Urteil des LSG Sachsen vom 01.02.2010

LSG Fss: nachtarbeit, verpflegung, bestreitung, verkündung, rechtsnorm, tarifvertrag, ausnahme, einheit, zivilprozessordnung, nettoeinkommen

Sächsisches Landessozialgericht
Beschluss vom 01.02.2010 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Leipzig S 23 AS 4049/08
Sächsisches Landessozialgericht L 7 AS 410/09 NZB
I. Auf die Beschwerde der Kläger wird die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Leipzig vom 5.
Juni 2009 zugelassen. Das Beschwerdeverfahren wird als Berufungsverfahren fortgeführt.
II. Die Kostenentscheidung bleibt der Entscheidung im Berufungsverfahren vorbehalten.
Gründe:
Die Beschwerde der Kläger und Beschwerdeführer (im Folgenden: Kläger) gegen die Nichtzulassung der Berufung im
Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Leipzig (SG) vom 5. Juni 2009 ist nach § 145 Abs. 1 Satz 1
Sozialgerichtsgesetz (SGG) i.V.m. § 105 Abs. 2 Satz 1 SGG statthaft (vgl. z.B. Leitherer in: Meyer-
Ladewig/Keller/Leitherer, 9. Auflage 2009, § 105 Rn 16 m.w.N. zum Streitstand und § 145 Rn 3c).
Die Nichtzulassungsbeschwerde ist auch im Übrigen zulässig. Sie ist innerhalb der Frist des § 145 Abs. 1 Satz 2
SGG eingelegt worden. Des Weiteren ist die Berufung der Kläger nicht schon nach § 143 SGG statthaft. Denn die
Kläger begehren Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für August 2008 bis Januar 2009 ohne die
bedarfsmindernde Berücksichtigung von Sonn- und Feiertagszuschlägen in Höhe von insgesamt 285,- EUR, die der
Klägerin zu 2. von Januar bis Juni 2008 in Höhe von 30,- EUR bis zu 60,- EUR monatlich gezahlt wurden und von der
Beklagten und Beschwerdegegnerin (im Folgenden: Beklagten) bei der vorläufigen Bewilligung auf der Grundlage eines
monatlichen Durchschnittskommens als Einkommen berücksichtigt wurden. Somit übersteigt der Wert des
Beschwerdegegenstandes nicht 750,- EUR und bedarf die Berufung der Zulassung nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1
SGG (in der ab dem 1. April 2008 geltenden Fassung). Die Voraussetzungen der Ausnahme hiervon nach § 144 Abs.
1 Satz 2 SGG sind nicht gegeben. Schließlich sind die Kläger beschwert, obwohl die Bewilligung der o.g. Leistungen
nur vorläufig erfolgte (vgl. hierzu z.B. Bundessozialgericht - BSG -, Urteil vom 21. Juli 2009 - B 7 AL 49/07 R, Rn 17).
Die Beschwerde ist begründet.
Nach § 144 Abs. 2 SGG ist die Berufung u.a. zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (Nr.
1) oder das Urteil von einer Entscheidung u.a. des (nicht: eines) Landessozialgerichts (LSG) oder des BSG abweicht
und auf dieser Abweichung beruht.
Zwar wird in der Begründung der Beschwerde weder die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dargelegt noch
eine Entscheidung des Sächsischen Landessozialgerichts (Sächs. LSG) als Berufungsgericht benannt (vgl. § 144
Abs. 2 Nr. 2 SGG und hierzu z.B. Leitherer, a.a.O., § 144 Rn 30), von der das SG abgewichen sei. Jedoch schadet
der Verstoß gegen die Begründungsobliegenheit nach § 145 Abs. 2 SGG hier, anders als z.B. bei § 144 Abs. 2 Nr. 3
SGG und § 160a Abs. 2 SGG, nicht. Des Weiteren waren zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats (vgl. hierzu
z.B. Leitherer, a.a.O., § 145 Rn 7b) Gründe für die Zulassung der Berufung gegeben.
Grundsätzliche Bedeutung kommt einem Rechtsstreit zu, wenn er eine klärungsbedürftige und klärungsfähige
Rechtsfrage aufwirft, die sich in einer unbestimmten Vielzahl weiterer Fälle stellen kann und deshalb das abstrakte
Interesse der Allgemeinheit an der einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts berührt oder anders
ausgedrückt, wenn es maßgebend auf eine konkrete, über den Einzelfall hinausgehende Rechtsfrage ankommt, deren
Klärung im Interesse der Einheit oder der Fortbildung des Rechts geboten erscheint (vgl. z.B.
Bundesverfassungsgericht - BVerfG -, Beschlüsse vom 4. November 2008 - 1 BvR 2587/06, Rn 19 zu § 522 Abs. 2
Satz 1 Nr. 2 Zivilprozessordnung und vom 21. Januar 2009 - 1 BvR 2524/06, Rn 45 zu § 124 Abs. 2 Nr. 3
Verwaltungsgerichtsordnung sowie BSG, Beschlüsse vom 30. Juli 2009 - B 1 KR 22/09 B, Rn 4 und vom 16.
September 2009 - B 9 VS 6/09 B, Rn 3 - jeweils zu § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
Die hier streitige Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung. Denn die Rechtsfrage, ob Sonn- und
Feiertagszuschläge als Einkommen im Sinne des § 11 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II)
bedarfsmindernd zu berücksichtigen sind, ist bestimmt genug, (abstrakt) klärungsbedürftig, (konkret) klärungsfähig
und hat eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung (ebenso z.B. LSG für das Land Nordrhein-Westfalen,
Beschluss vom 6. Juli 2009 - L 7 B 157/09 AS NZB, Rn 6 und Sächs. LSG, Urteile vom 29. Oktober 2009 - L 2 AS
99/08, Rn 155 - Revisionsverfahren unter dem Aktenzeichen B 4 AS 90/09 R anhängig -, L 2 AS 100/08, Rn 155 -
Revisionsverfahren unter dem Aktenzeichen B 4 AS 89/09 R anhängig - und L 2 AS 101/08, Rn 155 -
Revisionsverfahren unter dem Aktenzeichen B 4 AS 91/09 R anhängig -).
Weiterhin weicht der Gerichtsbescheid des SG von den vorgenannten drei Entscheidungen des 2. Senats des Sächs.
LSG vom 29. Oktober 2009 ab. Denn der 2. Senat des Sächs. LSG hat darin - ohne seinen vom SG zitierten, nicht
veröffentlichten und insoweit Zweifel äußernden Beschluss vom 10. Dezember 2007 - L 2 B 442/07 AS-ER, Seite 9f,
zu erwähnen - (jeweils Rn 150) ausgeführt: "Der Senat geht übereinstimmend mit dem SG Dresden davon aus, dass
bei der Berechnung des anzurechnenden Einkommens die an den Kläger zu 1. gezahlten Nachtarbeits- sowie Sonn-
und Feiertagszuschläge nicht zum einzusetzenden Nettoeinkommen zählen. Da weder der Arbeitsvertrag noch der
Tarifvertrag Bestimmungen und Ausführungen zu dem Grund der Zuschläge enthält, geht der Senat davon aus, dass
Hintergrund der Vereinbarung die steuerlichen Regelungen sind. Zuschläge für Nachtarbeit sowie Sonn- und
Feiertagszuschläge sind gemäß § 3b Abs. 1 EStG (begrenzt) steuerlich privilegierte Aufwandsentschädigungen und
daher zweckbestimmte Einnahmen i.S.d. § 11 Abs. 3 Nr. 1a SGB II. Sie sind insbesondere dazu bestimmt, einen zu
diesen Zeiten entstehenden Verpflegungsmehraufwand abzudecken. Zwar ist der Beklagten darin Recht zu geben,
dass Leistungen für Verpflegung grundsätzlich in der Regelleistung enthalten und durch diese abgedeckt sind (vgl.
auch Hasske in: Estelmann, SGB II, Stand November 2007, § 11 Randnr. 49). Wie jedoch insbesondere § 21 SGB II
zeigt, gilt diese Regel jedoch nur für den Grundbedarf (gesunde Vollkost); sie gilt jedoch gerade nicht für
beschäftigungsbedingte Mehrbedarfe bzw. einen beschäftigungsbedingten Mehraufwand für besondere Verpflegung zu
bestimmten Zeiten. Nachtarbeit beansprucht den Menschen stärker als Arbeit, die am Tage geleistet wird; sie
erfordert deshalb zusätzliche Mahlzeiten und insoweit besondere Aufwendungen; auch die Zuschläge für Arbeit an
Sonn- und Feiertagen haben diesen Aufwandsentschädigungscharakter, d. h. sie sind zweckbestimmt im Sinne der
Vorschrift (so auch Thüringer LSG, Beschluss vom 08.03.2005 - L 7 AS 112/05 ER - zitiert nach Juris m.w.N., SG
Chemnitz, Urteil vom 22.06.2008 – S 22 AS 4269/07 -, zitiert nach Juris, SG Lüneburg, Urteil vom 25.10.2007 - S 28
AS 1055/07 - veröffentlicht in Sozialgerichtsbarkeit; Brühl in: Münder (Hrsg.), Lehr– und Praxiskommentar zum SGB
II, 3. Aufl., § 11 Randnr. 68). Denn zweckbestimmt i. S. d. § 11 Abs. 3 Nr. 1 a SGB II ist eine Leistung bereits dann,
wenn ihr eine bestimmte, vom Gesetzgeber erkennbar gebilligte Zweckrichtung zu eigen ist, die nicht in der
Bestreitung des Lebensunterhaltes besteht, so dass sie verfehlt würde, wenn der Empfänger sie über den Weg der
Einkommensanrechnung hierzu verwenden müsste und dadurch gehindert wäre, sie ihrer eigentlichen Bestimmung
zufließen zu lassen (Thüringer LSG, Beschluss vom 08.03.2005 a.a.O.). Die (begrenzte) steuerrechtliche
Privilegierung der Sonn- und Feiertagszuschläge durch § 3b Abs. 1 EStG offenbart eine vom Gesetzgeber gebilligte
Zweckrichtung. Die genannten Zuschläge dienen also einem anderen Zweck als die Regelleistungen nach dem SGB II
und könnten daher nicht als Einkommen i.S.d. § 11 SGB II angerechnet werden."
Schließlich ist das SG von den Vorlagebeschlüssen des BSG vom 27. Februar 2009 - B 14/11b AS 9/07 R und B 14
AS 5/08 R (beim BVerfG unter den Aktenzeichen 1 BvR 3/09 und 1 BvR 4/09 anhängig, Verkündung der
Entscheidung für den 9. Februar 2010 angekündigt) abgewichen. Denn es hat - trotz des Ablaufes der vom BSG
postulierten Übergangsfrist (vgl. Urteil vom BSG, Urteil vom 7. November 2006 - B 7b AS 8/06 R, Rn 11), der
ausschließlichen Klageerhebung durch den Kläger zu 1., vertreten durch seine Bevollmächtigte als Fachanwältin für
Sozialrecht, und deren mangelnden Reaktion auf die gerichtliche Nachfrage vom 4. November 2008 nach evtl.
weiteren, klagenden Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft - u.a. die 1993 und 1998 geborenen Kläger zu 3. und 4. als
weitere Beteiligte des Klageverfahrens von Amts wegen aufgenommen. Danach hat das SG auch über die
Leistungsansprüche der Kläger zu 2. und 3. entschieden, obwohl das BSG die hierfür - zumindest für den Kläger zu 3.
- entscheidungserhebliche Rechtsnorm (§ 28 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 SGB II) für verfassungswidrig hält. Eine Begrenzung
des Streitgegen-standes auf einzelne Berechnungselemente der von den Klägern geltend gemachten Ansprüche auf
höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts scheidet nach allgemeiner Auffassung aus. Ebenso sind keine
tatsächlichen Anhaltspunkte für "unstreitig gestellte" Teilelemente der geltend gemachten Ansprüche (vgl. hierzu z.B.
BSG, Urteile vom 7. November 2006 - B 7b AS 8/06 R, Rn 22, und 8. Juli 2009 - B 11 AL 20/08 R, Rn 17) erkennbar.
Das Beschwerdeverfahren wird als Berufungsverfahren fortgesetzt; der Einlegung einer Berufung durch die Kläger
bedarf es nicht (§ 145 Abs. 5 Satz 1 SGG).
Die Kostenentscheidung bleibt der Entscheidung im Berufungsverfahren vorbehalten (vgl. z.B. Leitherer, a.a.O., § 145
Rn 10).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).