Urteil des LSG Sachsen vom 04.03.2004

LSG Fss: grobe fahrlässigkeit, merkblatt, verfassungskonforme auslegung, neues vorbringen, rechtswidrigkeit, vertrauensschutz, berechnungsgrundlage, beratung, rücknahme, behörde

Sächsisches Landessozialgericht
Urteil vom 04.03.2004 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Dresden S 17 AL 816/01
Sächsisches Landessozialgericht L 2 AL 182/03
I. Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Dresden vom 16. Mai 2003 wird
zurückgewiesen. II. Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten. III. Die
Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über einen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid der Beklagten bezüglich bewilligten
Arbeitslosengeldes, insbesondere darüber, welche arbeitslosenversicherungsrechtlichen Auswirkungen ein
Lohnsteuerklassenwechsel des Klägers hat.
Seit dem 01.02.1998 hatte der Kläger, ein Diplom-Ingenieur, die Lohnsteuerklasse III. Er meldete sich am 15.04.1998
arbeitslos. Gegen den Bewilligungsbescheid legte er u.a. Widerspruch ein, weil die Beklagte das Arbeitslosengeld
(Alg) nach der Leistungsgruppe A (Lohnsteuerklasse IV) berechnet hatte. Wörtlich schrieb er: "Auf meiner
Lohnsteuerkarte ist die Steuerklasse III eingetragen. Laut Ihrer Tabelle müsste der Leistungsbetrag in der
Leistungsgruppe C berechnet werden." Der Widerspruch des Klägers war insoweit erfolgreich.
Die Lohnsteuerklasse III behielt er im Jahr 1999 bei und wechselte dann mit Wirkung zum 01.01.2000 zur
Lohnsteuerklasse IV. Beim Kläger waren für drei Kinder unter 18 Jahren Freibeträge eingetragen. Seine Ehefrau
verdiente im ersten Halbjahr 2000 knapp 3.000 DM brutto im Monat (knapp unter 2.000 DM netto).
Nach einer länger dauernden Umschulungsmaßnahme meldete sich der Kläger am 18.10.1999 erneut arbeitslos und
beantragte wieder Alg. Mit Bescheid vom 03.11.1999 wurde ihm Alg bewilligt (531,58 DM/Woche), durch Bescheid
vom 04.01.2000 die SGB III-Leistungsentgeltverordnung 2000 berücksichtigt (543,62 DM/Woche ab 01.01.2000) und
schließlich mit Bescheid vom 25.04.2000 das Bemessungsentgelt dynamisiert (550,41 DM/Woche ab 01.04.2000).
Der Kläger bezog bis zum 28.06.2000 Alg nach der Leistungsgruppe C. Unter Zugrundelegung der Leistungsgruppe A
(Lohnsteuerklasse IV) hätte das Alg ab dem 01.01.2000 446,18 DM/Woche und ab dem 01.04.2000 451,53
DM/Woche betragen. Rückwirkend bewilligte die Beklagte wegen einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
(Beschluss vom 24.05.2000 - 1 BvL 1,4/98, 15/99 - BVerfGE 102, 127) dem Kläger für die Zeit vom 22.06. bis
27.06.2000 erhöhtes Alg nach Leistungsgruppe C unter Zugrundelegung eines Leistungssatzes von 586,25
DM/Woche. Insgesamt führte dies zu einer Nettonachzahlung von 30,72 DM (Bescheid vom 20.12.2000).
Am 05.06.2000 beantragte der in H ... wohnende Kläger Arbeitslosenhilfe (Alhi) und erklärte, auf seiner
Lohnsteuerkarte sei die Lohnsteuerklasse IV eingetragen. Zu seinen Einkommensverhältnissen teilte er u.a. mit, dass
er als Stadtrat Sitzungsgeld erhalte. Nach Anhörung des Klägers mit Schreiben der Beklagten vom 29.12.2000, in
dem dem Kläger vorgehalten worden war, auf seiner Lohnsteuerkarte sei schon bei der Leistungsbewilligung die
Lohnsteuerklasse IV eingetragen gewesen, erklärte dieser, er habe am 15.12.1999 schriftlich mitgeteilt, dass sich ab
dem 01.01.2000 seine Steuerklasse von III nach IV geändert habe. Zugleich legte er Kopien der Lohnsteuerkarten
1999 und 2000 vor, die diesen Sachverhalt belegten. Ferner führte der Kläger aus, er habe das Schreiben vom
15.12.1999 wie alle Unterlagen davor und danach in der Rezeption des Arbeitsamtes Hoyerswerda (AA) abgegeben.
Mit Datum vom 04.01.2000 habe er einen Änderungsbescheid des AA erhalten. Damit sei für ihn die Sache erledigt
gewesen.
Mit Bescheid vom 13.02.2001 hob die Beklagte die Bewilligung des Alg ab dem 01.01.2000 teilweise in Höhe von
97,44 DM wöchentlich, ab dem 01.04.2000 in Höhe von 98,91 DM wöchentlich und ab dem 22.06.2000 in Höhe von
103,53 DM wöchentlich auf. Insgesamt forderte sie einen Betrag von 2.514,12 DM vom Kläger zurück. Das Schreiben
vom 15.12.1999 sei nicht beim AA eingegangen. In dem Merkheft für Arbeitslose und in Bewilligungs- sowie
Änderungsbescheiden sei auf der Rückseite die Höhe der Leistung sowie deren Berechnungsgrundlage erklärt. Der
Kläger hätte erkennen können, dass sich bei dem Änderungsbescheid zum 01.01.2000 die Leistungsgruppe nicht
geändert habe. Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein, der durch Bescheid vom 19.05.2001 zurückgewiesen
wurde. Der Kläger habe bei Antragstellung durch seine Unterschrift bestätigt, dass er das Merkblatt für Arbeitslose
erhalten und vom Inhalt Kenntnis genommen habe. Aus diesem Merkblatt hätte er leicht erkennen können, dass eine
Änderung der Lohnsteuerklasse leistungserheblich sei. Auch aus dem ihm übersandten Bewilligungsbescheid sei
eindeutig hervorgegangen, dass er Leistungen auch über den 01.01.2000 hinaus nach der Leistungsgruppe C
(Lohnsteuerklasse III) erhalten habe, obwohl er zu diesem Zeitpunkt gewusst habe, dass er in die Lohnsteuerklasse
IV gewechselt sei. Er habe die im Merkblatt in verständlicher Form gegebenen Hinweise nicht beachtet. Er habe daher
grob fahrlässig gehandelt. Die Voraussetzungen einer teilweisen Aufhebung des Bewilligungsbescheides nach § 48
Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) lägen vor.
Hiergegen hat der Kläger vor dem Sozialgericht Dresden (SG) Klage erhoben und ausgeführt, es sei falsch, dass er
seiner Mitteilungspflicht nicht nachgekommen sei. Das Gegenteil treffe zu. Die Mitarbeiter am Infoterminal des AA
hätten sich damals aber noch geweigert, für angenommene Schreiben Eingangsbestätigungen zu erteilen. Er habe
darauf vertrauen dürfen, dass die Beklagte ihrerseits die neuen Angaben berücksichtigen und der Ermittlung des Alg
zugrunde legen werde. Dass dies unterlassen worden sei, dürfe ihm im Nachhinein nicht zur Last gelegt werden. Der
Fehler falle nicht in seine Sphäre. Er habe nach Übermittlung der Angaben keinen Einfluss auf die Berechnung
gehabt. Sein Vertrauen sei daher schutzwürdig. Aus dem Bescheid selbst sei für ihn der Fehler nicht ersichtlich
gewesen. Im Gegensatz zu sonst übermittelten Bescheiden seien auf der Rückseite des Bescheides vom 04.01.2000
nicht nochmals die Leistungsgruppen erläutert worden. Da der neue Bescheid unmittelbar nach der erfolgten
Änderungsmitteilung ergangen sei, habe er darauf vertrauen dürfen, dass seine Mitteilung dem Bescheid zugrunde
gelegen und ordnungsgemäße Berücksichtigung gefunden habe. Insbesondere bei Berechnungen sei die
Offensichtlichkeit des Fehlers zu fordern. Zu einer Überprüfung des Verwaltungsaktes anhand der beigefügten
Begründung oder unter Verwendung zusätzlicher Erkenntnismittel sei der Versicherte nur verpflichtet, wenn
offensichtlich Anlass zu Zweifeln bestehe, z.B. wenn ein zuerkannter Betrag ungewöhnlich hoch sei. Die
Voraussetzungen für eine Aufhebung der Bewilligung lägen nicht vor.
Die Beklagte hat eingeräumt, dass generell keine separaten Eingangsbestätigungen für persönlich abgegebene
Schriftstücke oder Veränderungsmitteilungen erteilt würden. Entscheidend sei, dass für den Kläger erkennbar
gewesen sei, dass ihm aufgrund der geänderten Lohnsteuerklasse Alg ab 01.01.2000 in der Leistungsgruppe C nicht
mehr zugestanden habe. Im Merkblatt für Arbeitslose, dessen Erhalt und Kenntnisnahme der Kläger unterschriftlich
bestätigt habe, sei die Bedeutung der Lohnsteuerklasse für den Leistungsbezug umfassend erläutert. Insbesondere
werde dargestellt, dass ein Wechsel der Lohnsteuerklasse auf jeden Fall berücksichtigt werde, wenn sich dadurch
eine niedrigere Leistung ergebe. Dieser Tatbestand sei für ihn erkennbar gewesen, da er zu Leistungsbeginn bereits
Alg nach der Leistungsgruppe A erhalten habe. Er habe gewusst, dass das Alg in der Leistungsgruppe A bedeutend
niedriger ausfalle als in der Leistungsgruppe C. Auf diesen Umstand habe der Kläger bereits in seinem
Widerspruchsschreiben vom 21.05.1998 verwiesen.
Mit Gerichtsbescheid vom 16.05.2003 hat das SG die Klage abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen
ausgeführt, die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB X lägen vor. Der Kläger habe zumindest grob
fahrlässig nicht gewusst, dass der sich aus dem Bescheid vom 04.01.2000 ergebende Anspruch kraft Gesetzes
teilweise weggefallen sei. Die wesentliche Änderung liege im zum 01.01.2000 erfolgten Lohnsteuerklassenwechsel.
Der Kläger habe den Änderungsbescheid vom 04.01.2000 erhalten, in welchem weiterhin die Leistungsgruppe C
aufgeführt sei. Am Anfang dieses Bescheides sei auch aufgeführt, dass der Leistungssatz durch die
Leistungsentgeltverordnung 2000 geändert worden sei. Änderungen seien gekennzeichnet; alle anderen Eintragungen
dienten lediglich zur Information. Bereits hieraus habe der Kläger entnehmen können, dass eine Änderung der
Leistungsgruppe nicht erfolgt sei. Sowohl in dem bei Antragstellung ausgehändigten Merkblatt als auch in den
folgenden Änderungsbescheiden sei er auf die Bedeutung der Lohnsteuerklasse hingewiesen worden. Ausweislich
seines Schreibens vom 21.05.1998 sei ihm die Bedeutung eines Lohnsteuerklassenwechsels bekannt gewesen.
Mit seiner dagegen eingelegten Berufung wiederholt und vertieft der Kläger sein erstinstanzliches Vorbringen. Er
macht geltend, dem Schutz des Vertrauens, welches er auf den Bestand des Verwaltungsaktes gesetzt habe, sei im
Rahmen der Prüfung der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes keinerlei Bedeutung beigemessen worden. Seine
Interessen seien gegenüber den öffentlichen Interessen als so gewichtig im Sinne von § 45 Abs. 3 SGB X
anzusehen, dass die öffentlichen Interessen hinter seinen Individualinteressen zurücktreten müssten. Infolge seines
schutzwürdigen Vertrauens auf den Bestand des Leistungsbescheides habe er den überzahlten Betrag bei seiner
allgemeinen Lebensführung mitberücksichtigt und für die allgemeinen Lebenshaltungskosten gänzlich aufgebraucht.
Auch habe er bereits nicht die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt. Maßgeblich sei
schuldhaftes Verwaltungshandeln, da seine neuen Angaben bei der Bemessung des Alg nicht berücksichtigt worden
seien (Hinweis auf BSG, Urteil vom 26.06.1986 - 7 RAr 126/84 - SozR 1300 § 48 Nr. 25 S. 64). Sofern wie vorliegend
die Ursache für die wesentliche Unrichtigkeit des Verwaltungsaktes bei der Behörde liege, entfalle für den Betroffenen
eine grob fahrlässige Unkenntnis der Unrichtigkeit des Verwaltungsaktes bzw. seien die Anforderungen an diese noch
höher anzusetzen (Hinweis auf BSG, Urteil vom 22.03.1989 - 7 RAr 122/87 - SozR 3-1300 § 45 Nr. 38 S. 122). Grobe
Fahrlässigkeit setze zudem voraus, dass er bei einfachsten oder ganz naheliegenden Überlegungen hätte erkennen
können, dass dasjenige unbeachtet geblieben sei, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen.
Insbesondere bei Berechnungen sei die grundsätzliche Offensichtlichkeit des Fehlers zu fordern. Die Aushändigung
des Merkblattes der Beklagten an ihn zum Zeitpunkt der erstmaligen Beantragung von Alg mit Informationen über die
Steuerklassen könne nicht dazu führen, dass der Versicherte automatisch grob fahrlässig handele, wenn der
Beklagten noch Jahre später Fehler unterliefen, die bei ausführlicher Lektüre dieses Merkblattes beim Erhalt eines
jeden Bescheides hätten auffallen können.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Dresden vom 16.05.2003 sowie den Bescheid der Beklagten vom
13.02.2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.05.2001 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Gerichtsbescheid sei zutreffend. Die Berufungsbegründung enthalte kein neues Vorbringen. Insbesondere könne
sich der Kläger nicht auf Vertrauensschutz gegen eine teilweise Aufhebung der Bewilligung von Alg ab dem
01.01.2000 berufen. Vertrauensschutz könne nicht aus dem Schreiben vom 15.12.1999 hergeleitet werden. Die
Abgabe eines solchen Schreibens durch den Kläger beim AA sei nicht geklärt. Eine Veränderungsmitteilung sei bei
der Beklagten nicht angekommen. Der Kläger habe nicht darauf vertrauen dürfen, dass die Beklagte die vermeintliche
Änderungsmitteilung vom 15.12.1999 bei der Berechnung des Alg ab Januar 2000 berücksichtigt habe. Im Rahmen
der Schuldfrage sei immer auch bedeutsam, über welchen intellektuellen Horizont ein Versicherter verfüge (Hinweis
auf Landessozialgericht Berlin, Urteil vom 29.11.2002 - L 4 AL 74/01). Der Kläger sei Diplomingenieur mit jahrelanger
Berufserfahrung. Sofern er behaupte, dass aus dem Änderungsbescheid vom 04.01.2000 nicht ersichtlich gewesen
sei, dass die Berechnung des Alg nicht unter Zugrundelegung der neuen Lohnsteuerklasse IV erfolgt sei, sei auf die
im Bescheid angegebene Berechnungsgrundlage verwiesen. Als Berechnungsgrundlage werde eindeutig die
Leistungsgruppe C angeben. Der Kläger habe gewusst, dass die Leistungsgruppe C der Lohnsteuerklasse III
entspreche. Selbst wenn der Kläger die Angabe der Leistungsgruppe C als Berechnungsgrundlage nicht erkannt hätte,
so müsste ihm doch der gegenüber der Leistungsgruppe A wesentlich erhöhte Zahlungsbetrag aufgefallen sein, der
annähernd gleich mit dem Alg des Jahres 1999 ausgefallen sei. Dies gelte umso mehr, da der Kläger auch im Jahre
1998 einen Steuerklassenwechsel vorgenommen habe und ihm die Bedeutung bekannt gewesen sei.
Der Kläger könne sich nicht auf Vertrauensschutz berufen. Der Einwand des Klägers, er habe die Sozialleistungen für
den Lebensunterhalt verbraucht, mache die teilweise Aufhebung der Bewilligung von Alg für die Vergangenheit nicht
rechtswidrig. Es sei bereits zweifelhaft, ob überhaupt von einem gutgläubigen Verbrauch durch den Kläger aus o.g.
Gründen ausgegangen werden könne. Die Beklagten habe hier aber eine gebundene Entscheidung treffen müssen, da
§ 330 Abs. 2 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) gegenüber der Ermessensvorschrift des § 48 Abs. 1 Satz 2
SGB X eine abweichende Regelung treffe. Die Rückzahlungsverpflichtung des Klägers folge aus § 50 Abs. 1 SGB X.
Der Kläger ist in der mündlichen Verhandlung am 04.03.2003 vom Senat zu dem Sachverhalt befragt worden. Wegen
der dort gemachten Angaben des Klägers wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.
Dem Senat liegen die Verfahrensakten beider Rechtszüge und die Verwaltungsakte der Beklagten vor.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist unbegründet. Die Beklagte hat mit Recht die Alg-Bewilligung ab 01.01.2000 teilweise
aufgehoben und mittels Erstattungsbescheid einen Betrag von 2514,12 DM vom Kläger zurückgefordert.
Es kann dahingestellt bleiben, ob hier § 45 SGB X oder § 48 SGB X Ermächtigungsgrundlage für die teilweise
Rücknahme bzw. Aufhebung der Alg-Bescheide ist.
Das Bundessozialgericht (BSG) hat zu Dynamisierungsbescheiden die Auffassung vertreten, dass nur der
Dynamisierungsbetrag, also die Differenz zwischen der neu festgesetzten und der zuvor festgesetzten Leistungshöhe,
Regelungsgegenstand ist (Urteil vom 09.05.1996 - 7 RAr 48/95 - SozR 3-4800 § 63 Nr. 1 S. 3). Diese den
Regelungsgegenstand beschränkende Sichtweise begegnet jedenfalls dann Bedenken, wenn sich der frühere Fehler
bzw. der später durch Änderung der Verhältnisse eingetretene Fehler im Bewilligungsbescheid auch im
Dynamisierungsbescheid abbildet und die alleinige Ursache der Rechtswidrigkeit des Dynamisierungsbescheides
darstellt (Folgefehler). Eine im Bescheid einheitlich festgesetzte Leistungshöhe - nicht nur der Differenzbetrag wird
ausgewiesen - würde in zwei Teile aufgespalten werden und die Rückabwicklung dieses aufgespaltenen Betrages
würde sich nach unterschiedlichen Vorschriften regeln, obwohl die Fehlerursache identisch ist.
Mit der Beklagten ist davon auszugehen, dass auf den ursprünglichen Bewilligungsbescheid vom 03.11.1999 § 48
SGB X Anwendung findet, wenn die weiteren Bescheide diesen Bewilligungsbescheid ab dem Zeitpunkt ihrer eigenen
Geltungsanordnung nicht gänzlich ersetzt haben. Ob § 48 SGB X auch für die weiteren Bescheide gilt, ist gerade
fraglich. Denn wenn die außenwirksame Regelung von die Leistungshöhe betreffenden Änderungsbescheiden lediglich
in der Ausweisung eines Mehr- oder Minderbetrages liegt und Berechnungselemente nicht der Bestandskraft fähig
sind, ist diese Änderungsregelung schon dann anfänglich rechtswidrig, wenn der Leistungsempfänger wegen einer
nachträglichen Änderung der Verhältnisse die der Erstbewilligung zugrunde gelegen haben, auch bei korrekter
Anpassung, das heißt unter Zugrundelegung der geänderten Verhältnisse, einen geringeren Anspruch hat, als
ursprünglich rechtswidrig festgesetzt. Dies legt es bei einer derartigen Fallgestaltung nahe, dann, wenn man Alg-
Änderungsbescheiden, die wegen einer neuen Leistungsverordnung oder wegen der Dynamisierung des
Bemessungsentgeltes ergehen, nur eine eingeschränkte Regelungswirkung beimisst, alle diese Folgebescheide am
Maßstab des § 48 SGB X zu beurteilen.
Gleichwohl bedarf es hier keiner Festlegung, weil es sich wegen § 330 Abs. 2 und 3 SGB III sowohl bei § 45 SGB X
als auch bei § 48 SGB X in den Fällen wie dem vorliegenden um eine gebundene Entscheidung handelt, bei denen die
Rücknahme bzw. Aufhebung darauf gestützt wird, dass der Leistungsempfänger die Rechtswidrigkeit des
Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X) bzw.
wusste oder nicht wusste, weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat, dass der sich
aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes teilweise weggefallen ist (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB
X). Beide Prüfungsmaßstäbe (Wissen bzw. grobe fahrlässige Unkenntnis) sind darüber hinaus identisch. Sie
unterscheiden sich allein darin, dass einmal dem Leistungsempfänger vorgeworfen wird, er habe gewusst bzw. grob
fahrlässig nicht gewusst, dass er keinen Anspruch (in dieser Höhe) hat, und zum anderen Mal ihm vorgeworfen wird,
er habe gewusst bzw. grob fahrlässig nicht gewusst, dass er keinen Anspruch (in dieser Höhe) mehr hat. Ab dem
Eintritt der Rechtswidrigkeit ist der Verwaltungsakt insoweit rückgängig zu machen und die überzahlte Leistung
zurückzuzahlen (§ 50 Abs. 1 SGB X). Die durch die Versagung von Vertrauensschutz bewirkte Eingriffsintensität und
der Schuldvorwurf sind mithin bei einem derartigen Sachverhalt identisch. Auf § 45 Abs. 3 Satz 1 SGB X, der zu einer
abweichenden Entscheidung führen kann und dann eine Festlegung gebietet, kommt es hier nicht an.
Formell ist die Anhörung vom 29.12.2000 insoweit zu beanstanden, als das AA nur auf die unterlassene
Mitwirkungspflicht abgestellt hat. Das AA hat im Anhörungsschreiben noch nicht auf das Wissen bzw. die grob
fahrlässige Unkenntnis der Rechtswidrigkeit der Leistungshöhe hingewiesen. Dies ist aber für eine wirksame
Aufhebung bzw. Rücknahme erforderlich. Der Anhörungsmangel wurde jedoch schon nach der alten Fassung des § 41
Abs. 2 SGB X, wonach Anhörungsmängel nur bis zum Abschluss des Vorverfahrens geheilt werden konnten, im
Aufhebungsbescheid vom 13.02.2001 geheilt. Dort wurde näher dargelegt, warum der Kläger die Rechtswidrigkeit des
Bescheides hätte erkennen können. Der Kläger hatte daher Gelegenheit, auch zu den weiteren Vorwürfen der
Beklagten im Widerspruchsverfahren Stellung zu nehmen. Dem Kläger wurde deutlich gemacht, er habe nach
Auffassung der Beklagten aus den Bescheiden in Verbindung mit dem Merkblatt erkennen können, dass ihm ab
01.01.2000 nur noch eine deutlich niedrigere Leistung zugestanden habe. Damit wurden die entscheidungserheblichen
Tatsachen benannt. Eine möglicherweise zum Teil unrichtige Benennung der Eingriffsermächtigungsgrundlage ist
unschädlich.
Die Beklagte musste die Alg-Bescheide für die Zeit ab 01.01.2000 teilweise zurücknehmen bzw. aufheben, weil sie
der Höhe nach rechtswidrig waren und ein den Vertrauensschutz ausschließender Fall des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3
SGB X i.V.m. § 330 Abs. 2 SGB III bzw. des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB X i.V.m. § 330 Abs. 3 Satz 1 SGB III
vorliegt.
Für die Bestimmung des Leistungsentgelts ist u.a. die für den Arbeitslosen maßgebliche Lohnsteuer vom
Bemessungsentgelt abzuziehen (§ 136 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1, Abs. 3, § 137 SGB III). Maßgeblich ist dabei die auf der
Lohnsteuerkarte eingetragene Lohnsteuerklasse (§ 137 Abs. 3 SGB III). Nehmen Ehegatten einen steuerrechtlich
zulässigen Lohnsteuerklassenwechsel vor, werden die neu eingetragenen Lohnsteuerklassen von dem Tage an
berücksichtigt, an dem sie wirksam werden, wenn entweder die neu eingetragenen Lohnsteuerklassen dem Verhältnis
der monatlichen Arbeitsentgelte beider Ehegatten entsprechen oder sich aufgrund der neu eingetragenen
Lohnsteuerklassen ein Alg ergibt, das geringer als das Alg ist, das sich ohne den Wechsel der Lohnsteuerklasse
ergäbe (§ 137 Abs. 4 SGB III). Maßgeblich ist hier die zweite Alternative.
Anders als in den vom BSG am 01.04.2004 entschiedenen drei Revisionsverfahren (B 7 AL 46/03 R; B 7 AL 52/03 R;
B 7 AL 14/04 R) kann der Kläger nicht im Wege des Herstellungsanspruchs so gestellt werden, als ob der
Lohnsteuerklassenwechsel nicht zustande gekommen wäre. Dabei legt der Senat die überzeugenden Ausführungen
des BSG in den genannten Urteilen vom 01.04.2004 zugrunde. Dort hat das BSG im Wege der Rechtsfortbildung
durch verfassungskonforme Auslegung des § 137 Abs. 4 SGB III zur Vermeidung einer verfassungswidrigen Situation
besondere verfahrensrechtliche Anforderungen in Gestalt gesteigerter Beratungspflichten des AA (jetzt
Arbeitsagentur) formuliert (Grundrechtsschutz durch Verfahren) und für den Fall der unterlassenen Beratung den
sozialrechtlichen Herstellungsanspruch für anwendbar angesehen.
Der Kläger ist hier nicht beraten worden. Gleichwohl greift der sozialrechtliche Herstellungsanspruch nicht zugunsten
des Klägers ein. Es fehlt an der Kausalität der unterlassenen Beratung für den Lohnsteuerklassenwechsel. Der Kläger
bedurfte dieser Beratung nämlich überhaupt nicht. Der Kläger hätte auch mit einer Beratung über die
arbeitslosenversicherungsrechtlichen Folgen des Lohnsteuerklassenwechsels diesen vorgenommen. Der Kläger hatte
Ende 1999, wie er in der mündlichen Verhandlung dem Senat erklärt hat, mit einer Verringerung des Alg wegen des
Lohnsteuerklassenwechsels von III nach IV gerechnet. Angesichts des relativ zeitnah zuvor durchgeführten
Widerspruchsverfahrens (Teilabhilfebescheid vom 23.09.1998), das wegen der irrtümlich zugrunde gelegten
Lohnsteuerklasse IV (richtig: Lohnsteuerklasse III) zu einer deutlich höheren Leistung führte, hatte er auch Kenntnis
von den realen Auswirkungen der Lohnsteuerklassen III und IV auf die Höhe des Alg. Hierbei kommt es nicht
entscheidend darauf an, ob er Anfang 2000 den genauen Betrag hätte erkennen können. Entscheidend ist vielmehr,
dass ihm die Größenordnung der Veränderung bewusst war (1998 zunächst bewilligt: 429,24 DM; abgeändert in:
518,63 DM). Auch hat der Kläger allein für die Zeit von Mitte April 1998 bis 02.08.1998 eine Nachzahlung von
1.404,70 DM erhalten. Der Kläger konnte sich daher überhaupt nicht darüber im Irrtum befunden haben, dass ein von
der Beklagten beachteter Lohnsteuerklassenwechsel zu einer erheblichen Einbuße im Bereich des Alg führen würde.
Der Kläger hat auch nicht nur nichts dafür vorgetragen, warum er meinte, der Lohnsteuerklassenwechsel sei
unbeachtlich, sondern in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat auch offen und freimütig eingeräumt, dass er
erwartet habe, aufgrund des Lohnsteuerklassenwechsels weniger Alg zu bekommen.
Der Kläger kann sich nicht auf Vertrauensschutz berufen.
Der von der Beklagten erhobene Vorwurf der unterbliebenen Veränderungsmitteilung ist allerdings nicht haltbar (§ 45
Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X bzw. § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB X). Der Senat geht aufgrund der Befragung des
Klägers davon aus, dass der Kläger tatsächlich den Lohnsteuerklassenwechsel angezeigt hat. Der Senat hält den
Kläger für glaubwürdig und seine Angaben für glaubhaft.
Soweit dem Kläger im Verwaltungsverfahren vorgeworfen wurde, er hätte den Berechnungsfehler erkennen können, ist
hingegen der Senat aufgrund der Befragung des Klägers und der weiteren aus der Verwaltungsakte ersichtlichen
Umstände, auf die schon im Widerspruchsbescheid und in den Entscheidungsgründen des Gerichtsbescheides
hingewiesen wurde, davon überzeugt, dass der Kläger gewusst hat, dass eine rechtswidrige Überzahlung eingetreten
ist oder zumindest erkannt hat, dass hier dem AA ein erheblicher Berechnungsfehler unterlaufen sein dürfte und er
gleichwohl bewusst davon abgesehen hat, dem Sachverhalt nachzugehen, er sich also der Erkenntnis der sich ihm
aufdrängenden Rechtswidrigkeit der Zahlung bewusst verschlossen hat.
Grobe Fahrlässigkeit liegt nach der Legaldefinition des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X vor, wenn der Begünstigte die
erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat. Das BSG hat zum Begriff der groben Fahrlässigkeit
bei § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB X entschieden, dass sie vorliegt, wenn der Leistungsempfänger aufgrund
einfachster und naheliegender Überlegungen sicher den Wegfall des Anspruchs hätte erkennen können (Urteil vom
25.01.1994 - 7 RAr 14/93 - SozR 3-1300 § 48 Nr. 32). Grob fahrlässig ist im Allgemeinen das Außerachtlassen von
gesetzlichen oder Verwaltungs-Vorschriften, auf die in einem Merkblatt besonders hingewiesen wurde, es sei denn,
dass der Betroffene nach seiner Persönlichkeitsstruktur und seinem Bildungsstand die Vorschriften nicht verstanden
hat (so genannter subjektiver Fahrlässigkeitsbegriff; ständige Rechtsprechung, vgl. nur BSG, Urteil vom 20.09.1977 -
8/12 RKg 8/76 - SozR 5870 § 13 Nr. 2).
Aufgrund des beruflichen Werdegangs, seiner ehrenamtlichen Tätigkeit im Bereich der kommunalen Selbstverwaltung
und seines Auftretens in der mündlichen Verhandlung hat der Senat keinen Zweifel an einer guten Einsichtsfähigkeit
des Klägers. Der Kläger hat im Jahr 2000 erkannt, dass die Beklagte seine Veränderungsmitteilung nicht zu seinem
Nachteil berücksichtigt hat. Denn die Leistungshöhe ist nahezu gleich geblieben. Auch wusste der Kläger aufgrund
des Widerspruchsverfahrens im Jahre 1998 und der dortigen Korrektur des Alg-Bescheides nach der
Lohnsteuerklasse III zu seinen Gunsten, dass ein erheblicher Unterschied in der wöchentlichen Leistungshöhe bei
Steuerklasse III im Vergleich zu Lohnsteuerklasse IV besteht. Seine Meinung, die nahezu unveränderte
Weitergewährung des bisherigen Betrages sei rechtens, war jedenfalls grob fahrlässig. Der Kläger hat seine
Überraschung über die unverhoffte und damit den sich daraus speisenden erheblichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit
der ausgebliebenen wesentlichen Änderung der Leistungshöhe leichtfertig beiseite geschoben. Es ist angesichts der
damals angespannten finanziellen Situation des Klägers verständlich, aber rechtlich nicht beachtlich, dass er froh
über das fast gleich hoch gebliebene, ja sogar etwas erhöhte Alg war und gar nicht wissen wollte, warum dies so
gekommen ist.
Grob fahrlässig war die Unkenntnis des Klägers über die Rechtswidrigkeit der Leistungshöhe, weil sich aus dem ihm
ausgehändigten Merkblatt leicht auffindbar und eindeutig ergab, dass eine Änderung der Lohnsteuerklasse zum
Nachteil des Leistungsempfängers immer Berücksichtigung findet. Die Kontrollfrage dafür, ob es angesichts der
Erkenntnisfähigkeiten des Klägers grob fahrlässig war, das Merkblatt nicht zur Hand zu nehmen, ist, ob der Kläger im
umgekehrten Fall (Wechsel von Lohnsteuerklasse IV nach III) reagiert hätte und das Merkblatt zu Rate gezogen hätte
oder sogar an die Beklagte herangetreten wäre, wenn die Leistung deutlich niedriger geblieben wäre als erwartet. Dies
kann im Hinblick auf das Widerspruchsverfahren im Jahre 1998 uneingeschränkt bejaht werden.
Die Beklagte hat auch die entgegenstehenden Alg-Bescheide innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen
aufgehoben, welche die Rücknahme bzw. Aufhebung des wegen wesentlicher Änderung rechtswidrig gewordenen
begünstigenden Verwaltungsaktes für die Vergangenheit rechtfertigen. Dabei beginnt die Jahresfrist für die
rückwirkende Aufhebung nicht eher zu laufen, als die für die Entscheidung über die Aufhebung nach der
Geschäftsverteilung des Leistungsträgers zuständige Behörde (§ 1 Abs. 2 SGB X), d.h. die innerhalb der Organisation
des beklagten Leistungsträgers nach dessen Geschäftsverteilung zur Aufhebung berufene Stelle, die erforderliche
Kenntnis erlangt hat. Die Jahresfrist wird nicht schon durch die bloße Kenntnis der Tatsachen ausgelöst, die die
wesentliche Änderung selbst betreffen. Ob darüber hinaus die Erkenntnis der Behörde vorausgesetzt ist, dass die
Leistungserbringung rechtswidrig war bzw. - auf § 48 SGB X bezogen - eine wesentliche Änderung eingetreten ist, ob
also die Jahresfrist nicht nur eine so genannte Handlungsfrist, sondern eine Entscheidungsfrist darstellt, kann
dahingestellt bleiben (vgl. dazu BSG, Urteil vom 25.01.1994 - 7 RAr 14/93 - SozR 3-1300 § 48 Nr. 32, und Urteil vom
06.03.1997 - 7 RAr 40/96). Kenntnis im bezeichneten Sinne hatte die Beklagte jedenfalls frühestens mit dem Zugang
des Alhi-Antrages. Gerechnet ab dem 09.06.2000 hat die Beklagte mit dem Bescheid vom 13.02.2001 innerhalb der
Jahresfrist die entgegenstehenden Alg-Bescheide teilweise aufgehoben.
Der Erstattungsanspruch der Beklagten ergibt sich aus § 50 Abs. 1 SGB X.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160
Abs. 2 SGG) liegen nicht vor. -