Urteil des LSG Sachsen vom 01.12.2010

LSG Fss: unrichtige rechtsmittelbelehrung, verwaltungsakt, erlass, berufungssumme, vorfrage, handbuch, wiedergabe, original, umdeutung, anhörung

Sächsisches Landessozialgericht
Beschluss vom 01.12.2010 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Dresden S 32 AS 3165/09
Sächsisches Landessozialgericht L 7 AS 524/09
I. Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Dresden vom 21. Juli 2009 wird
verworfen.
II. Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe:
I.
Die Beteiligten streiten darüber, ob beim Kläger und Berufungskläger (im Folgenden: Kläger) Kosten für die
Wahrnehmung des Umgangs mit seinem Kind bei der Berechnung von Leistungen nach Zweiten Buch
Sozialgesetzbuch (SGB II) zu berücksichtigen sind, und ob das Sozialgericht die erstinstanzlichen Klageverfahren
hierzu zu Recht nicht fortgesetzt hat.
Der Kläger bezog von der Beklagten und Berufungsbeklagten (im Folgenden: Beklagte) Leistungen zur Sicherung des
Lebensunterhalts nach dem SGB II für die Zeit von 01.04.2007 bis 30.06.2007 in Höhe von 504,58 EUR und vom
01.07.2007 bis 30.09.2007 in Höhe von 506,58 EUR. Gegen die Berechnung dieser Leistungen im Bescheid vom
15.03.2007 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 02.06.2007 hatte der Kläger Widerspruch eingelegt, den
die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 20.12.2007 (W 1994/07) zurückwies. Der Kläger führte weitere
Widerspruchsverfahren u.a. wegen Bewerbungskosten und Aufhebungs- bzw. Rückforderungsbescheiden.
Gegen den Widerspruchsbescheid vom 20.12.2007 (W 1994/07) hat der Kläger am 24.01.2008 Klage beim
Sozialgericht Dresden erhoben (Az. S 32 AS 679/08). Der Kläger hat weitere Klageverfahren beim Sozialgericht
Dresden geführt.
Nachdem trotz gerichtlicher Aufforderung, die Klage zu begründen, keine Reaktion des Klägers erfolgt ist, hat der
Vorsitzende am 09.04.2008 den Erlass einer Betreibensaufforderung nach § 102 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG)
verfügt. Das entsprechende Schreiben an den Kläger vom 10.04.2008 erging "Auf richterliche Anordnung" und wurde
von der Justizangestellten unterzeichnet. Auf das laut Postzustellungsurkunde am 12.04.2008 zugestellte Schreiben
hat der Kläger am 14.04.2008 mitgeteilt, er verstehe das Schreiben nicht; er habe den angefochtenen Verwaltungsakt
nebst Begründung mehrfach zugesandt. Daraufhin hat das Gericht nochmals um Begründung bezogen auf den Inhalt
des Widerspruchsbescheides vom 20.12.2007 (W 1994/07) gebeten; es sei im vorliegenden Verfahren keine
Rückzahlung sondern die Leistungshöhe streitig. Die Beklagte hat geltend gemacht, die Klage sei bereits unzulässig,
weil verfristet. Daraufhin hat das Gericht um Stellungnahme und Vorlage des Änderungsbescheides vom 02.06.2007
gebeten und mehrfach an die Erledigung erinnert.
Eine weitere "Auf richterliche Anordnung" und von der Justizangestellten unterschriebene Betreibensaufforderung ist
am 01.10.2008 per Einschreiben mit Rückschein ergangen. Nachdem dieses Schreiben zur Gerichtsakte
zurückgelangt war, hat der Vorsitzende in insgesamt fünf Verfahren des Klägers verfügt, erneut eine
Betreibensaufforderung zu fertigen und per Postzustellungsurkunde zuzustellen. Diese sind am 27.10.2008 wiederum
"Auf richterliche Anordnung" ergangen. Mit Schreiben vom 28.10.2008 hat der Kläger im vorliegenden Verfahren
mitgeteilt, dass er das Verfahren weiter betreiben wolle und weitere Informationen bis zum 02.12.2008 in Aussicht
stellt. Am 13.01.2009 ist durch das Gericht "Auf richterliche Anordnung" mitgeteilt worden, dass das Schreiben vom
28.10.2008 der Betreibensaufforderung nicht genüge und dass die Klage als zurückgenommen gelte, wenn der
Betreibensaufforderung nicht bis zum 28.01.2009 Genüge getan sei.
Mit am 02.02.2009 beim Sozialgericht eingegangenem Schreiben hat der Kläger u.a. mitgeteilt, dass nach dem BGB
das Kind das Recht auf Umgang mit jedem Elternteil habe und jeder Elternteil zum Umgang mit seinem Kind
verpflichtet und berechtigt sei. Die Wahrnehmung des Umgangs mit seinem Kind verursache Kosten, diese seien im
Bewilligungsbescheid nicht berücksichtigt. Es ergehe daher der Antrag, den Bescheid entsprechend abzuändern.
Am 04.02.2009 hat der Vorsitzende im Verfahren S 32 AS 679/08 die "Schlussbehandlung Klagerücknahme" verfügt
und dem Kläger mitteilen lassen, dass erst am (richtig: mit Schreiben vom) 31.01.2009 weitere Erklärungen des
Klägers eingegangen seien und zu diesem Zeitpunkt die Klage bereits nach der zwingenden gesetzlichen Vorschrift
des § 102 Abs. 1 Satz 1 SGG als zurückgenommen gegolten habe.
Das Ablehnungsgesuch des Klägers vom 20.02.2009 gegen den Vorsitzenden wegen Befangenheit hat der 4. Senat
des Sächsischen Landessozialgerichts mit Beschluss vom 01.04.2009 als unzulässig verworfen.
Zugleich hat der Kläger am 20.02.2009 gegen "die Entscheidung vom 04.02.2009" Rechtsmittel eingelegt und für den
Fall, dass die Klage dennoch als zurückgenommen gelte, Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand beantragt, weil
eine Betreibung des Verfahrens stattgefunden habe.
Daraufhin ist das Verfahren als Wiederaufnahmeverfahren unter dem Az. S 32 AS 3165/09 WA wiederaufgenommen
und nach vorheriger Anhörung der Beteiligten mit Gerichtsbescheid vom 21.07.2009 festgestellt worden, dass die
Klage als zurückgenommen gelte. Gegen diese Entscheidung sei die Berufung statthaft, ohne dass es einer
Zulassung durch die Kammer bedürfe. Der Tatbestand des § 144 Abs. 1 SGG sei nicht erfüllt.
Gegen den dem Kläger am 22.07.2009 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am Montag, den 24.08.2009,
beim Sächsischen Landessozialgericht Berufung eingelegt.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
die Beklagte unter Aufhebung des Gerichtsbescheids des Sozialgerichts Dresden vom 21.07.2009 sowie unter
Abänderung der Bescheide der Beklagten vom 15.03.2007 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 02.06.2007
in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.12.2007 zu verurteilen, ihm für den Zeitraum 01.04.2007 bis
30.09.2007 höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zu bewilligen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge verwiesen.
II.
Die Berufung ist gemäß § 158 Satz 1 SGG zu verwerfen, da sie nicht statthaft ist. Der Senat hat das ihm in § 158
Satz 2 SGG eingeräumte Ermessen dahin ausgeübt, durch Beschluss statt durch Urteil zu entscheiden.
Gemäß § 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGG in der seit dem 01.04.2008 geltenden Fassung bedarf die Berufung bei einer
Klage, die – wie hier ursprünglich– einen auf Geld oder Sachleistungen gerichteten Verwaltungsakt betrifft, der
Zulassung, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 750,00 EUR nicht übersteigt.
Der Wert des Beschwerdegegenstandes übersteigt 750,00 EUR nicht.
Grundsätzlich hat bereits das Sozialgericht die Frage des Wertes Beschwerdegegenstandes näher zu prüfen (vgl.
Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl., § 144 RdNr. 15a). Mangels prüfbarer Erwägungen des
Sozialgerichts hierzu hat der Senat eigene Erwägungen anzustellen. Bei der Berechnung des Wertes der Beschwer ist
von den Gesamtumständen des erstinstanzlichen Vorbringens und des Berufungsvorbringens auszugehen, es sei
denn, das Begehren ist als missbräuchlich in dem Sinne zu werten, dass hiermit lediglich die Berufungsfähigkeit
erreicht werden soll (vgl. Leitherer, a.a.O., § 144 RdNr. 20 m.w.N.).
Nach Prüfung durch den Senat ergibt sich ein Wert des Beschwerdegegenstandes von unter 750,00 EUR. In der
Sache geht es dem Kläger um höhere Leistungen im hier streitigen Zeitraum von April bis September 2007, weil
Kosten für den Umgang mit seinem Kind nicht berücksichtigt worden seien. Auf die Aufforderung des Gerichts, die für
die Berechnung des damaligen Hilfebedarfs erforderlichen Unterlagen, insbesondere Einkommenserklärungen nebst
den dazugehörigen Belegen bzw. Bestätigungen im Original sowie Nachweise für die im Zusammenhang mit dem
Umgang mit dem Kind entstandenen Kosten vorzulegen, hat der Kläger keine Belege eingereicht. Er hat vielmehr
wiederholt mit gleichlautenden Schreiben gebeten, konkret anzugeben, welche Unterlagen zwingend benötigt würden.
Auch sonst hat der Kläger keine Angaben gemacht, denen entnommen werden könnte, dass ihm überhaupt Kosten im
Zusammenhang mit der Ausübung seines Umgangsrechtes entstanden sind. Damit kann nicht davon ausgegangen
werden, dass die Berufungssumme erreicht ist.
Eine nach § 144 Abs. 1 S. 1 SGG erforderliche Zulassung der Berufung durch das Sozialgericht im Gerichtsbescheid
liegt nicht vor. Weder im Tenor noch in den Entscheidungsgründen des Gerichtsbescheids ist eine Zulassung
ausgesprochen worden. Vielmehr ist das Sozialgericht ausweislich der Begründung davon ausgegangen, dass es
keiner Zulassung bedürfe, weil die Berufung ohne weiteres zulässig sei. Diese Auffassung trifft allerdings nicht zu.
Auch bei Verfahren, die zunächst auf die Fortsetzung eines infolge einer Klagerücknahmefiktion nach § 102 Abs. 2
Satz 1 SGG beendeten Verfahrens gerichtet sind, bestimmt sich der Wert des Beschwerdegegenstandes i.S.d. § 144
Abs. 1 SGG nach dem Streitgegenstand des ursprünglichen Klageverfahrens. Denn dies ist das eigentliche Begehren
des Klägers; der Streit um die Fortsetzung des gemäß § 102 Abs. 2 SGG beendeten Verfahrens stellt insofern
lediglich eine Art Vorfrage bzw. einen Zwischenstreit dar.
Die Berufung ist auch nicht etwa deshalb statthaft, weil sie in der dem Gerichtsbescheid vom 21.07.2009 beigefügten
Rechtsmittelbelehrung unzutreffend als zulässig angesprochen worden, denn eine unrichtige Rechtsmittelbelehrung
kann nicht zur Zulässigkeit eines Rechtsbehelfs führen, der nach der Rechtsordnung nicht vorgesehen ist (z.B.
SächsLSG, Beschluss vom 18.09.2008 – L 7 B 363/08 AS-PKH m.w.N.).
Eine Umdeutung in das etwa zulässig gewesene Rechtsmittel der Nichtzulassungsbeschwerde war nicht
vorzunehmen (vgl. BSG, Urteil vom 20.05.2003 – B 1 KR 25/01, zitiert nach Juris).
Ohne dass es noch darauf ankäme, weist der Senat darauf hin, dass – entgegen der im Prozesskostenhilfebeschluss
vom 15.06.2010 geäußerten Rechtsansicht – die Voraussetzungen für die Annahme einer Klagerücknahmefiktion
i.S.d. § 102 Abs. 2 SGG im ursprünglichen Verfahren S 32 AS 679/08 nicht vorlagen. Zwar waren bei Erlass der
Betreibensaufforderung am 23.10.2008 die Gründe, warum der Kläger eine gerichtliche Überprüfung der angefochtenen
Bescheide begehrte, mangels dessen Mitwirkung für das Sozialgericht nicht ersichtlich. Trotz mehrfacher
Aufforderung war nämlich die Klage auch fast ein Jahr nach ihrer Einlegung nicht begründet worden. Das SGG enthält
zwar für die Begründung der Klage, insbesondere für die Angabe von Beweismitteln und von Tatsachen, durch deren
Nichtberücksichtigung der Kläger sich beschwert fühlt, keine zwingenden Vorschriften (§ 92 Abs 1 Satz 4 SGG:
"soll"). Das Gericht hat die Beteiligten aber insoweit heranzuziehen, wie sich aus § 103 Satz 1 2. Halbs. SGG ergibt.
Bei fehlender Mitwirkung ist das Gericht nicht verpflichtet, von sich aus in jede nur mögliche Richtung ("ins Blaue
hinein") zu ermitteln und Beweis zu erheben (vgl. Leitherer, a.a.O., § 103 RdNr. 16).
Allerdings setzt eine Rücknahmefiktion den Ablauf einer zuvor vom Gericht gesetzten Frist zum Betreiben des
Verfahrens voraus (vgl. § 102 Abs 2 Satz 1 SGG). Eine in diesem Sinne wirksame Fristsetzung ist hier aber nicht
erfolgt. Denn ein lediglich mit dem Zusatz "Auf richterliche Anordnung" durch eine Justizangestellte unterzeichnetes
gerichtliches Schreiben der Geschäftsstelle kann eine Frist zum Betreiben des Verfahrens nicht in Lauf setzen (vgl.
BSG, Urteil vom 01.07.2010 – B 13 R 58/09 R, RdNr. 48 m.w.N.; so auch Krasney/Udsching, Handbuch des
sozialgerichtlichen Verfahrens, 4. Aufl., Kap. VII RdNr. 170a; Kopp/Schenke, Verwaltungsgerichtsordnung, 13. Aufl.,
§ 92 RdNr. 21). Eine formell ordnungsgemäße Betreibensaufforderung muss nicht nur vom zuständigen Richter
verfügt und unterschrieben sein, sondern auch die gemäß § 63 Abs 1 Satz 1 SGG zuzustellende
Ausfertigung/beglaubigte Abschrift muss durch Wiedergabe des vollen Namens des Richters erkennen lassen, dass
die Betreibensaufforderung von ihm stammt (vgl. BSG, Urteil vom 01.07.2010, a.a.O. RdNr. 49).
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.