Urteil des LSG Sachsen vom 22.12.2009

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Sächsisches Landessozialgericht
Beschluss vom 22.12.2009 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Leipzig S 5 AS 3625/09
Sächsisches Landessozialgericht L 2 AS 711/09 B ER
I. Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Sozialgerichts Leipzig vom 05.11.2009 aufgehoben.
Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, den Antragstellern vorläufig bis zur bestands- bzw. rechtskräftigen
Entscheidung in der Hauptsache die Zustimmung zum Umzug in die Wohnung M.straße 29 in L. zu erteilen,
Umzugskosten in Höhe von 75,00 EUR als Zuschuss und die Mietkaution in Höhe von 568,00 EUR als Darlehen zu
gewähren.
II. Die Antragsgegnerin trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragsteller für das Antrags- und das
Beschwerdeverfahren.
Gründe:
I.
Die Beteiligten streiten im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes über die vorläufige Erteilung einer Zustimmung
zum Umzug, die vorläufige Übernahme von Umzugskosten als Zuschuss und einer Mietkaution als Darlehen.
Die 1982 geborene Antragstellerin zu 1 (Ast. zu 1) und der 1979 geborene Antragsteller zu 2 (Ast. zu 2) beziehen
Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) von der
Antragsgegnerin (Ag.). Die Ast bewohnen eine 92 m² große Dreizimmerwohnung an der Ecke G.-Sch. -
Straße/E.straße in L ... Diese Wohnung verfügt über eine Ofenheizung und ein nicht beheizbares Bad. Küche und Bad
der Wohnung sind von Schimmel befallen. Die Ast. zahlen hierfür eine Kaltmiete in Höhe von 184,00 EUR/Monat und
Nebenkosten in Höhe von 101,20 EUR/Monat zuzüglich der Kosten für Brennstoffe.
Am 14.07.2009 zeigten die Ast. der Ag. die Schwangerschaft der Ast. zu 1 an. Voraussichtlicher Geburtstermin sei
der 13.01.2010.
Am 20.07.2009 beantragten die Ast. die Erteilung der Zustimmung zum Umzug in die 67,57 m² große
Dreizimmerwohnung M.straße 29 in L. , die Übernahme der Umzugskosten in Höhe von 75,00 EUR und die
Gewährung eines Darlehens für die Mietkaution in Höhe von 568,00 EUR. Für die Wohnung seien eine Kaltmiete in
Höhe von 284,00 EUR/Monat, Nebenkosten in Höhe von 87,84 EUR/Monat und Heizkosten in Höhe von 67,57
EUR/Monat zu entrichten.
Die Ag. lehnte die Erteilung der Zustimmung zum Umzug und die Übernahme der Umzugskosten und der Kaution mit
Bescheid vom 24.07.2009 ab. Die Wohnung sei zwar angemessen, jedoch bestehe keine Notwendigkeit des Umzugs,
da die Ast. bereits über ausreichenden Wohnraum verfügten.
Im Widerspruchsverfahren machten die Ast. geltend, der qualitative Zustand ihrer Wohnung mache einen Umzug
erforderlich. In der Küche und im Bad sei Schimmelbildung vorhanden. Hiervon bzw. durch die Bekämpfung der
Schimmelbildung mit chemischen Mitteln gehe eine Gesundheitsgefahr für die hochschwangere Ast. zu 1 bzw. das
Kind aus. Das Bad sei nicht, die übrige Wohnung nur durch Ofenheizung beheizbar. Zudem befinde sich die Wohnung
an der Ecke G.-Sch.-Straße/E.straße. Alle Fenster gingen zur Straßenseite hinaus. Es bestehe auf Grund des
regelmäßigen Straßenbahnverkehrs auf der G.-Sch.-Straße ein extremer Lärmpegel. Den Widerspruch der Ast. wies
die Ag. mit Widerspruchsbescheid vom 12.10.2005 zurück. Hiergegen haben die Ast. am 23.10.2009 Klage zum
Sozialgericht Leipzig (SG) erhoben.
Am selben Tag haben sie beim SG einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt. Zur
Glaubhaftmachung des extremen Lärmpegels haben sie eine veröffentlichte Lärmkarte beigefügt. Die
Reservierungsvereinbarung für die neue Wohnung sei zeitlich befristet.
Das SG hat den Antrag der Ast. auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit Beschluss vom 05.11.2009 abgelehnt.
Die Ag. sei nicht zur Erteilung einer Zusicherung zum Umzug in die neue Unterkunft verpflichtet. Die Ast. bewohnten
mit 92 m² eine auch für drei Personen ausreichend große Wohnung. Da die Wohnung bereits seit Mietbeginn von
Schimmel befallen sei und die Ast. sich dennoch seit Jahren in der Wohnung aufhielten, sei die Erforderlichkeit eines
unverzüglichen Umzugs nicht gegeben. Der Mietmangel sei gegenüber dem Vermieter geltend zu machen.
Gegen den dem Prozessbevollmächtigten der Ast. am 12.11.2009 zugestellten Beschluss hat dieser am 20.11.2009
Beschwerde beim Sächsischen Landessozialgericht eingelegt.
Die Ag. erachtet den erstinstanzlichen Beschluss für zutreffend.
Dem Senat liegen die Verfahrensakten beider Instanzen sowie die Verwaltungsakte der Ag. vor.
II.
Die zulässige Beschwerde der Ast. ist begründet. Daher war der Beschluss des SG vom 05.11.2009 aufzuheben. Die
Ag. war zu verpflichten, den Ast. vorläufig bis zur bestands- bzw. rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache die
Zustimmung zum Umzug in die neue Wohnung in der M.straße 29 in L. zu erteilen, die Umzugskosten als Zuschuss
und die Mietkaution als Darlehen zu übernehmen.
Den Ast. steht nach summarischer Prüfung im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ein Anspruch auf
vorläufige Erteilung der Zustimmung zum Umzug und auf vorläufige Übernahme der Umzugskosten als Zuschuss
sowie der Mietkaution als Darlehen zu.
Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG können die Gerichte auf Antrag, der gemäß § 86b Abs. 3 SGG bereits vor
Klageerhebung zulässig ist, zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis eine
einstweilige Anordnung erlassen, wenn die Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Dazu ist
gemäß § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) sowohl der durch die Anordnung zu
sichernde, im Hauptsacheverfahren geltend gemachte Anspruch (Anordnungsanspruch) als auch der Grund, weshalb
die Anordnung ergehen und dieser Anspruch vorläufig bis zur Entscheidung der Hauptsache gesichert werden soll
(Anordnungsgrund), glaubhaft zu machen. Gem. § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG ist § 929 ZPO entsprechend anzuwenden.
1. Die Ast. haben einen Anordnungsanspruch für die vorläufige Erteilung der Zustimmung zum Umzug sowie die
vorläufige Übernahme der Umzugskosten als Zuschuss und der Mietkaution als Darlehen glaubhaft gemacht.
Gemäß § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II werden Leistungen für Unterkunft und Heizung in Höhe der tatsächlichen
Aufwendungen erbracht, soweit diese angemessen sind. Erhöhen sich nach einem nicht erforderlichen Umzug die
angemessenen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung, werden die Leistungen gem. § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II
weiterhin nur in Höhe der bis dahin zu tragenden angemessenen Aufwendungen erbracht. Nach § 22 Abs. 2 SGB II
soll vor Abschluss eines Vertrages über eine neue Unterkunft der erwerbsfähige Hilfebedürftige die Zusicherung des
für die Leistungserbringung bisher örtlich zuständigen kommunalen Trägers zu den Aufwendungen für die neue
Unterkunft einholen. Der kommunale Träger ist nur zur Zusicherung verpflichtet, wenn der Umzug erforderlich ist und
die Aufwendungen für die neue Unterkunft angemessen sind. Nach § 22 Abs. 3 SGB II können
Wohnbeschaffungskosten und Umzugskosten bei vorheriger Zusicherung durch den örtlich zuständigen kommunalen
Träger übernommen werden. Eine Mietkaution kann bei vorheriger Zustimmung durch den zuständigen kommunalen
Träger übernommen werden. Die Zusicherung soll erteilt werden, wenn der Umzug durch den kommunalen Träger
veranlasst oder aus anderen Gründen notwendig ist und wenn ohne die Zusicherung eine Unterkunft in einem
angemessenen Zeitraum nicht gefunden werden kann. Eine Mietkaution soll als Darlehen erbracht werden.
Bei der begehrten Mietkaution handelt es sich um Wohnungsbeschaffungskosten im Sinne des § 22 Abs. 3 Satz 1
SGB II. Aufwendungen für den Umzug stellen Umzugskosten im Sinne des § 22 Abs. 3 Satz 1 dar.
Den Ast. steht ein Anspruch auf Erteilung der Zusicherung gemäß § 22 Abs. 2 bzw. Abs. 3 SGB II zu. Der Umzug
war zwar nicht vom kommunalen Träger veranlasst. Er war jedoch aus anderen Gründen erforderlich bzw. notwendig
im Sinne der genannten Vorschriften.
Die Erforderlichkeit bzw. Notwendigkeit wird dabei nach einem grundsicherungsrechtlichen Maßstab bemessen, der
strenger ist als das, was den Erwartungen der mit durchschnittlichem bzw. gehobenem Einkommen ausgestatteten
Bevölkerungskreise entspricht (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 02.09.1996 – 6 S 314/96 –, FEVS 47, 325, 326).
Nach der Rechtsprechung wird ein Umzug als erforderlich bzw. notwendig angesehen bei ungünstiger
Wohnflächenaufteilung und bevorstehender Geburt eines weiteren Kindes und wenn die neue Unterkunft angemessen
ist (SG Berlin, Beschluss vom 16.12.2005 – S 37 AS 11501/05 ER –, info also 2006, S. 31; Wieland, in: Estelmann,
SGB II, Stand: 10/2009, § 22, Rdnrn. 53 ff.), bei Summierung unterwertiger Wohnverhältnisse, zu denen neben
schlechten sanitären Verhältnissen auch die mit einer Ofenheizung verbundenen Belastungen für einen älteren,
gesundheitlich angeschlagenen Leistungsbezieher gehören (SG Berlin, Beschluss vom 04.11.2005 – S 37 AS
10013/05 ER –; OVG Lüneburg, Urteil vom 10.02.1987 – 4 B 283/86 –, FEVS 36, 291; Wieland, a. a. O., § 22, Rdnrn.
53 ff. Lang/Link, in: Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Auflage, § 22 Rdnr. 73) und bei Feuchtigkeit in der Wohnung auf
Grund baulicher Mängel (OVG Lüneburg, Urteil vom 18.06.1985 – 4 B 199/84 –, FEVS 36, 32; Lang/Link, in:
Eicher/Spellbrink, a.a.O., § 22 Rdnr. 73).
Unter Berücksichtigung dieser Maßgaben ist nach der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes
vorzunehmenden summarischen Prüfung vorliegend eine Erforderlichkeit bzw. Notwendigkeit des Umzugs zu bejahen.
Es ist eine Summierung unwerter Wohnverhältnisse vorhanden, wozu die lediglich mit Öfen beheizbare Wohnung, das
nicht beheizbare Bad, Feuchtigkeit mit der Folge von Schimmelbefall und der hohe Lärmpegel gehören. Das
Verbleiben in einer derartigen Wohnung wäre den Ast. zwar ohne Neugeborenes angesichts der Tatsache, dass ein
grundsicherungsrechtlicher Maßstab anzulegen ist, der strenger ist als das, was den Erwartungen der mit
durchschnittlichem Einkommen ausgestatteten Bevölkerungsschichten entspricht, zuzumuten. Mit einem
Neugeborenen (Geburtstermin 13.01.2010) ist jedoch die Grenze des auch einem Alg-II-Leistungsempfänger
Zumutbaren überschritten.
2. Die Ast. haben auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Ein Anordnungsgrund besteht, wenn der
Betroffene bei Abwarten bis zur Entscheidung der Hauptsache Gefahr laufen würde, seine Rechte nicht mehr
realisieren zu können oder gegenwärtige schwere, unzumutbare, irreparable rechtliche oder wirtschaftliche Nachteile
erlitte. Die individuelle Interessenlage des Betroffenen, unter Umständen auch unter Berücksichtigung der Interessen
der Bg., der Allgemeinheit oder unmittelbar betroffener Dritter muss es unzumutbar erscheinen lassen, den bzw. die
Betroffenen zur Durchsetzung seines Anspruchs auf das Hauptsacheverfahren zu verweisen (Sächsisches LSG,
Beschluss vom 30.10.2007 – L 2 B 472/07 AS-ER –; Sächsisches LSG, Beschluss vom 19.09.2007 – L 3 B 411/06
AS-ER –).
Angesichts der unmittelbar bevorstehenden Geburt des Kindes und der zeitlich befristeten Reservierung der Wohnung
M.straße 29 in L. durch den Vermieter liegt ein schwerer unzumutbarer Nachteil, der beim Obsiegen in der
Hauptsache nicht wieder gutzumachen wäre, im Verbleibenmüssen in der von Schimmel befallenen Wohnung ohne
beheizbares Bad mit einem Neugeborenen.
Nach alledem war der Beschluss des SG aufzuheben und die Ag. zur vorläufigen Erteilung der Zustimmung zum
Umzug sowie zur vorläufigen Bewilligung der Umzugskosten als Zuschuss und der Mietkaution als Darlehn zu
verpflichten.
Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 193 SGG.
Der Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.