Urteil des LSG Saarland vom 25.04.2006

LSG Saarbrücken: verwaltungsakt, zivilrechtliche ansprüche, ungerechtfertigte bereicherung, grobe fahrlässigkeit, erbschaft, tod, erbe, rücknahme, rückwirkung, vertrauensschutz

LSG Saarbrücken Urteil vom 25.4.2006, L 5 V 3/05
Haftung des Verfügenden bzw Erben für die Überzahlung von Versorgungsleistungen nach
dem Tod des Versorgungsberechtigten
Leitsätze
1. Für die Zeit bis 1. Januar 1996 können Erstattungsforderungen wegen - nach dem Tod
des Versorgungsberechtigten erfolgter - Überzahlungen nur auf die §§ 812 ff BGB gestützt
werden.
2. Die §§ 66 Abs. 2 Satz 4 BVG, 118 Abs. 4 SGB 6 a.F. erlauben nicht die
Geltendmachung von Erstattungsforderungen durch Bescheid.
3. § 300 Abs. 1 SGB 6 führt bei solchen Erstattungsforderungen nicht zur Rückwirkung
späterer Änderungen des SGB 6.
4. Nach dem Tod des Versorgungsberechtigten zu Unrecht erbrachte Rentenzahlungen
führen nicht zu Erbfallschulden, für die der Erbe aufzukommen hat.
Tenor
1. Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des SG vom 14. März 2005 sowie der
Bescheid des Beklagten vom 15. November 2001 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 21. Mai 2002 aufgehoben.
2. Der Beklagte hat die der Klägerin in beiden Rechtszügen entstandenen
außergerichtlichen Auslagen zu erstatten.
3. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin dem Beklagten überzahlte
Versorgungsbezüge zu erstatten hat. Hierbei ist einerseits streitig, ob die Klägerin unter
dem Gesichtspunkt des unberechtigten Empfangs und der unberechtigten Verfügung über
die Versorgungsbezüge haftbar ist oder als Erbin. Zum anderen wird darüber gestritten, ob
ein eventuell bestehender Erstattungsanspruch durch Bescheid geltend gemacht werden
konnte.
Der 1913 geborene und am 11. November 1995 verstorbene Vater der Klägerin (K.W.),
der Versorgungsempfänger V., hatte eine Versorgungsrente gemäß § 30 Abs. 1
Bundesversorgungsgesetz (BVG) bezogen, bemessen nach einer Minderung der
Erwerbsfähigkeit (MdE) von 40 vom Hundert.
Die Rente in Höhe von zuletzt 287,-- DM monatlich ist auch noch nach dem Tod des V. für
die Zeit von Dezember 1995 bis November 1999 weiter gewährt worden, da die Erben
des V., nämlich die Klägerin und deren Mutter P.W., Ehefrau des V., dem Beklagten nicht
mitgeteilt hatten, dass V. verstorben war. Insgesamt kam es zu einer Überzahlung von
13.970,-- DM (= 6.702,53 EUR), die auf das frühere Konto des V. bei der Kreissparkasse
S. gelangt ist.
Am 17. November 1999 wurde dem Beklagten bekannt, dass V. verstorben war. Er
forderte zunächst die Kreissparkasse S. auf, die erbrachten Versorgungsleistungen
zurückzuzahlen, wozu sich diese allerdings wegen eines fehlenden Guthabens auf dem
Konto nicht in der Lage sah. Als Empfänger der Leistung benannte die Kreissparkasse S.
die Ehefrau des V., die auch über die Geldsumme verfügt habe.
Mit Bescheid vom 26. November 1999 forderte der Beklagte sodann von der Ehefrau des
V. unter Anrechnung eines Sterbegeldes von 861,-- DM gemäß § 118 Abs. 4 des Sechsten
Buchs des Sozialgesetzbuchs – gesetzliche Rentenversicherung – (SGB VI) 13.109,-- DM
zurück. Die Ehefrau des V. sah sich zur Zahlung der Gesamtsumme außer Stande und bot
eine monatliche Rückzahlung von 300,-- DM an, da sie neben den monatlich anfallenden
eigenen Kosten auch ihre Tochter, die Klägerin, und deren behinderte Tochter finanziell
unterstütze. Der Beklagte lehnte dieses Angebot ab.
Am 22. April 2000 verstarb die Ehefrau des V.
Der Beklagte ermittelte erstmals mit Verfügungen vom 07. September 2000 durch
Nachfragen beim Nachlassgericht S. und beim Sozialamt der Stadt D., u. a. ob
Nachlassvorgänge vorhanden sind, ob die Erbschaft (nach V.) ausgeschlagen wurde, ob
gegebenenfalls nicht berufene Erben bekannt sind, ob ein Erbschein ausgestellt wurde und
ob die Anschriften der noch lebenden Angehörigen (Erben) bekannt sind. In einer beim
Beklagten am 14. September 2000 eingegangenen Antwort des Nachlassgerichts S. vom
11. September 2000 wird u. a. ausgeführt, dass bezüglich des V. kein Nachlassvorgang
vorhanden sei und dass bezüglich der nachverstorbenen Ehefrau die dem Nachlassgericht
bekannt gewordenen Erben der ersten Ordnung, nämlich die Klägerin und deren Söhne die
Erbschaft ausgeschlagen hätten.
Der Beklagte machte in der Folge den Betrag von 13.109,-- DM mit Bescheid vom 31. Mai
2001 gegenüber der Tochter der Klägerin geltend; tatsächlich hatte die Tochter der
Klägerin die Erbschaft nach ihrer Großmutter schon am 30. Mai 2000 ausgeschlagen.
Mit Vermerk vom 15. Oktober 2001 wird vom Beklagten erstmals festgehalten, aus der
Versorgungsakte gehe hervor, dass Erbe nach dem verstorbenen V. nicht nur dessen
Ehefrau, sondern auch die Klägerin war; diese habe das Erbe nach dem V. nicht
ausgeschlagen; sie hafte daher gemeinsam mit ihrer Mutter auf Rückzahlung der
eingetretenen Überzahlung aus dem Gesichtspunkt der Nachlasserbenschuld.
Sodann machte der Beklagte mit Rückforderungsbescheid vom 15. November 2001 (Bl.
128 ff. der VA) gegenüber der Klägerin den Betrag von 13.109,-- DM geltend, zahlbar bis
spätestens 31. Dezember 2001, und zwar ohne zuvor eine Anhörung durchzuführen. Zur
Begründung stützte sich der Beklagte auf § 118 Abs. 4 SGB VI, wonach Personen, die eine
für die Zeit nach dem Tod des Berechtigten zu Unrecht erbrachte Geldleistung in Empfang
genommen oder über den entsprechenden Betrag verfügt hätten, so dass dieser nicht
nach § 118 Abs. 3 SGB VI von dem Geldinstitut zurück überwiesen werde, dem Träger der
Rentenversicherung zur Erstattung des entsprechenden Betrages verpflichtet seien; diese
Regelung gelte gemäß § 66 Abs. 2 Satz 4 BVG auch für den Bereich der
Kriegsopferversorgung. Des Weiteren wurde ausgeführt, dass von dem an sich überzahlten
Betrag von 13.970,-- DM das Sterbegeld in Höhe von 861,-- DM abgesetzt worden sei, so
dass sich der geltend gemachte Erstattungsbetrag von 13.109,-- DM ergebe. Schließlich ist
ausgeführt, dass die Klägerin auch als nächstberufene Erbin des V. zur Rückerstattung der
Überzahlung verpflichtet sei. Ermessenserwägungen sind in diesem Bescheid nicht
angestellt worden.
Im anschließenden Widerspruchsverfahren trug die Klägerin vor, die nach dem Tod des V.
zugeflossenen Zahlungen seien nicht dessen Nachlass zuzurechnen, da sie dem V. nicht
mehr hätten zu Gute kommen können, sondern lediglich der Mutter; nach dem Tode der
Mutter habe sie, die Klägerin, die Erbschaft ausgeschlagen; gegen die
Rückforderungsansprüche erhebe sie die Einrede der Verjährung.
Der Widerspruch wurde vom Beklagten durch Widerspruchsbescheid vom 21. Mai 2002
mit der Begründung zurückgewiesen, die Rückerstattung der zu Unrecht erbrachten
Leistungen beruhe auf einer Nachlasserbenschuld, für die die Klägerin als Erbin neben ihrer
Mutter haftbar zu machen sei; die Einrede der Verjährung könne hier nicht zum Tragen
kommen, da die entsprechende Frist erst zu laufen beginne, wenn der jetzt mit dem
Widerspruch angefochtene Verwaltungsakt unanfechtbar geworden sei. Des Weiteren
machte der Beklagte Ausführungen zu § 118 Abs. 3 und 4 SGB VI. Auch im
Widerspruchsbescheid wurden Ermessenserwägungen nicht angestellt.
Das anschließende Klageverfahren verlief für die Klägerin erfolglos. Das Sozialgericht für das
Saarland (SG) hat die Klage mit Urteil vom 14. März 2005 abgewiesen, da die Klägerin
sowohl als Erbin wie auch als unberechtigte Empfängerin von Sozialleistungen hafte;
ausweislich der Auszahlungsbelege der Kreissparkasse S., die das SG angefordert hatte,
habe die Klägerin Geldbeträge mindestens in der Höhe von 13.109,-- DM in Empfang
genommen; der von § 118 Abs. 4 SGB VI genannte Personenkreis umfasse auch
Kontobevollmächtigte; darüber hinaus hafte die Klägerin auch als Erbin, da sie eine
Miterbenschaft nach dem V. nicht ausgeschlagen habe und die
Rückzahlungsverbindlichkeiten zu den Nachlassverbindlichkeiten zählten; ein
Vertrauensschutz nach § 50 Abs. 2 des 10. Buchs des Sozialgesetzbuchs –
Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) in Verbindung mit § 45 Abs. 4
SGB X (in entsprechender Anwendung) stehe der Forderung des Beklagten nicht entgegen.
Gegen dieses ihr am 04. April 2005 zugegangene Urteil hat die Klägerin mit einem am 29.
April 2005 bei Gericht eingegangenen Schriftsatz vom 27. April 2005 Berufung eingelegt.
Zur Begründung trägt sie vor, das SG sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass sie
Geldleistungen selbst in Empfang genommen und für sich vereinnahmt habe; das SG
berücksichtige ihren Vortrag nicht, wonach sie lediglich im Auftrag ihrer schwer erkrankten
Mutter und auch erst seit der Erkrankung der Mutter gehandelt habe; die abgehobenen
Geldbeträge seien der Mutter ausgehändigt und nicht von ihr, der Klägerin, verbraucht
worden; allein das Abheben der Geldbeträge sei nicht ausreichend, einen
Rückforderungsanspruch zu begründen; zudem sei ihr nicht bekannt gewesen, dass die
Zahlungen zu Unrecht erfolgt seien, da sie der Auffassung gewesen sei, es handele sich
um Witwenrente oder um die eigene Rente der Mutter; sie, die Klägerin, sei nicht
bösgläubig gewesen; weiterhin liege auch kein Rückforderungsanspruch aus dem
väterlichen Nachlass vor, da ein solcher Anspruch zum Zeitpunkt des Todesfalls nicht
bestanden habe; der Anspruch, die erst nach dem Tode des V. erfolgten Auszahlungen zu
erstatten, könne sich nur gegen die Mutter richten; der Anspruch sei aber nicht vererbt
worden, da sie, die Klägerin, als Erbin der Mutter die Erbschaft ausgeschlagen habe.
Sie beantragt,
das Urteil des SG vom 14. März 2005 sowie den Bescheid des Beklagten vom
15. November 2001 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 21. Mai
2003 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er verteidigt das angefochtene Urteil und vertieft sein bisheriges Vorbringen.
Auf eine hinweisende Verfügung des Senats vom 07. Juli 2005, wonach der hier analog
anzuwendende Absatz 4 des § 118 SGB VI zum Zeitpunkt der Rentenauszahlung für den
Monat Dezember 1995 noch nicht in Kraft gewesen sei, so dass allenfalls zivilrechtliche
Ansprüche nach den §§ 812 ff. Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) vorliegen könnten, die nicht
durch Bescheid geltend gemacht werden können, und wonach auch die sich ab Januar
1996 aus § 118 Abs. 4 SGB VI ergebenden Ansprüche nicht durch Bescheid, sondern
durch Erhebung der Leistungsklage geltend gemacht werden können, hat der Beklagte
vorgetragen, durch die Neufassung des § 118 SGB VI in Verbindung mit der Neufassung
des § 66 Abs. 2 BVG durch das Gesetz vom 15. Dezember 1995 habe sich die bis dahin
bestehende Rechtslage insoweit geändert, als zwischen Leistungsträger und Erben des
Leistungsberechtigten nunmehr eine öffentlich-rechtliche Beziehung bestehe, so dass die
Sozialgerichte zu entscheiden hätten; da der hier angegriffene Bescheid zeitlich nach dem
31. Dezember 1995 liege und da es bei einer Anfechtungsklage auf den Zeitpunkt des
Erlasses des angegriffenen Bescheides ankomme, richte sich die Rückforderung der zu
Unrecht ausgezahlten Rente auch für den Monat Dezember 1995 nach öffentlichem Recht,
nicht nach Zivilrecht, so dass § 118 Abs. 4 SGB VI für den gesamten Zeitraum von
Dezember 1995 bis November 1999 nicht zu beanstanden sei.
Allerdings hat der Beklagte zuletzt im Termin zur mündlichen Verhandlung eingeräumt,
dass bei Erlass des angegriffenen Bescheides eine Heranziehung aus § 118 Abs. 4 SGB VI
nicht in der Form des Verwaltungsaktes statthaft war.
Der Beklagte meint, darüber hinaus ergebe sich aus der Formulierung des § 118 Abs. 4
Satz 3 SGB VI in Verbindung mit § 50 SGB X, dass jedenfalls gegenüber einem Erben ein
Erstattungsanspruch durch Verwaltungsakt geltend gemacht werden könne; die Klägerin,
die die Erbschaft nach ihrem verstorbenen Vater nicht ausgeschlagen habe, könne somit
durch Verwaltungsakt als Erbin in Anspruch genommen werden; Gesichtspunkte des
Vertrauensschutzes, die in entsprechender Anwendung des § 45 SGB X zu berücksichtigen
seien, stünden vorliegend, wie das SG zu Recht ausgeführt habe, der geltend gemachten
Erstattung nicht entgegen; zwar fehle eine entsprechende Begründung im angefochtenen
Bescheid; dieser Mangel könne aber nach der Neufassung des § 41 Abs. 2 SGB X zum 01.
Januar 2001 bis zur letzten Tatsacheninstanz eines sozialgerichtlichen Verfahrens
nachgeholt werden.
Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Beteiligten, der informatorisch gegebenen
Angaben des Sohnes der Klägerin und des sonstigen Verfahrensganges wird auf den Inhalt
der Gerichtsakte verwiesen. Es wird Bezug genommen auf den Inhalt der B-Akten des
Beklagten mit der Grundlisten-Nr. 092489; die Beiakte war Gegenstand der mündlichen
Verhandlung.
Entscheidungsgründe
Die Berufung, bezüglich deren Zulässigkeit sich keine Bedenken ergeben, ist auch
begründet.
Als über die fehlgeleitete Rentenzahlung verfügende Person durfte, wie auch der Beklagte
zuletzt eingeräumt hat, die Klägerin durch Verwaltungsakt nicht in Anspruch genommen
werden. Der angefochtene Bescheid ist auch rechtswidrig, soweit der Beklagte gegenüber
der Klägerin einen Erstattungsanspruch unter dem Gesichtspunkt der Erbenhaftung
durchsetzen will.
Soweit die Klägerin als Empfängerin bzw. Verfügende der fehlgeleiteten Rentenzahlung in
Anspruch genommen wird, liegt der rechtlichen Beurteilung § 66 Abs. 2 BVG in Verbindung
mit § 118 Abs. 4 SGB VI in der Fassung (a. F.) zu Grunde, die diese Vorschriften durch
Gesetz vom 15. Dezember 1995 zur Änderung des SGB VI und anderer Gesetze erfahren
haben.
Durch Art. 1 Nr. 20 dieses Änderungsgesetzes sind dem § 118 die Absätze 3 und 4
angefügt worden, durch die eine bislang fehlende öffentlich-rechtliche Regelung für
Rücküberweisungs- und Erstattungsansprüche eines Sozialleistungsträgers für die nach
dem Tode des Berechtigten überzahlten Renten und Bezügen gegenüber den an
Geldbewegungen beteiligten Geldinstituten (Abs. 3) und den an den Geldbewegungen
beteiligten Dritten (Abs. 4) geschaffen worden ist.
Gleichzeitig wurde durch Art. 13 des Änderungsgesetzes § 66 Abs. 2 Satz 4 BVG
dahingehend neu gefasst, dass § 118 Abs. 3 und 4 SGB VI a. F. im Versorgungsrecht
entsprechend anzuwenden waren. Dass das BVG und das SGB VI in der oben genannten
Fassung anzuwenden sind, ergibt sich aus dem Zeitpunkt des Erlasses des angegriffenen
Bescheides.
Denn maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der von der Klägerin erhobenen
Anfechtungsklage ist, worauf der Beklagte zu Recht selbst hinweist, die Sach- und
Rechtslage bei Erlass der letzten behördlichen Entscheidung; dies war aber der 21. Mai
2002 (vgl. hierzu: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Sozialgerichtsgesetz – SGG – 8. Aufl. –
2005 -, § 54 Rdnr. 32a).
Bei – entsprechender – Anwendung der Abs. 3 und 4 des § 118 SGB VI a. F. ist zu
beachten, dass das Verhältnis zwischen diesen beiden Regelungen durch die Vorrangigkeit
des Abs. 3 gekennzeichnet ist. Das heißt, dass der Beklagte die Klägerin, nachdem ein
Erstattungsanspruch des Beklagten gegen die Kreissparkasse S. nach § 118 Abs. 3 SGB VI
a. F. wegen des fehlenden Guthabens nicht bestand, vor den Sozialgerichten in Anspruch
nehmen durfte.
Allerdings enthielt § 118 Abs. 4 SGB VI in der damals maßgeblichen Fassung keine
Ermächtigung zum Erlass eines Verwaltungsaktes gegenüber dem Empfänger oder dem
Verfügenden. Eine solche Möglichkeit wurde erst geschaffen durch Art. 8 Nr. 6 des
Gesetzes vom 21. Juni 2002 zur Einführung einer kapitalgedeckten Zusatzversicherung und
zur Änderung anderer Gesetze (Hüttenknappschaftliches Zusatzversicherungs-
Neuregelungs-Gesetz – HZvNG) für die Zeit ab 29. Juni 2002, mit dem § 118 Abs. 4 Satz
2 SGB VI a. F. in der Weise neu gefasst wird, dass es heißt: „Der Träger der
Rentenversicherung hat Erstattungsansprüche durch Verwaltungsakt geltend zu machen“.
Da der angefochtene Verwaltungsakt seine letzte Fassung durch Widerspruchsbescheid
vom 21. Mai 2002 erhielt, konnte er sich auf die später in Kraft getretene Ermächtigung
nicht stützen. Ab Inkrafttreten des § 118 Abs. 4 SGB VI a.F. zum 01. Januar 1996 hätte
der Beklagte gegen die Klägerin somit zwar vor den Sozialgerichten vorgehen können,
allerdings nur im Wege der Leistungsklage.
Für die Zeit vor dem 01. Januar 1996, hier also für die Überzahlung für den Monat
Dezember 1995, hat hingegen der für die Zeit ab 01. Januar 1996 neu gefasste § 66 Abs.
2 BVG in Verbindung mit der ebenfalls für die Zeit ab 01. Januar 1996 geltenden Fassung
des § 118 Abs. 4 SGB VI a. F. keine Geltung. Zwar sieht der Grundsatz des § 300 Abs. 1
SGB VI vor, dass die Vorschriften des SGB VI von dem Zeitpunkt ihres Inkrafttretens an auf
einen Sachverhalt oder Anspruch auch dann anzuwenden sind, wenn bereits vor diesem
Zeitpunkt der Sachverhalt oder Anspruch bestanden hat. Diese Regelung ist jedoch
verfassungskonform auszulegen und findet dementsprechend keine Anwendung, wenn sie
zu einer echten, für den Betroffenen belastenden Rückwirkung – wie hier – führen würde.
Zwar wird kontrovers diskutiert, wie weit die Rückwirkung des § 300 Abs. 1 SGB VI geht.
So verneint der 4. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) eine echte – belastende –
Rückwirkung im obigen Sinne. Dagegen bejahen der 5. und 13. Senat des BSG die
Rückwirkung, wenn nach dem 31. Dezember 1991 eine rentenversicherungsrechtliche
Entscheidung zu treffen ist (zum Diskussionsstand: Diel in Hauck/Noftz K § 300 Rdnrn. 19
ff.). Vorliegend ist aber eine rentenversicherungsrechtliche Entscheidung nicht getroffen
worden. Dementsprechend verweist auch das BVG nicht auf § 300 Abs. 1 SGB VI.
Letztlich kann allerdings dahinstehen, ob § 118 Abs. 4 SGB VI a. F. auch auf die im
Dezember 1995 erfolgte Überzahlung anzuwenden ist.
Verneint man die Anwendung, so hätte für den Beklagten nur die Möglichkeit bestanden,
eine Überzahlung im Wege der Zahlungsklage vor den Zivilgerichten geltend zu machen,
gestützt auf die Bestimmungen der §§ 812 ff. BGB über die ungerechtfertigte Bereicherung
(zur Rechtslage bis 31. Dezember 1995: BSG, Urteil vom 09. Februar 1998 – B 9 V 48/97
R; Terdenge in Hauck/Noftz, SGB VI, § 118 Rd.-Nr. 14a, 16).
Bejaht man die Anwendung des § 118 Abs. 4 SGB VI a. F. auf den Monat Dezember 1995,
so hätte es immer noch an der Möglichkeit gefehlt, den Erstattungsanspruch durch
Verwaltungsakt gelten zu machen.
Auch soweit der Beklagte die Klägerin als Erbin des V. in Anspruch nimmt, ist der
angefochtene Bescheid zu Unrecht ergangen.
Zwar sieht der für die Zeit ab 18. Januar 2001 geltende Satz 3 des § 118 Abs. 4 SGB VI
(jetzt: Satz 5) vor, dass ein Anspruch gegen die Erben nach § 50 des SGB X unberührt
bleibt. Gegen die Klägerin besteht jedoch aus erbrechtlichen Gesichtspunkten kein
Anspruch, und die Voraussetzungen des § 50 SGB X sind im Übrigen nicht gegeben.
Gemäß § 1967 Abs. 1 BGB haftet der Erbe für die Nachlassverbindlichkeiten.
Nachlassverbindlichkeiten sind sowohl Erblasserschulden als auch Erbfallschulden
(Palandt/Edenhofer, BGB, 65. Auflage - 2006 -, § 1967 Rd.-Nr. 1). Erblasserschulden sind
die hier geltend gemachten Ansprüche zweifelsfrei nicht, da sich nicht zu Lebzeiten des V.
entstanden sind, also nicht von ihm herrühren. Sie sind aber auch nicht als Erbfallschulden
zu betrachten, da sie nicht aus Anlass des Erbfalls entstanden sind wie etwa
Pflichtteilsansprüche, Vermächtnisse und Kosten der Beerdigung (vgl. hierzu:
Palandt/Edenhofer, a.a.O., Rd.-Nr. 7). Die aufgezählten Beispiele machen deutlich, dass
Erbfallschulden aus Verfügungen herrühren, die wegen des Todes des Erblassers
entstanden sind. Die Rentenüberzahlungen sind aber nicht wegen des Todes des V.,
sondern trotz des Todes des V. erfolgt.
Abgesehen davon, dass somit eine Haftung der Klägerin als Erbin ausscheidet, hat der
Beklagte auch nicht die Erfordernisse des § 50 Abs. 2 SGB X beachtet, der hier allein als
Grundlage des angefochtenen Bescheides in Betracht käme. Nach dieser Vorschrift sind
Leistungen zu erstatten, soweit sie ohne Verwaltungsakt zu Unrecht erbracht worden sind,
wobei die §§ 45 und 48 SGB X entsprechend gelten.
Da die hier geltend gemachten Rentenüberzahlungen von Anfang an zu Unrecht erfolgt
sind, ist bei einer auf § 50 Abs. 2 SGB X gestützten Erstattung § 45 SGB X entsprechend
anzuwenden.
Nach § 45 Abs. 1 SGB X darf ein bestandskräftiger begünstigender rechtswidriger
Verwaltungsakt nur unter den Voraussetzungen der Absätze 2 – 4 ganz oder teilweise mit
Wirkung für die Zukunft oder die Vergangenheit zurückgenommen werden. § 45 Abs. 2
SGB X untersagt die Rücknahme, wenn der Begünstigte auf den Bestand des
Verwaltungsakts vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen
Interesse an der Rücknahme schutzwürdig ist, etwa dann, wenn der Begünstigte die
erbrachten Leistungen verbraucht hat. Auf den Vertrauensschutz kann sich aber derjenige
nicht berufen, der u. a. die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge
grober Fahrlässigkeit nicht kannte, wobei als grob fahrlässig die Verletzung der
erforderlichen Sorgfalt in besonders schwerem Maße angesehen wird.
Nach ihren eigenen Angaben in Verbindung mit den Angaben ihres Sohnes im Termin zur
mündlichen Verhandlung, wonach die eingehenden Beträge nur mit Kontonummern
versehen, nicht aber in ihrer Art gekennzeichnet waren, hat sie die eingehenden Beträge
nicht als Zahlungen für ihren verstorbenen Vater erkannt. Nach dem persönlichen Eindruck,
den der Senat von ihr gewonnen hat, war ihr insoweit auch keine grobe Fahrlässigkeit
vorzuwerfen.
Selbst wenn Vertrauensschutz zu verneinen gewesen wäre, hätte es an den weiteren
Voraussetzungen des § 45 SGB X gefehlt.
Denn auch die Jahresfrist des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X war nicht gewahrt. Die Rücknahme
für die Vergangenheit, die bei fehlendem Vertrauensschutz erlaubt ist, muss innerhalb
eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen vorgenommen werden, welche die Rücknahme
eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes für die Vergangenheit
rechtfertigen. Dem Vermerk des Beklagten vom 15. Oktober 2001 ist zu entnehmen, dass
damals für den Beklagten feststand, dass Erbe nach dem V. nicht nur die (mittlerweile
verstorbene) Ehefrau war, sondern auch die Klägerin. Des Weiteren war bekannt, dass die
Klägerin das Erbe nach dem V. nicht ausgeschlagen hatte. Dem entsprechend ist in diesem
Vermerk festgehalten, dass die Klägerin gemeinsam mit ihrer Mutter auf Rückzahlung der
eingetretenen Überzahlung aus dem Gesichtspunkt der „Nachlasserbenschuld“ haftet. In
diesem Vermerk wird Bezug genommen auf die am 14. September 2000 eingegangene
Mitteilung des Nachlassgerichts S. vom 11. September 2000. Dass seit Eingang dieser
Mitteilung neue Erkenntnisse gesammelt worden wären, ist den Verwaltungsakten nicht zu
entnehmen. Demnach muss der Eingang der Mitteilung des Nachlassgerichts S. beim
Beklagten, nämlich der 14. September 2000, als maßgeblicher Zeitpunkt angesehen
werden. Der Beklagte hat die Klägerin jedoch erst mit Bescheid vom 15. November 2001
in Anspruch genommen, also nach Ablauf von mehr als einem Jahr.
Schließlich erlaubt § 45 SGB X die Rücknahme eines bestandskräftigen rechtswidrigen
begünstigenden Verwaltungsaktes nur als Ermessensentscheidung, was sich darin
ausdrückt, dass nach dem Wortlaut des § 45 Abs. 1 SGB X ein Verwaltungsakt
zurückgenommen werden „darf“. Ermessenerwägungen hat der Beklagte aber an keiner
Stelle angestellt. Hierzu hätte indes durchaus Anlass bestanden, da mindestens zu prüfen
gewesen wäre, ob eigene Säumigkeit vorgelegen hat, die im Sinne eines Mitverschuldens
haftungsmindernd hätte in Betracht gezogen werden können. Weiterhin hätte an dieser
Stelle erwogen werden müssen, ob sich zu Gunsten der Klägerin ein neuer
Vertrauenstatbestand hatte bilden können, nachdem zunächst die Mutter, dann die
Tochter der Klägerin in Anspruch genommen wurden, so dass die Klägerin hätte meinen
können, eine eigene Haftung komme keinesfalls in Betracht. Schließlich hätte geprüft und
gewertet werden müssen, ob die Klägerin tatsächlich nur als Botin ihrer Mutter aufgetreten
war, also selbst von den Überzahlungen nicht profitierte. Ein Fall, in dem kein Raum
gewesen wäre für eine Ermessenserwägung, liegt nicht vor, so dass sich schon wegen
fehlender Ermessenserwägungen eine Erstattung auf die §§ 50 Abs. 2, 45 SGB X nicht
stützen lässt.
Da der Beklagte einen durch Bescheid realisierbaren Erstattungsanspruch gegen die
Klägerin nicht hatte, stellt sich nicht die Frage, ob ein solcher Anspruch verjährt sein
könnte.
Der Berufung konnte der Erfolg somit nicht versagt werden, und es war zu entscheiden wie
erkannt.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Die Revision konnte nicht zugelassen werden, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2
SGG nicht vorliegen.