Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 25.10.2001

LSG Rpf: reaktive depression, behinderung, psychotherapeutische behandlung, wirbelsäulenleiden, gesellschaft, vergleich, kontrolle, zustand, erwerbsfähigkeit, unterliegen

Landessozialgericht Rheinland-Pfalz
Beschluss vom 25.10.2001 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Koblenz
Landessozialgericht Rheinland-Pfalz L 4 SB 56/01
1. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 08.03.2001 wird zurückgewiesen. 2.
Die außergerichtlichen Kosten der Klägerin im Berufungsverfahren trägt der Beklagte. 3. Die Revision wird nicht
zugelassen.
Gründe:
I.
Die Beteiligten streiten über die Höhe des Grades der Behinderung (GdB) der Klägerin nach dem Sozialgesetzbuch –
Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX).
Bei der 1948 geborenen Klägerin stellte das Versorgungsamt Koblenz zuletzt mit Bescheid vom 23.12.1985 als
Behinderungen mit einem GdB von 40 fest:
1. Operativ versorgter Hydrocephalus (Einzel-GdB 30),
2. degenerative Wirbelsäulenveränderungen (Einzel-GdB 10).
Die Feststellung beruhte auf einem vom Beklagten vor dem Sozialgericht Koblenz im Rechtsstreit S 8 Vs 386/83
abgegebenen und von der Klägerin angenommenen Anerkenntnis.
Im April 1998 stellte die Klägerin einen Neufeststellungsantrag. Das Versorgungsamt holte einen Befundbericht des
praktischen Arztes Dr. M ein, der weitere Befundunterlagen vorlegte, darunter ein sozialmedizinisches Gutachten des
Arztes für Allgemeinmedizin Dr. S vom 03.12.1997. Die Ärztin für Chirurgie und Sozialmedizin Frau Dr. M wertete die
Befundunterlagen aus und kam in ihrer gutachterlichen Stellungnahme zu dem Ergebnis, bei der Klägerin beständen
als Teil-Behinderungen und Einzel-GdB-Werte:
1. Operativ versorgter Hydrocephalus (GdB 30),
2. degenerative Wirbelsäulenveränderungen, Schulter-Arm-Syndrom (GdB 20),
3. depressive Verstimmung (GdB 10).
Daraufhin bezeichnete das Versorgungsamt Koblenz mit Bescheid vom 05.06.1998 unter Beibehaltung eines GdB von
40 die Behinderungen entsprechend dem Vorschlag der Versorgungsärztin neu.
Im Widerspruchsverfahren legte die Klägerin Atteste des Neurologen und Psychiaters Dr. S und des Dr. M vor, die
einen höheren GdB als 40 für zutreffend hielten. Das Versorgungsamt holte Befundberichte des Dr. M und des Dr. S
ein. Dr. S teilte mit, bei der Klägerin bestehe eine chronifizierte Depression, die medikamentös und
gesprächspsychotherapeutisch behandelt werde. Auch sei eine stationäre psychotherapeutische Behandlung
vorgesehen. Nach versorgungsärztlicher Beteiligung wies der Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid
vom 14.12.1998 zurück.
Im vor dem Sozialgericht Koblenz durchgeführten Klageverfahren hat das Sozialgericht Beweis erhoben durch
Einholung eines Gutachtens der Ärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Frau Dr. C H. Die Sachverständige hat die
Klägerin im November 1999 untersucht und in ihrem Gutachten ausgeführt, bei der Klägerin bestehe eine reaktive
Depression im Sinne einer länger andauernden depressiven Anpassungsstörung, die zu sozialen Rückzugstendenzen
und einer ausgeprägten affektiven Labilität mit einer Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit geführt
habe. Sie bedinge einen Einzel-GdB von 30. Unter Berücksichtigung des operativ versorgten Hydrocephalus (GdB 30)
und eines degenerativen Wirbelsäulensyndroms, Schulter-Arm-Syndroms (GdB 20) sei der Gesamt-GdB mit 40 zu
bewerten.
Mit Urteil vom 08.03.2001 hat das Sozialgericht die angefochtenen Bescheide abgeändert und den Beklagten
verurteilt, bei der Klägerin einen GdB von 50 festzustellen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, der
bei der Klägerin bestehende Hydrocephalus bedinge einen Einzel-GdB von 30, da die Klägerin mit einem Shunt
(Ventrikeldrainage nach Spitz-Holter) versorgt werde. Das bei der Klägerin bestehende Wirbelsäulenleiden sei mit
einem GdB von 20 noch ausreichend bewertet, weil nach dem Gutachten der Frau Dr. H bei der Klägerin keine
dauernden neurologischen Ausfallerscheinungen oder Sensibilitätsstörungen beständen. Auf psychiatrischem
Fachgebiet bestehe bei der Klägerin eine reaktive Depression mit einem Einzel-GdB von 30, wovon auch der Beklagte
ausgehe. Aus den damit zu berücksichtigenden Einzel-GdB-Werten von jeweils 30 des Hydrocephalus und der
reaktiven Depression und 20 hinsichtlich des Wirbelsäulenleidens sei ein GdB von 50 zu bilden. Der neben dem GdB
von 30 für den Hydrocephalus bestehende GdB von 30 für die Depression sowie von 20 für das Wirbelsäulenleiden
rechtfertige es, den höchsten Einzel-GdB von 30 um jeweils einen Zehnergrad auf einen Gesamt-GdB von 50 zu
erhöhen. Denn bei den beiden weiteren Erkrankungen handele es sich um Gesundheitsstörungen, die jeweils zu einer
wesentlichen Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung führten.
Am 19.04.2001 hat der Beklagte gegen das ihm am 22.03.2001 zugestellte Urteil Berufung eingelegt.
Der Beklagte trägt vor,
aus den unstreitig vorliegenden Einzel-GdB-Werten von 30, 20 und 30 sei ein Gesamt-GdB von 40 zu bilden, wie sich
aus der vorgelegten versorgungsärztlichen Stellungnahme des Dr. Ustarbowski ergebe. Bei der Klägerin stehe die
psychische Behinderung im Vordergrund, die einen GdB von 30 bedinge. Der operativ versorgte Hydrocephalus führe,
auch wenn er mit einem GdB von 30 zu bewerten sei, nicht zu einer wesentlichen Verstärkung der psychischen
Behinderung. Erst das Hinzutreten der weiteren Behinderung seitens der Wirbelsäule (GdB 20) rechtfertige einen GdB
von 40.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 08.03.2001 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Klägerin trägt vor,
unter Berücksichtigung der maßgeblichen Anhaltspunkte sei der GdB von 30 für den Hydrocephalus unter
Berücksichtigung der übrigen Teil-Behinderungen auf 50 zu erhöhen. Die beiden weiteren Erkrankungen führten jeweils
zu einer wesentlichen Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung.
Im Übrigen wird zur Ergänzung Bezug genommen auf den Inhalt der beigezogenen und die Klägerin betreffenden
Verwaltungsakte des Beklagten (Az.: 452600), der Archiv-Akte des Sozialgerichts Koblenz (Az.: S 8 Vs 386/83)
sowie der Gerichtsakte, der Gegenstand der Beratung und Entscheidungsfindung war.
II.
Der Senat entscheidet gemäß § 153 Abs. 4 Satz 1 SGG ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss. Auf diese
Möglichkeit wurden die Beteiligten hingewiesen. Der Senat hält im vorliegenden Fall eine mündliche Verhandlung nicht
für erforderlich und die Berufung des Beklagten einstimmig für unbegründet. Denn das Sozialgericht hat den Beklagten
zu Recht verurteilt, den GdB der Klägerin mit 50 festzustellen, da die Klägerin schwerbehindert ist.
Nach § 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG)
zuständigen Behörden auf Antrag des behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der
Behinderung (GdB) fest. Die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft ist entsprechend § 30 Abs.
1 BVG nach dem Ausmaß des Abweichens von dem für das Lebensalter typischen Zustand der körperlichen
Funktion, geistigen Fähigkeit oder seelischen Gesundheit unabhängig von ihren Ursachen zu bemessen (§§ 69 Abs. 1
Satz 3; 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Das SGB IX ist seit dem 01.07.2001 anzuwenden (Art. 68 Abs. 1 SGB IX), ersetzt
das bisherige Schwerbehindertengesetz und enthält –soweit die Feststellung des GdB oder von Nachteilsausgleichen
streitig ist– keine wesentlichen Änderungen gegenüber dem alten Rechtszustand.
Bei der Beurteilung des GdB steht die Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben im Vordergrund (vgl. BSGE 48,
82, 83 = BSG, SozR 3870 § 3 Nr. 4). Im Interesse einer einheitlichen und gleichmäßigen Behandlung hat das
Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (BMA) die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im
sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz herausgegeben, die fortlaufend überarbeitet
und 1996 neu veröffentlicht worden sind. Die darin aufgeführten GdB-Werte beruhen auf neuesten medizinischen
Erkenntnissen; sie sollen einen Anhalt zur Ermittlung des GdB und zur Auslegung des § 2 SGB IX bilden. In diesem
Sinne sind die Anhaltspunkte in der Regel anzuwenden, weil sie den Stand der medizinisch-wissenschaftlichen
Lehrmeinung wiedergeben und damit als antizipiertes Sachverständigengutachten im Regelfall der gleichmäßigen
Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe des Schwerbehindertenrechts dienen (BVerfG, SozR 3-3870 § 3 Nr. 6;
BSG, NJW 1992, 455; SGb 1993, 579; Urteil des Senats, br 1995, 195).
Da im vorliegenden Fall der Beklagte bereits bindend im Bescheid vom 23.12.1985 über die Behinderung der Klägerin
und den GdB entschieden hat, richten sich die Voraussetzungen für eine Neufeststellung des GdB nach § 48
Sozialgesetzbuch – Zehntes Buch (SGB X). Nach dieser Vorschrift ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung für die
Zukunft aufzuheben, wenn in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlaß vorgelegen
haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Eine wesentliche Änderung ist anzunehmen, wenn sich durch eine
Besserung oder Verschlechterung des Behinderungszustandes eine Herabsetzung oder Erhöhung des Gesamt-GdB
um wenigstens 10 ergibt. Die Änderung der Behinderungsbezeichnung oder das Hinzutreten weiterer Teil-
Behinderungen ohne Auswirkung auf den Gesamt-GdB allein stellen aber noch keine wesentliche Änderung dar (vgl.
BSG, Urteil vom 24.06.1998, Az.: B 9 SB 18/97 R). Ob eine wesentliche Änderung eingetreten ist, muß durch einen
Vergleich des gegenwärtigen mit dem verbindlich festgestellten objektiven Behinderungszustand zum Zeitpunkt der
früheren Entscheidung (hier: 23.12.1985) ermittelt werden.
Im Vergleich zu den Verhältnissen, die für die Feststellung im Bescheid vom 23.12.1985 maßgeblich waren, ist bei
der Klägerin eine wesentliche Verschlimmerung des Behinderungszustandes eingetreten, welcher der Beklagte z.T. –
aber nicht ausreichend– bereits im Bescheid vom 05.06.1998 Rechnung getragen hat.
Während der Feststellung eines GdB von 40 im Bescheid vom 23.12.1985 die nach wie vor unverändert bestehende
Teil-Behinderung Nr. 1 (operativ versorgter Hydrocephalus) mit einem GdB von 30 und das Wirbelsäulenleiden mit
einem GdB von 10 zugrunde lagen, ist, wie sich aus den vorliegenden Befundunterlagen unstreitig ergibt, das
Wirbelsäulenleiden nunmehr mit einem GdB von 20 zu bewerten. Zudem ist eine weitere Teil-Behinderung mit einem
GdB von 30 (reaktive Depression) hinzugetreten, was nicht ohne Auswirkungen auf den Gesamt-GdB bleiben kann.
Hinsichtlich des maßgeblichen Gesamt-Behinderungszustandes ist aufgrund dieser der Beurteilung nunmehr zugrunde
zu legenden Einzel-GdB-Werte von 30, 20 und 30 auch eine wesentliche Verschlimmerung im Gesamt-GdB
eingetreten, die es rechtfertigten, den GdB insgesamt mit 50 zu bewerten.
Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so ist der GdB nach den
Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen
Beziehungen festzustellen (§ 69 Abs. 3 Satz 1 SGB IX). Eine Addition der GdB-Werte der verschiedenen Einzel-
Behinderungen findet nicht statt. Vielmehr sind im Rahmen einer funktionalen Gesamtschau alle Auswirkungen zu
betrachten und abzuwägen. Zur Bildung des Gesamt-GdB ist festzustellen, wie die durch alle Störungen bedingten
Funktionsausfälle gemeinsam die Erwerbsfähigkeit im Sinne des § 30 Abs. 1 BVG beeinträchtigen.
Auch hierbei sind die Richtlinien in den Anhaltspunkten zu beachten. Danach führen zusätzliche leichte
Gesundheitsstörungen mit einem GdB von 20 nicht immer zu einer wesentlichen Zunahme des Ausmaßes der
Gesamtbeeinträchtigung, auch wenn mehrere derartige Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen (vgl.
Anhaltspunkte 1996, a.a.O., S. 35). Eine kleinere Teil-Behinderung mit einem GdB von 20 ist aber bei der Bildung des
Gesamt-GdB dann zu berücksichtigen, wenn sie sich auf eine andere Teil-Behinderung besonders nachhaltig,
verstärkend, auswirkt. Unberücksichtigt bleiben kann eine solche Behinderung dagegen dann, wenn sich die
Auswirkungen völlig oder zum größten Teil überschneiden (Urteil des erkennenden Senats vom 30.11.1995, Az: L 4
Vs 162/94; BSG, Urteil vom 13.12.2000, Az.: B 9 V 8/00 R).
Hierbei ist von dem Einzel-GdB 30 der Teil-Behinderung Nr. 3 auszugehen. Wie auch der Beklagte in der
versorgungsärztlichen Stellungnahme des Dr. U vom 17.04.2001 ausführt, führt das Hinzutreten der Teil-Behinderung
seitens der Wirbelsäule mit einem GdB von 20 zu einer Erhöhung dieses Einzel-GdB auf 40, was auch schon bei der
Gesamt-GdB-Bildung im Bescheid vom 05.06.1998 berücksichtigt wurde.
Entgegen der Stellungnahme des Dr. U ist auch die unstreitig mit einem GdB von 30 bewertete Teil-Behinderung Nr. 1
–ungeachtet ihrer Auswirkung im Einzelfall– nicht unberücksichtigt zu lassen, weil dieser GdB lediglich einen
"Schwellenwert" darstelle. Insoweit hat das Sozialgericht zurecht und konsequent die Kriterien der Anhaltspunkte
angewandt. Sie sind wie antizipierte Sachverständigengutachten anzusehen, die in der Praxis wie Richtlinien für die
ärztliche Gutachtertätigkeit wirken, deshalb normähnliche Auswirkungen haben und im Interesse einer gleichmäßigen
Rechtsanwendung wie untergesetzliche Normen von den Gerichten anzuwenden sind (vgl. z.B. BSGE 72, 285, 286).
Daher unterliegen sie nur einer eingeschränkten Kontrolle durch die Gerichte und können nicht durch
Einzelfallgutachten hinsichtlich ihrer generellen Richtigkeit widerlegt werden (BSG, SozR 3-3870 § 4 Nr. 19). Daraus
folgt, dass der GdB von 30 der Teil-Behinderung Nr. 1 nach den Anhaltspunkten entgegen der Ansicht des Dr.
Ustarbowski zwingend zur Erhöhung des GdB wenigstens um 10 auf einen Gesamt-GdB von 50 führen muss (vgl.
Schillings, Kommentar zu den Anhaltspunkten, S. 62).
Die Berufung des Beklagten ist daher zurückzuweisen.
Die Entscheidung über die Kosten stützt sich auf § 193 SGG.
Die Revision wird nicht zugelassen, da Revisionszulassungsgründe (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 SGG) nicht
vorliegen.