Urteil des LSG Saarland vom 24.03.2005

LSG Saarbrücken: freiwillige versicherung, zuschuss, pflege, erlass, arbeitslosenhilfe, sozialhilfe, beitrag, stamm, vollzug, form

LSG Saarbrücken Beschluß vom 24.3.2005, L 9 B 1/05 AS
Grundsicherung für Arbeitsuchende - Bedarfsermittlung - fehlende Hilfebedürftigkeit -
Sozialversicherungsschutz - analoge Anwendung von § 26 Abs 2 SGB 2
Leitsätze
Wird in den Fällen des § 19 SGB 2, in dennen eine Familienversicherung in der gesezlichen
Kranken- und Pflegeversicherung nicht möglich ist und allein wegen der Zahlung von
Beiträgen zu einer freiwilligen Versicherung Hilfebedürftigkeit nach § 9 SGB II eintritt, von
der Arbeitsverwaltung ein Zuschuss zu den Beiträgen zur Kranken- und Pflegeversicherung
nach § 26 Abs 2 SGB II analog gewährt, so fehlt einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen
Anordnung mit dem Begehren, vorläufig die Arbeitsverwaltung zu der Entrichtung der
Beiträge zur Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung das erforderliche Eilbedürfnis.
Tenor
Auf die Beschwerde der Beschwerdeführerin werden der Beschluss des Sozialgerichts für
das Saarland vom 28. Januar 2005 und der Nichtabhilfebeschluss des Sozialgerichts für das
Saarland vom 04. März 2005 aufgehoben und der Antrag des Beschwerdegegners auf
Erlass einer einstweiligen Anordnung zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander für beide Rechtszüge keine Kosten zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten im Eilverfahren darüber, ob die Beschwerdeführerin verpflichtet ist,
für den Beschwerdegegner vorläufig Beiträge zur Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung
zu entrichten. Der am 1950 geborene Beschwerdegegner bezog bis zum 31. Dezember
2004 Arbeitslosenhilfe. Am 30. September 2004 beantragte der Beschwerdegegner
Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch des
Sozialgesetzbuchs – Grundsicherung für Arbeitssuchende – (SGB II). Er gab in dem
Antragsformular unter anderem an, seit 1978 mit seiner Lebensgefährtin, der Zeugin K.M.
in eheähnlicher Gemeinschaft zu leben. Die Zeugin M. bezieht zwei Renten in Höhe von
insgesamt 1.058,43 EUR netto. Mit Bescheid vom 25. November 2004 wies die
Beschwerdeführerin den Antrag des Beschwerdegegners zurück. Zur Begründung führte
sie aus, der Beschwerdegegner sei nicht hilfebedürftig nach den §§ 7 Abs. 1 Nr. 3, 9 Abs. 1
Nr. 2 SGB II. Dagegen richtete sich der Widerspruch des Beschwerdegegners vom 14.
Dezember 2004, mit welchem er unter anderem geltend machte, die Beiträge zur
freiwilligen Kranken- und Rentenversicherung könne er nicht finanzieren. In einer
schriftlichen Erklärung vom 14. Dezember 2004 teilte die Zeugin M. in einem an den
Beschwerdegegner gerichteten Schreiben mit, sie sei nicht in der Lage und auch nicht
bereit, seinen vollkommenen Unterhaltsbedarf zu bestreiten. Sie sichere ihm zu, dass sie
die Kaltmiete übernehme. Weitergehende Zahlungen könne sie nicht leisten. Dazu sei sie
auch nicht bereit. Nach den gesetzlichen Normen sei sie nicht unterhaltspflichtig. Am 30.
Dezember 2004 hat der Beschwerdegegner im Wege der einstweiligen Anordnung beim
Sozialgericht für das Saarland (SG) beantragt, die Beschwerdeführerin zu verpflichten, die
Beiträge zur Kranken- und Rentenversicherung für ihn zu zahlen. Zur Begründung hat er
ausgeführt, er sei schwer krank, müsse ständig zum Arzt und sei nicht in der Lage, sich
selbst zu versichern. Er könne auch nicht die anfallenden Arztrechnungen selbst zahlen. Die
Beschwerdeführerin hatte zunächst ihre Auffassung, ein Anspruch auf Übernahme der
Beiträge zur Kranken- und Rentenversicherung bestehe nicht, weiter verfolgt. Sie hatte
einen Gesamtbedarf für den Beschwerdegegner und die Zeugin M. in Höhe von 877,66
EUR ermittelt. Unter Berücksichtigung des Nettoeinkommens von 1.058,43 EUR und unter
Abzug eines Pauschbetrages von 30,-- EUR für private Versicherungen und der Kfz.-
Haftpflichtversicherung in Höhe von monatlich 32,39 EUR verbleibe, so die
Beschwerdeführerin, ein anzurechnendes Einkommen in Höhe von 996,04 EUR. Unter
Berücksichtigung des Bedarfes betrage das übersteigende Einkommen dann noch 118,38
EUR, was zwischen den Beteiligten außer Streit steht.
Mit Schriftsatz vom 14. Januar 2005 hatte die Beschwerdeführerin sich bereit erklärt,
soweit das übersteigende Einkommen in Höhe von 118,38 EUR nicht ausreiche, die
Beiträge zur freiwilligen Kranken- und Pflegeversicherung zu entrichten, Leistungen der
Grundsicherung für Arbeitssuchende in Höhe von monatlich 0,01 EUR zu bewilligen mit der
Folge, dass der Beschwerdegegner durch sie - die Beschwerdeführerin - pflichtversichert
sei. Mit Schriftsatz vom 20. Januar 2005 hat die Beschwerdeführerin von diesem Angebot
Abstand genommen. In Fällen wie dem vorliegenden sei nach einer Mitteilung des
Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit ein Zuschuss zu den Beträgen zur freiwilligen
gesetzlichen oder privaten Kranken- und Pflegeversicherung zu zahlen. Im Termin zur
Erörterung hat der Beschwerdegegner angesichts des Angebots auf Zuschuss in Höhe von
37,22 EUR monatlich eingewandt, nicht in der Lage zu sein, die Restmittel bereit zu stellen,
um eine freiwillige Versicherung abschließen zu können. Nach einem Schreiben der
Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) an den Beschwerdegegner vom 19. Januar 2005
beträgt der Beitrag zur Kranken- und Pflegeversicherung monatlich 155,60 EUR.
Mit Beschluss vom 28. Januar 2005 hat das SG die Beschwerdeführerin vorläufig bis zu
einer Entscheidung in der Hauptsache bzw., falls der Beschwerdegegner kein
Hauptsacheverfahren einleiten sollte, bis zur Bestandskraft des noch zu erlassenden
Widerspruchsbescheides verpflichtet, dem Beschwerdegegner ab dem Monat Januar 2005
Arbeitslosengeld II in Höhe von 1 Cent monatlich zu zahlen. Zur Begründung hat das SG
ausgeführt, dass nach der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung die
Voraussetzungen für einen Anspruch des Beschwerdegegners auf Zahlung von
Arbeitslosengeld II in Höhe von 1 Cent monatlich mit überwiegender Wahrscheinlichkeit
gegeben seien. Deshalb sei die Beschwerdeführerin auch verpflichtet, die Beiträge zu den
Pflichtversicherungen (Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung) zu tragen. Die dem
Beschwerdegegner verbleibenden 118,38 EUR, so das SG, reichten auf keinen Fall aus, um
den monatlichen Beitrag einer freiwilligen Kranken- und Pflegeversicherung zu tragen. Der
Beschwerdegegner könne auch nicht auf einen Zuschuss aus direkter oder analoger
Anwendung des § 26 SGB II verwiesen werden. Die direkte Anwendung des § 26 SGB II sei
nur für Bezieher von Arbeitslosengeld II im Sinne des § 19 SGB II möglich. Eine analoge
Anwendung scheide aus, weil die Kammer die dafür erforderliche Regelungslücke nicht
gegeben sehe. Die Problematik des fehlenden Krankenversicherungsschutzes bei
nichtehelichen Lebensgemeinschaften und einem anzurechnenden Einkommen, das knapp
über der Bedürftigkeitsgrenze liege, sei aus dem Bereich der Arbeitslosenhilfe seit langem
bekannt. Dafür, dass der Gesetzgeber sich der Problematik nicht bewusst gewesen sei,
habe die Kammer keine Anhaltspunkte. Gegen eine analoge Anwendung bestünden
überdies erhebliche Bedenken verfassungsrechtlicher Art im Hinblick auf den Zweck der
Leistungen zur Grundsicherung, nämlich der Sicherung eines soziokulturellen
Existenzminimums. Für die Beschwerdeführerin bestehe daher die Pflicht, dem
Beschwerdegegner den geringst möglichen Betrag an Arbeitslosengeld auszuzahlen und
ihm somit den Schutz zu allen Pflichtversicherungen zu gewähren. Zwar verkenne die
Kammer nicht, dass die Anwendung der sogenannten „1-Cent-Regelung" zu
Ungleichbehandlungen führen könne. So sei der Personenkreis, der von der Regelung des §
26 SGB II in direkter Anwendung betroffen sei, gegenüber den Personen, auf die die „1-
Cent-Regelung" Anwendung finde, benachteiligt. Auch wenn diese sogenannte „1-Cent-
Regelung" schon im Bereich der Arbeitslosenhilfe umstritten gewesen sei, sehe die
Kammer aber letztendlich keine andere Möglichkeit, dem Beschwerdegegner den Kranken-,
Renten- und Pflegeversicherungsschutz in anderer Art und Weise zu gewähren. Der
Beschwerdegegner könne letztlich auch nicht vorübergehend auf die Inanspruchnahme von
Sozialhilfe verwiesen werden, denn § 5 Abs. 2 SGB II schließe die Hilfe zum Lebensunterhalt
nach dem Zwölften Buch des Sozialgesetzbuchs – Sozialhilfe – (SGB XII) dann aus, wenn
Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II bestehe. Das sei nach Auffassung der
Beschwerdeführerin der Fall. Die Vorschriften des SGB II bildeten dann insoweit eine
abschließende Regelung. Mit Bescheid vom 03. Februar 2005 hat die Beschwerdeführerin
dem Widerspruch des Beschwerdegegners teilweise abgeholfen, im Übrigen hat sie den
Widerspruch zurückgewiesen. Soweit der Beschwerdegegner eine freiwillige
Weiterversicherung bei der AOK nachweise, so die Beschwerdeführerin, werde ihm ein
Zuschuss zu den Beiträgen zur Kranken- und Pflegeversicherung in Höhe von monatlich
37,22 EUR gewährt. In Fällen wie dem vorliegenden könne nach § 26 Abs. 2 SGB II ein
Zuschuss gezahlt werden. Dem Widerspruchsbescheid war ein Hinweis beigefügt, dass bis
zur Bestandskraft des Bescheides Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitssuchende ab
Januar 2005 in Höhe von 0,01 EUR bewilligt würden mit der Maßgabe, dass der
Beschwerdegegner in der gesetzlichen Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung
pflichtversichert sei. Am 14. Februar 2005 hat der Beschwerdegegner gegen den Bescheid
vom 25. November 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03. Februar
2005 Klage erhoben. Termin zur mündlichen Verhandlung ist auf Montag, den 04. April
2005, bestimmt worden. Gegen den Beschluss des SG vom 28. Januar 2005, der
Beschwerdeführerin zugestellt am 01. Februar 2005, hat diese mit Schriftsatz vom 21.
Februar 2005, am 25. Februar 2005 beim SG eingegangen, Beschwerde eingelegt. Der
Personenkreis, so die Beschwerdeführerin, der von der analogen Anwendung des § 26 Abs.
2 SGB II betroffen sei, sei gegenüber den Personen, auf die die „1-Cent-Regelung"
Anwendung finde, benachteiligt. Bei der Anwendung der „1-Cent-Regelung" sei ein höherer
Betrag zur Bestreitung des Lebensunterhaltes zur Verfügung gestellt, als er in den
Regelsätzen vorgesehen sei. Es sei ihr auch nicht zuzumuten, die Pflichtbeiträge während
des gesamten Hauptsacheverfahrens zu tragen, da sie im Falle ihres Obsiegens diese
Leistungen nicht zurückfordern könne.
Mit Beschluss vom 04. März 2005 hat das SG der Beschwerde nicht abgeholfen und sie
dem Landessozialgericht für das Saarland zur Entscheidung vorgelegt. In diesem Beschluss
hat die Kammer ihre Auffassung, dass die Beschwerdeführerin Arbeitslosengeld II in Höhe
von 1 Cent monatlich zu zahlen habe, nicht mehr aufrecht erhalten. Vielmehr sei durch
eine analoge Anwendung des § 26 SGB II die Bedürftigkeit des Beschwerdegegners durch
Gewährung eines Zuschusses auszugleichen. Deshalb sei zu prüfen, ob zwischen dem
Beschwerdegegner und der Zeugin M. überhaupt eine Bedarfsgemeinschaft im Sinne von §
9 Abs. 2 S. 2 SGB II bestehe. Dies könne die Kammer im Rahmen des Eilverfahrens nicht
bejahen. Das gehe zu Lasten der Beschwerdeführerin. Der Anordnungsanspruch des
Beschwerdegegners auf Übernahme der Kosten für die Kranken- und Pflegeversicherung,
so das SG, sei deshalb auch bei Nichtanwendung der „1-Cent-Regelung" gegeben. Um eine
abschließende Stellungnahme im Beschwerdeverfahren gebeten, trägt die
Beschwerdeführerin vor, die nach ihrer Auffassung bestehende Gesetzeslücke müsse
durch eine analoge Anordnung des § 26 Abs. 2 SGB II geschlossen werden. Mit der
Gewährung eines Zuschusses stehe der Beschwerdegegner dann auch nicht besser als ein
anderer Hilfebedürftiger. Entgegen der zuletzt geäußerten Auffassung des SG sei auch von
einer Bedarfsgemeinschaft auszugehen.
Sie beantragt, den Vollzug der angefochtenen Entscheidung auszusetzen.
Der Beschwerdegegner hat keinen Antrag gestellt.
Der Senat hat die Akten S 16 AL 183/02 und S 21 AS 3/05 des SG beigezogen.
Wegen der weiteren Einzelheiten zum Verfahrensgang wird auf den Inhalt der
Verfahrensakte sowie auf die Verwaltungsakte mit der Stamm-Nr. B., die ebenfalls
beigezogen war, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht gemäß § 172 Abs. 1 und
173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) eingelegt. Sie ist in der Sache auch begründet. Der
Beschluss des SG vom 28. Januar 2005 und der Nichtabhilfebeschluss vom 04. März 2005
sind aufzuheben und der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zurückzuweisen.
Denn die Voraussetzungen des § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG sind vorliegend nicht gegeben.
Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines
vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine
solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Nachdem die
Beschwerdeführerin durch den Teilabhilfe- und Widerspruchsbescheid für den Fall der
freiwilligen Weiterversicherung des Beschwerdegegners bei der AOK einen Zuschuss in
Höhe von 37,22 EUR monatlich zur Kranken- und Pflegeversicherung gewährt hat, ist der
Beschwerdegegner mit dem ihm verbleibenden 118,38 EUR in der Lage, sich selbst bei der
AOK freiwillig zu versichern. Die von ihm weiter beantragte Regelung, die
Beschwerdeführerin zu verpflichten, für ihn auch die Rentenversicherungsbeiträge zu
entrichten, erscheint indes zur Anwendung wesentlicher Nachteile im Sinne des § 86 b Abs.
2 Satz 2 SGG nicht nötig.
Denn nach Auffassung des Senats ist die medizinische Versorgung, die er begehrt, mit der
Gewährung des Zuschusses in Höhe von 37,22 EUR monatlich sichergestellt. Dass darüber
hinaus dadurch, dass keine Rentenversicherungsbeiträge entrichtet werden, wesentliche
Nachteile drohen, die es im vorläufigen Rechtsschutz abzuwenden gilt, hat er nicht
glaubhaft gemacht. Es fehlt schon an dem erforderlichen Anordnungsgrund. Deshalb bedarf
es nach Auffassung des Senates auch keiner Feststellung darüber, ob der Bescheid vom
25. November 2004 in der Gestalt des Teilabhilfe- und Widerspruchsbescheides vom 03.
Februar 2005 rechtmäßig ist oder nicht. Insoweit sei nur angemerkt, dass jedenfalls im
summarischen Verfahren entgegen der zuletzt vom SG geäußerten Auffassung mehr für
als gegen das Vorliegen einer Bedarfsgemeinschaft im Sinne des § 7 Abs. 3 Nr. 3b SGB II
spricht. Dies wird aber noch im Hauptsacheverfahren abschließend zu klären sein. Da somit
bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsachverfahrens die Teilhabe des
Beschwerdegegners an der Kranken- und Pflegeversicherung gewährleistet ist, war der
Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zurückzuweisen und der Beschwerde
stattzugeben. Es war deshalb zu entscheiden wie tenoriert. Die Kostenentscheidung beruht
auf § 193 SGG. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).