Urteil des LSG Schleswig-Holstein vom 10.07.2003

LSG Shs: verfassungskonforme auslegung, adoptivmutter, adoption, eltern, geburt, gestaltungsspielraum, sozialstaatsprinzip, ausnahme, einzelrichter, adoptivkind

Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht
Urteil vom 10.07.2003 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Schleswig S 2 EG 4/01
Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht L 5 EG 2/03
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Schleswig vom 13. August 2002 aufgehoben. Die
Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt für die Zeit vom 1. September 1998 bis 31. März 2000 Erziehungsgeld für ihren Neffen Jan
Niklas P (geb. 1. September 1996).
Nachdem der Vater des Kindes im Januar 1997 verstorben war, erlag die Mutter am 10. März 1998 einem
Krebsleiden. Seitdem versorgt die Klägerin das Kind. Sie ist als dessen Betreuerin eingesetzt und besitzt das
Personensorgerecht (Bestallung und Beschluss des Amtsgerichts Flensburg vom 3. April 1998). Die Klägerin hat
niemals vorgehabt, das Kind zu adoptieren.
Am 15. Mai 1998 beantragte die Klägerin für das zweite Lebensjahr des Kindes Erziehungsgeld. Der Beklagte zog die
Unterlagen der Erziehungsgeldkasse H bei, die Erziehungsgeld für das erste Lebensjahr gezahlt hatte. Für das zweite
Lebensjahr hatte die Kasse zunächst ebenfalls ungekürztes Erziehungsgeld gewährt (Bescheid vom 24. Oktober
1997), dann aber die Bewilligung mit Aufhebungsbescheid vom 24. März 1998 nach § 48 Sozialgesetzbuch 10. Teil
(SGB X) wegen des inzwischen eingetretenen Todes der Mutter für die Monate April bis August 1998 wieder
aufgehoben.
Mit Bescheid vom 15. Juni 1998 gewährte der Beklagte der Kläge-rin ungekürztes Erziehungsgeld für die Monate April
bis August 1998. Für die Zeit davor lehnte der Beklagte die Leistung ab, weil die Klägerin das Kind zu der Zeit noch
nicht betreut und erzogen habe. Dieser Bescheid wurde rechtsverbindlich.
Am 22. Dezember 2000 beantragte die Klägerin nach § 44 SGB X Erziehungsgeld für 24 Monate. Sie stützte sich auf
§ 4 Abs. 1 Satz 3 Bundeserziehungsgeldgesetz (BErzGG) in der Fassung vor dem 1. Januar 2001 und machte
geltend, sie sei wie eine Adoptivmutter zu betrachten. Der Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 16. Januar
und Widerspruchsbescheid vom 31. Juli 2001 ab. Er berief sich auf das Urteil des Bundessozialgerichts vom 9.
September 1992 - 14b/4 REg 15/91 und führte aus, dass die Klägerin nach dem klaren Gesetzeswortlaut nicht wie
eine Adoptivmutter zu behandeln sei.
Die Klägerin hat deswegen am 31. August 2001 beim Sozialgericht Schleswig Klage eingereicht und zu deren
Begründung ihren Vor-trag wiederholt und vertieft.
Sie hat beantragt,
den Bescheid vom 16. Januar 2001 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 31. Juli 2001 aufzuheben und
den Beklagten zu verurteilen, unter Abänderung des Bescheides vom 15. Juni 1998 ihr Erziehungsgeld für Jan Niklas
P für die Zeit vom 1. September 1998 bis 31. März 2000 zu gewähren.
Der Beklagte hat sich auf die angefochtenen Bescheide berufen und hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das Sozialgericht hat mit dem Urteil vom 13. August 2002 der Klage stattgegeben. In den Entscheidungsgründen ist
im Wesent-lichen ausgeführt: Der Beklagte hätte seinerzeit mit Bescheid vom 15. Juni 1998 der Klägerin
Erziehungsgeld bis zum 31. März 2000 gewähren müssen. Das ergebe eine verfassungskonforme Auslegung der in
Betracht kommenden Vorschriften. Danach sei das Kind Jan Niklas wie ein Adoptivkind in die Obhut der Klägerin
gekommen. Ziel des BErzGG sei die wirtschaftliche Unterstützung des Erziehenden. Die Erziehungs- und
Betreuungsleistungen hinderten den Erziehenden an einer vollen Erwerbstätigkeit, wofür ihm ein wirtschaftlicher
Ausgleich zufließen solle. Eine vergleichbare Lage sei bei der Klägerin gegeben. Dies gelte insbesondere deshalb,
weil die Klägerin mit dem Kind durch ein enges familiäres Band dauerhaft verbunden sei.
Gegen dieses dem Beklagten am 31. Januar 2003 zugestellte Urteil richtet sich seine Berufung, die am 25. Februar
2003 beim Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht eingegangen ist. Der Beklagte beruft sich erneut auf die
Rechtsprechung des Bun-dessozialgerichts und wiederholt mit rechtlichen Ausführungen, dass die Klägerin nicht einer
Adoptivmutter gleichzusetzen sei.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Schleswig vom 13. August 2002 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Klägerin schließt sich dem Urteil des Sozialgerichts an und hebt insbesondere hervor, dass sie die
Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 BErzGG in vollem Umfang erfülle.
Dem Senat haben die die Klägerin betreffenden Verwaltungsakten und die Richtlinien des Beklagten zur Durchführung
des Bundeserziehungsgeldgesetzes für Geburten ab 1. Januar 2001 vorgele-gen. Diese Unterlagen sind Gegenstand
der mündlichen Verhandlung gewesen. Auf ihren Inhalt wird im Übrigen Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Mit Einverständnis der Beteiligten ergeht die Entscheidung durch den Vorsitzenden als Einzelrichter (§ 155 Abs. 3
Sozialgerichtsgesetz - SGG -).
Die Berufung ist zulässig und begründet. Die Klägerin hat für die Zeit vom 1. September 1998 bis 31. März 2000
keinen Anspruch auf Erziehungsgeld für Jan Niklas P. Da das Kind vor dem 1. Januar 2001 geboren ist, regelt sich
der Anspruch auf Erziehungsgeld noch nach der vor diesem Stichtag geltenden Fassung des BErzGG (§ 24 Abs. 1
BErzGG i.d.F. vom 12. Oktober 2000 - BGBl. I, S. 1426). Diese Gesetzesfassung wird nachfolgend zitiert.
Über den Anspruch auf Erziehungsgeld für Jan Niklas hat der Beklagte bereits mit Bescheid vom 15. Juni 1998
entschieden. Dieser Bescheid ist rechtsverbindlich geworden. Die Bindungswirkungen zu durchbrechen, ist nur unter
den Voraussetzungen des § 44 SGB X möglich. Dazu hätte die Beklagte das Recht unrichtig anwenden müssen.
Diese Feststellung lässt sich nicht treffen.
Die Klägerin behauptet, Erziehungsgeld für 24 Monate beginnend mit der Inobhutnahme von Jan Niklas stehe ihr aus
zwei Gründen zu, weil sie erstens die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 BErzGG erfülle und weil sie
zweitens wie eine Adoptivmutter zu betrachten sei und sich infolgedessen Beginn und Dauer des Erziehungsgeldes
nach § 4 Abs. 1 Satz 3 BErzGG zu richten hätten. Beide Begründungen greifen jedoch nicht durch.
1. Zunächst kann sich der Anspruch nicht nach der Inobhutnahme im März 1998 richten, weil die Klägerin zu der Zeit
noch nicht die Personensorge hatte. Diese erhielt sie erst am 3. April 1998. Die tatsächliche Inobhutnahme reicht zur
Anspruchsbegründung nicht aus (BSG vom 14. August 2000 - B 14 EG 4/99 R; BVerfG vom 22. Dezember 1993 - 1
BvR 54/93). Erst vom 3. April 1998 an sind die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 BErzGG erfüllt. Von
diesem Tag an regeln sich Beginn und Ende des Anspruchs nach § 4 Abs. 1 S. 1 und 2 BErzGG. Diese Vorschriften
greifen ein, wenn die Anspruchsberechtigung aus § 1 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 BErzGG feststeht. Das folgt aus dem
Wortlaut und der Systematik der §§ 1 und 4 BErzGG. Der Gesetzgeber hat mit § 1 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 BErzGG nicht
nur die leiblichen Eltern erfasst. Er hat erkannt, dass es Lebenssachverhalte gibt, in denen nicht die leiblichen
Elternteile, sondern andere Personen mit der Personensorge betraut sind und das Kind betreuen und erziehen. Auch
diesen Personen soll das Erziehungsgeld zugute kommen. § 1 Abs. 1 BErzGG enthält also bewusst einen weiten
Begriff des "Berechtigten", der nicht nur die leiblichen Eltern mit dem durch die Geburt vermittelten
Personensorgerecht umfasst, sondern auch alle Formen des behördlich übertragenen Personensorgerechts.
Hinsichtlich Beginn und Dauer des Erziehungsgeldes ist für diesen Berechtigtenkreis die Regelung in § 4 Abs. 1 S. 1
und 2 BErzGG gedacht. Denn § 4 Abs. 1 Satz 3 BErzGG ist ausdrücklich nur mit § 1 Abs. 3 Nr. 1 BErzGG verknüpft,
wie der Wortlaut eindeutig besagt. Diese Vorschrift ist eine Ausnahme von § 1 Abs. 1 BErzGG und betrifft Kinder, für
die eine Adoption eingeleitet ist. Für diese Ausnahmeregel in § 1 Abs. 3 Nr. 1 BErzGG hat es der Gesetzgeber für
nötig erachtet, auch hinsichtlich Beginn und Dauer des Erziehungsgeldes Ausnahmevorschriften zu schaffen. Diese
sind in § 4 Abs. 1 Satz 3 BErzGG enthalten. § 1 Abs. 3 Nr. 1 BErzGG trifft auf die Klägerin nicht zu, weil sie niemals
vorhatte, Jan Niklas zu adoptieren. Infolgedessen ist auf sie auch § 4 Abs. 1 Satz 3 BErzGG nicht anwendbar. Für
sie gilt § 4 Abs. 1 Satz 1 BErzGG, so dass sie nach dem zweiten Lebensjahr des Kindes keinen Anspruch hat.
2. Die Klägerin ist auch nicht wie eine Adoptivmutter zu betrachten. Diese Sichtweise als verfassungskonforme
Auslegung anzubringen, bedeutet von der Klägerin gegen den klaren Wortlaut zu argumentieren. Wo der Wortlaut aber
nicht interpretationsbedürftig ist, findet auch keine verfassungskonforme Auslegung statt. In Wirklichkeit will die
Klägerin eine analoge Anwendung des § 4 Abs. 1 Satz 1 BErzGG auf ihren Fall. Eine analoge Anwendung setzt aber
eine planwidrige Lücke im Gesetz voraus. Diese besteht nicht. Wie oben dargelegt hat der Gesetzgeber in § 1 Abs. 1
Nr. 1 bis 4 BErzGG einen weiten Berechtigtenbegriff eingeführt, der auch Personen mit übertragenem
Personensorgerecht und damit auch die Klägerin umfasst. Es liegt ein geschlossenes Regelwerk vor, so dass eine
analoge Anwendung rechtlich unzulässig ist.
3. Die vom Gesetzgeber getroffenen Regelungen verstoßen auch nicht gegen das Grundgesetz (GG). Es ist
berechtigt, zwischen betreuenden Personen mit Personensorgerecht und solchen, die eine Adoption eingeleitet haben,
zu unterscheiden. Mit § 4 Abs. 1 Satz 3 BErzGG begründet der Gesetzgeber neben der Geburt den weiteren
Leistungsfall der Inobhutnahme durch Annehmende. Wie die Verlängerungen des möglichen Leitungszeitraums bis zur
Vollendung des siebenten und neuerdings des achten Lebensjahres zeigen, bezweckt diese Vorschrift aus
sozialpolitischen Gründen die Förderung der Adoptionen. Es liegt im Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, die
relativ seltenen Fälle der Adoptionspflege aus sozialpolitischen Gründen besonders zu fördern. Es sind weder Art. 3
oder 6 des Grundgesetzes noch das Sozialstaatsprinzip verletzt.
Nach alledem ist die Berufung mit der Kostenentscheidung aus § 193 Abs. 1 und 4 SGG begründet. Das
sozialgerichtliche Urteil ist aufzuheben.
Der Senat hält es aber für eine grundsätzliche Frage, ob Perso-nensorgeberechtigte im Rahmen des § 4 Abs. 1
BErzGG wie Annehmende zu behandeln sind. Er lässt deshalb die Revision nach § 160 Abs. 2 SGG zu.