Urteil des LSG Sachsen vom 08.11.1999

LSG Fss: nachfrist, androhung, beweisanordnung, ermessen, erstellung, entlassung, sachverständiger, verschulden, auflage, hinderungsgrund

Sächsisches Landessozialgericht
Beschluss vom 08.11.1999 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Leipzig S 3 RA 282/97
Sächsisches Landessozialgericht L 1 B 9/99 RA
I. Auf die Beschwerde des Beschwerdeführers wird der Beschluss des Sozialgerichts Leipzig vom 06.01.1999
aufgehoben. II. Die Staatskasse hat dem Beschwerdeführer die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.
Gründe:
I.
In der am 21.04.1997 vor dem Sozialgericht Leipzig (SG) erhobenen Klage der ... gegen Bundesversicherungsanstalt
für Angestellte (BfA) waren Leistungen wegen verminderter Erwerbsfähigkeit streitig. Mit Beweisanordnung vom
19.03.1998 wurde der Beschwerdeführer (Ärztlicher Direktor des Fachklinikums ... - Bf.) zum ärztlichen
Sachverständigen nach § 118 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG), §§ 404 ff. Zivilprozessordnung (ZPO) ernannt. Mit
Schreiben vom 19.03.1998 wurde dem Bf. die Beweisanordnung einschließlich der Beweisfragen, ein
Entschädigungsantrag für die Klägerin, eine Vorladung an die Klägerin sowie ein Band Gerichtsakten, ein Band
Verwaltungsakten der Beklagten und ein Band Krankengeschichten übersandt. Mit gerichtlichem Schreiben vom
24.07.1998 wurde der Bf. an die Erledigung des Gutachtensauftrages erinnert (Bl. 106 der SG-Akte). Mit Beschluss
vom 06.11.1998 wurde dem Bf. zur Erstattung des in Auftrag gegebenen Gutachtens eine Nachfrist bis 20.12.1998
gesetzt. Zugleich wurde für den Fall, dass das Gutachten nicht bis spätestens 20.12.1998 bei Gericht eingegangen
ist, ein Ordnungsgeld i.H.v. 1.000,00 DM angedroht. Dem Bf. wurde eine Ausfertigung dieses Beschlusses am
16.11.1998 zugestellt (Postzustellungsurkunde, Bl. 112 der SG-Akte). Bei dem SG ging daraufhin eine Mehrfertigung
des Vordrucks S 100, mit welchem die Klägerin zum 10.12.1998 zur Begutachtung eingeladen wurde, ein (Bl. 113 der
SG-Akte).
Mit Beschluss vom 06.01.1999, dem Bf. mit PZU am 27.01.1999 zugestellt (Bl. 121 der SG-Akte), setzte das SG ein
Ordnungsgeld i.H.v. 1.000,00 DM fest. Mit Schreiben vom 01.02.1999, bei dem SG am selben Tag eingegangen,
übersandte der Bf. ein schriftliches Gutachten, das aufgrund der Untersuchung am 10.12.1998 erstellt wurde. Zugleich
übersandte der Bf. seine Beschwerde gegen den Beschluss vom 06.01.1999 (Bl. 122 der SG-Akte).
Zur Begründung trägt der Bf. vor, dass die zu Begutachtende nach dem ersten Beschluss vom 06.11.1998 am
10.12.1998 zur Begutachtung eingeladen und ausführlich begutachtet worden sei. Das Gutachten habe aus
technischen Gründen bis zum 20.12.1998 nicht fertiggestellt werden können. Dies hänge mit dem schwierigen
Wiederaufbau des Klinikums B. nach einem Konkursverfahren zusammen. Der Bf. erklärt weiter, dass er zum
Zeitpunkt der Übernahme des Gutachtensauftrages seine zeitlichen Möglichkeiten überschätzt habe. Die Säumigkeit
sei aus der Überlastungssituation heraus entstanden und nicht aufgrund nachlässigen Desinteresses.
Das SG hat der Beschwerde nicht abgeholfen.
Wegen der weiteren Einzelheiten zum Sach- und Streitstand wird auf die SG-Akte zu dem Rechtsstreit ... (Az.: S 3
RA 282/97), die beigezogen und Gegenstand der Entscheidung war, sowie auf die Gerichtsakte des
Beschwerdeverfahrens Bezug genommen.
II.
Die Beschwerde gegen den von dem Kammervorsitzenden des Sozialgerichts getroffenen Beschluss ist statthaft und
zulässig (§ 118 Abs. 1 SGG i.V.m. §§ 411 Abs. 2 Satz 4, 409 Abs. 2 ZPO). Der Beschluss des SG Leipzig vom
06.01.1999 ist aufzuheben. Für die Auferlegung eines Ordnungsgeldes bestand aus Rechtsgründen kein Raum. Die
Voraussetzungen für die Festsetzung eines Ordnungsgeldes nach den §§ 118 Abs. 1 SGG, 411 Abs. 2 ZPO liegen
nicht vor.
Rechtliche Grundlage für das vom SG auferlegte Ordnungsgeld ist § 411 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 ZPO, der hier
gem. § 106 Abs. 3 Nr. 5 und Abs. 4, § 118 Abs. 1 SGG Anwendung findet. Versäumt danach ein zur
Gutachtenerstattung verpflichteter Sachverständiger "die Frist", besteht nach Ermessen des Gerichts die Möglichkeit
der Festsetzung eines Ordnungsgeldes. Mithin verlangt die gesetzliche Regelung schon nach ihrem Wortlaut neben
einer "Nachfrist" eine zuvor vorzunehmende Fristsetzung für die Abgabe des in Auftrag gegebenen Gutachtens. Das
Bestimmen einer Nachfrist unter Androhung von Ordnungsgeld darf daher, soll sie die Rechtsfolge des § 411 Abs. 2
Satz 1 ZPO auslösen, erst erfolgen, wenn eine "Erstfrist" versäumt wurde (vgl. Baumbach/Lauterbach/Hartmann
ZPO-Kommentar § 411 Rn. 5; ebenso OLG Hamm, Beschluss vom 11.10.1997, Az.: 12 W 24/97; LSG NRW,
Beschluss vom 04.03.1980, Az.: L 5 28/79). Schon nach dem Gesetzeswortlaut - "Versäumt ein zur Erstattung des
Gutachtens verpflichteter Sachverständiger die Frist, so kann gegen ihn ein Ordnungsgeld festgesetzt werden. Das
Ordnungsgeld muss vorher unter Setzung einer Nachfrist angedroht werden" - ist zwingende Voraussetzung für die
Androhung eines Ordnungsgeldes, dass eine zuvor gesetzte Frist ergebnislos verstrichen ist. Die Nachfrist muss
auch grundsätzlich so bemessen sein, dass sie in Verbindung mit der ersten Frist zur Anfertigung des Gutachtens
genügt (vgl. Baumbach/Lauterbach/Hartmann a.a.O.). Damit wird klargestellt, dass die Nachfrist jeweils im
Zusammenhang mit einer vorangegangenen Frist zu sehen ist. Gemessen an diesen Voraussetzungen durfte das SG
gegen den Bf. kein Ordnungsgeld festsetzen. Mit Beweisanordnung vom 19.03.1998 wurde der Bf. zum ärztlichen
Sachverständigen nach § 106 Abs. 3 Nr. 5 und Abs. 4 SGG i.V.m. § 118 Abs. 1 i.V.m. den §§ 404 ff. ZPO ernannt.
Das SG konnte dem Sachverständigen zwar - wiederholt - zur Erstellung des Gutachtens eine Frist aufgeben (§ 411
Abs. 1 Satz 2 ZPO). Eine Fristsetzung nach § 411 Abs. 1 Satz 2 ZPO, die im Ermessen des Gerichts liegt, erfolgte
hier jedoch nicht. Weder wurde bei Erteilung des Gutachtensauftrags eine Frist bestimmt noch bei Erinnerung mit
Schreiben vom 24.07.1998 eine Frist zur Erledigung des Gutachtensauftrags festgelegt. Die einzige Fristsetzung zur
Erstellung des Gutachtens erfolgte vielmehr mit Beschluss vom 06.11.1998, in dem der Kammervorsitzende die
Nachfrist (20.12.1998) nach § 411 Abs. 2 Satz 1 unter gleichzeitiger Androhung eines Ordnungsgeldes gesetzt hat (§
411 Abs. 2 Satz 2 ZPO).
Das Erfordernis einer Erstfrist ergibt sich auch aus Sinn und Zweck der Androhung des Ordnungsgeldes. Da die
Festsetzung eines Ordnungsgeldes die Vorwerfbarkeit des Verhaltens voraussetzt, muss die Unangemessenheit des
Fristüberschreitung so deutlich sein, dass sie auch der Sachverständige bei pflichtgemäßer Abwägung erkennen
konnte und musste (vgl. Kleinknecht/Meyer-Großer StPO-Komm. 43. Auflage, § 77 Rn. 5). Die Verhängung des
Ordnungsgeldes kann bei § 411 Abs. 2 ZPO nur im Falle einer schuldhaften Versäumung der Gutachtenerstellung
erfolgen (vgl. Baumbach/Lauterbach/Hartmann Rn. 6). Ein Verschulden liegt beispielsweise vor, wenn ein
Hinderungsgrund vom Sachverständigen nicht rechtzeitig angezeigt wurde, wenn der Sachverständige also weder
unverzüglich einen Mitarbeiter vorschlägt noch einen festen Termin nennt und ihn dann auch, selbst bei
Arbeitsüberlastung, einhält (vgl. Baumbach/Lauterbach a.a.O.; sowie Ehlers (Hrsg.) "Praxis der medizinischen
Begutachtung im Prozeß" 1. Aufl. S.19 - 29). Der Sachverständige muß um seine Entlassung aus der
Gutachtertätigkeit bitten, wenn abzusehen ist, dass eine zeitnahe Begutachtung nicht erfolgen könne. Er muß dem
Gericht die Gründe für die Verzögerungen zeitnah mitteilen und entweder selbst einen Termin nennen, bis zu welchem
die Gutachtenerstellung möglich ist, oder aber die Entlassung aus dem Gutachtensantrag beantragen. Dies setzt
jedoch voraus, dass der Sachverständige erkennen kann, innerhalb welchen Zeitraums er das Gutachten zu erstellen
hat. Hierfür ist die konkrete Benennung eines Datums zwingend erforderlich. Da hier eine Frist vor der
Nachfristsetzung nie bestimmt wurde, musste der Sachverständige, trotz der mit Schreiben vom 24.07.1998 erfolgten
Erinnerung, nicht mit Konsequenzen wie dem Androhen eines Ordnungsgeldes rechnen.
Danach war der angefochtene Beschluss aufzuheben.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 Abs. 1 SGG. Der Bf. hatte mit seinem
Begehren Erfolg (vgl. Krosney/Udsching, Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) Rdnr. 58; Meyer-Ladewig, § 177
Rdnr. 5; im Ergebnis ebenso Thomas-Putzo ZPO-Kommentar, § 380 Rdnr. 12; OLG Hamm a.a.O.; LSG Rheinland-
Pfalz in Breith. 1995, 548). Dem Bf. sind die notwendigen Auslagen aus der Staatskasse zu erstatten, da er mit
seiner Beschwerde gegen den Ordnungsgeldbeschluss in vollem Umfang obsiegt hat.
Gegen diesen Beschluss ist ein weiteres Rechtsmittel nicht gegeben (§ 177 SGG). Die Entscheidung ist endgültig.