Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes zu
vergüten sind. Daraus folgt, dass das Wort "Verfahren" in Nr. 3106 VV-RVG sich auch auf Beschlussverfahren des
einstweiligen Rechtsschutzes beziehen könnte, also Verfahren, in denen eine mündliche Verhandlung nicht zwingend
vorgeschrieben ist (§§ 124 Abs. 3, 86b Abs. 4 SGG). Legt man das Wort Verfahren so aus, bleibt in Ziff. 3 allerdings
der Satzteil "ohne mündliche Verhandlung endet" unklar. Dieser Satzteil wäre überflüssig, wenn der Gesetzgeber unter
"Verfahren" sowohl solche mit vorgeschriebener Verhandlung wie auch solche mit freigestellter verstanden hätte. Die
wörtliche Auslegung der Norm erbringt kein schlüssiges und überzeugendes Ergebnis.
Es ist deshalb mit Hilfe weiterer Auslegungsmöglichkeiten zu untersuchen, warum der Gesetzgeber den allgemeinen
Grundsatz, dass der Anwalt nur für tatsächlich erbrachte Leistungen vergütet werden soll, in der Nr. 3106 VV-RVG
durchbrochen hat. Die systematische Auslegung gibt Hinweise darauf, dass Ziff. 3 nicht für alle Verfahren gelten
kann. Denn die Ziff. 3 ist durch "oder" mit den Regelungen in Ziff. 1 und 2 verbunden. Die Ziff. 1 besagt klar und
deutlich, dass nur bei vorgeschriebener Verhandlung eine fiktive Verfahrensgebühr anfällt. Die Ziff. 2 bezieht sich auf
den Gerichtsbescheid, der nach Anhörung der Beteiligten in besonders einfachen Fällen ohne Verhandlung ergeht und
an die Stelle eines Urteils tritt. Auch in den Fällen des § 105 Abs. 1 SGG ist eine mündliche Verhandlung eigentlich
vorgeschrieben. Daher steht die Ziff. 3 in systematischer Verbindung zu solchen Fällen, in denen grundsätzlich eine
mündliche Verhandlung durchgeführt werden müsste. Das sind im SGG alle Fälle, in denen ein Urteil ergehen müsste,
nicht jedoch die Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes, die durch Beschluss entschieden werden (§§ 124 Abs.
3, 86b Abs. 4 SGG). Dieser Zusammenhang weist deutlich darauf hin, dass auch die Ziff. 3 sich als Ausnahme von
dem allgemeinen Grundsatz der Anwaltsvergütung nur auf solche Verfahren bezieht, in denen eine mündliche
Verhandlung vorgeschrieben ist.
Auch die Entstehungsgeschichte der Nr. 3106 VV-RVG spricht nicht für die Anwendung dieser Norm in
Beschlussverfahren. Die Gesetzesbegründung zu Nr. 3106 VV-RVG findet sich bei der Nr. 3104 VV-RVG, die sich
zwar auf Verfahren mit Streitwerten bezieht, aber ansonsten nahezu wortgleich identische Sachverhalte regelt und
deshalb auch auf die Nr. 3106 VV-RVG bezogen werden kann. Zu Nr. 3104 VV-RVG ist in der Bundestagsdrucksache
15/1971, S. 212, ausgeführt, dass § 35 BRAGO (fiktive Verhandlungsgebühr nach entfallener, aber an sich
vorgeschriebener Verhandlung) übernommen worden ist. In den Fällen der §§ 114 Abs. 3 und 116 Abs. 2 Satz 2
BRAGO sollte statt der bisherigen halben nunmehr eine volle fiktive Verhandlungsgebühr gezahlt werden, weil ein
Unterschied zu den Fällen des § 35 BRAGO nicht ersichtlich war. Damit erfolgte gebührenrechtlich eine Gleichstellung
von Gerichtsbescheiden (§§ 84 Abs. 1 VwGO, 105 Abs. 1 SGG) mit den Fällen des § 35 BRAGO. Dies zeigt, dass
sich der Gesetzgeber historisch von zwei Gesichtspunkten leiten ließ. Einmal sollten die Anwälte für die erwartete,
aber ausgefallene Verhandlung dennoch eine Terminsgebühr erhalten (so beim Gerichtsbescheid). Zum anderen wollte
der Gesetzgeber aber auch die Bereitschaft der Anwälte fördern, durch ihr prozessuales Verhalten dem Gericht
Verhandlungen zu ersparen (wie beim angenommenen Anerkenntnis nach § 307 ZPO oder beim Verzicht auf eine
mündliche Verhandlung nach § 495a ZPO). Damit erklärt sich dann auch die Einführung der Ziff. 3 in Nr. 3106 VV-
RVG und der Ziff. 3 in Abs. 1 der Nr. 3104 VV-RVG, wo für die Sozialgerichtsbarkeit ebenfalls die Annahme eines
Anerkenntnisses und der dadurch bewirkte Wegfall einer mündlichen Verhandlung gebührenrechtlich ausgeglichen
wird. Konsequent hat der Gesetzgeber dann auch die fiktive Verhandlungsgebühr bei der Verfahrensgestaltung nach §
153 Abs. 4 SGG entfallen lassen. Denn ein Beschluss nach dieser Vorschrift liegt allein im Ermessen des Gerichts;
die Parteien haben es nicht in ihrer Hand, ob eine mündliche Verhandlung durchgeführt wird oder nicht. Aus der
Entstehungsgeschichte der Nrn. 3104 und 3106 VV-RVG ergeben sich somit Hinweise, dass die Nr. 3106 Ziff. 3 VV-
RVG nur in Verfahren mit vorgeschriebener mündlicher Verhandlung anwendbar ist.
Schließlich lässt auch der Sinn und Zweck der Vorschrift nur diese Auslegung zu. Dem Rechtsanwalt, der in den
Verfahren mit vorgeschriebener mündlicher Verhandlung eine Verhandlungsgebühr erwarten kann, soll diese auch
zukommen, wenn das Verfahren ohne mündliche Verhandlung endet. Zum anderen soll aber auch die Bereitschaft zur
Vermeidung unnötiger mündlicher Verhandlungen gefördert werden. Wenn eine mündliche Verhandlung aber nicht
vorgeschrieben ist, wie z. B. in den Beschlussverfahren nach § 86b Abs. 4 SGG, kann dieser Gedanke nicht greifen.
In solchen Verfahren erspart der Anwalt durch sein Verhalten dem Gericht keine vorgeschriebene Verhandlung. Der
Anwalt erwartet auch in diesen Verfahren keine Terminsgebühr.
Der Beschwerdegegnerin ist zuzugeben, dass die Neigung zu unstreitigen Erledigungen noch mehr gesteigert würde,
wenn auch in Beschlussverfahren des einstweiligen Rechtsschutzes eine Gebühr für das angenommene Anerkenntnis
eingeführt würde. Das müsste dann aber eine Erledigungsgebühr sein. Eine fiktive Terminsgebühr ist hierfür nicht das
richtige Mittel.
So wie der Gesetzgeber die Nr. 3106 Ziff. 3 VV-RVG formuliert und verstanden hat, ist daher eine fiktive
Verhandlungsgebühr nur in Verfahren mit vorgeschriebener mündlicher Verhandlung zuzugestehen.
Im vorliegenden Fall ist daher keine fiktive Verhandlungsgebühr nach Nr. 3106 VV-RVG zu berücksichtigen. Die
Anwältin ist mit 226,10 EUR zu vergüten.
Unabhängig von der oben getroffenen Entscheidung weist der Senat auf Folgendes hin: Selbst wenn man der
Rechtsauffassung des Sozialgerichts folgt, bestimmt sich die Höhe der fiktiven Terminsgebühr keinesfalls nach der
Höhe der Verfahrensgebühr. Die Höhe der fiktiven Terminsgebühr ist nach ständiger Rechtsprechung des Senats so
zu bestimmen, dass alle Kriterien des § 14 RVG auf der Basis einer fingierten mündlichen Verhandlung durchzuprüfen
sind.
Das Verfahren über die Beschwerde ist gebührenfrei; Kosten werden nicht erstattet (§ 56 Abs. 2 Sätze 2 und 3 RVG).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).