Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 25.10.2010

LSG Rpf: aufschiebende wirkung, regress, hauptsache, anwendungsbereich, belastung, bundesgesetz, unrichtigkeit, vizepräsident, ausschluss, drucksache

Landessozialgericht Rheinland-Pfalz
Beschluss vom 25.10.2010 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Mainz S 8 KA 196/10 ER
Landessozialgericht Rheinland-Pfalz L 5 KA 45/10 B ER
1. Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Mainz vom 9.9.2010 wird
zurückgewiesen.
2. Die Antragsgegnerin trägt auch die Kosten des Beschwerdeverfahrens. Außergerichtliche Kosten des Beigeladenen
sind nicht zu erstatten.
3. Der Streitwert wird, auch für die erste Instanz unter Abänderung des Beschlusses des Sozialgerichts Mainz vom
9.9.2010, auf 2.453,11 EUR festgesetzt.
I.
Umstritten ist, ob die Klage der Antragstellerin gegen einen Arzneimittelregress aufschiebende Wirkung hat; hilfsweise
begehrt die Antragstellerin die Anordnung der aufschiebenden Wirkung dieser Klage.
Der beigeladene Beschwerdeausschuss setzte durch Bescheid vom 2.3.2010 gegenüber der Antragstellerin, einer
Vertragsärztin, aufgrund einer statistischen Vergleichsprüfung nach Durchschnittswerten für mehrere Quartale einen
Regress fest, wobei auf die Quartale II bis IV/2005 ein Regress von 7.359,33 EUR entfiel. Gegen diesen Bescheid hat
die Antragstellerin am 15.3.2010 beim Sozialgericht (SG) Mainz Klage erhoben.
Unter dem 11.8.2010 teilte die Antragsgegnerin (Kassenärztliche Vereinigung Rheinland-Pfalz - KÄV -) der
Antragstellerin mit, sie werde deren Honorarkonto mit einem Betrag von 7.359,33 EUR belasten, da die Klage der
Antragstellerin gegen den Bescheid vom 2.3.2010 keine aufschiebende Wirkung habe. Am 19.8.2010 hat die
Antragstellerin beim SG Mainz beantragt, die aufschiebende Wirkung der Klage festzustellen, hilfsweise die
aufschiebende Wirkung anzuordnen.
Durch Beschluss vom 9.9.2010 hat das SG die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Arzneimittelregress für
die Quartale II bis IV/2005 festgestellt und angeordnet, dass die Antragsgegnerin die auf dem Regress basierende
Belastung des Honorarkontos der Antragstellerin rückgängig zu machen habe. Zur Begründung hat das SG
ausgeführt: Die grundsätzlich nach § 86a Abs 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) bestehende aufschiebende
Wirkung der beim SG Mainz anhängigen Klage sei nicht nach § 85 Abs 4 Satz 9 SGB V ausgeschlossen, da sich die
Antragstellerin nicht gegen einen Honorarbescheid wende. § 106 Abs 5 Satz 7 SGB V greife ebenfalls nicht zugunsten
der Antragsgegnerin ein. Wegen der ausdrücklichen Beschränkung dieser Vorschrift auf Honorarkürzungen erfasse sie
nur Honorarberichtigungen aufgrund einer Wirtschaftlichkeitsprüfung der vertragsärztlichen Leistungen, nicht aber
aufgrund eines Arzneimittelregresses oder wegen eines sonstigen Schadens (Hinweis auf SG Marburg 23.8.2007 - S
12 KA 316/07 ER). Die sofortige Vollziehbarkeit des Regressbescheides folge auch nicht aus § 106 Abs 5a Satz 11
SGB V. Denn der Bescheid vom 2.3.2010 beruhe nicht auf einer Richtgrößenprüfung, wie es nach dieser Vorschrift
erforderlich sei, sondern auf einer statistischen Vergleichsprüfung nach Durchschnittswerten. Die Beklagte könne sich
letztlich auch nicht auf die Übergangsregelung des Art 3 § 2 Satz 4 des Gesetzes zur Ablösung des Arznei- und
Heilmittelbudgets (ABAG) stützen, da der Anwendungsbereich dieser Vorschrift nach ihrer Überschrift auf
Wirtschaftlichkeitsprüfungen für die Jahre 2002 und 2003 beschränkt sei.
Gegen diesen Beschluss richtet sich die am 17.9.2010 eingelegte Beschwerde der Antragsgegnerin, die vorträgt: Die
Klage der Antragstellerin gegen den beigeladenen Beschwerdeausschuss habe keine aufschiebende Wirkung, auch
wenn der Bescheid vom 2.3.2010 nicht auf einer Richtgrößenprüfung beruhe. Nach dem Willen des Gesetzgebers
habe die Klage gegen einen Regressbescheid bei allen Varianten der Wirtschaftlichkeitsprüfung keine aufschiebende
Wirkung (Hinweis auf Landessozialgericht - LSG - Nordrhein-Westfalen 11.3.2003 - L 11 B 6/03 KA ER).
II.
Die nach §§ 172, 173 SGG zulässige Beschwerde hat keinen Erfolg. Das SG hat zu Recht festgestellt, dass die beim
SG gegen den Beigeladenen erhobene Klage aufschiebende Wirkung hat.
Ist zweifelhaft, ob eine Klage aufschiebende Wirkung hat, ist auf Antrag entsprechend § 86b Abs 1 SGG die
aufschiebende Wirkung festzustellen (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Auflage, § 86b Rn 15). Die
Voraussetzungen hierfür sind vorliegend erfüllt.
Die nach § 86a Abs 1 Satz 1 SGG grundsätzlich bestehende aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage ist nicht
kraft Gesetzes ausgeschlossen (§ 86a Abs 2 Nr 4 SGG). Aufschiebende Wirkung nach § 85 Abs 4 Satz 9 SGB V
kommt von vornherein nicht in Betracht, weil sich die Antragstellerin mit ihrer beim SG anhängigen Klage gegen den
Beigeladenen nicht gegen die Honorarfestsetzung durch die Antragsgegnerin wendet.
§ 106 Abs 5 Satz 7 SGG greift ebenfalls nicht zugunsten der Antragsgegnerin ein. Nach dieser Vorschrift hat die
Klage gegen eine vom Beschwerdeausschuss festgesetzte Honorarkürzung keine aufschiebende Wirkung. Bei der
vorliegenden Fallkonstellation handelt es sich nicht um eine Honorarkürzung im Sinne dieser Vorschrift. Gegen eine
weite Auslegung dieses Tatbestandsmerkmals, die auch Arzneimittelregresse aufgrund einer statistischen
Vergleichsprüfung nach Durchschnittswerten einschließt, spricht die Rechtsnatur des Arzneimittelregresses. Obwohl
es bei diesem nicht um einen "sonstigen Schaden" geht (vgl BSG 5.5.2010 - B 6 KA 5/09 R, juris), verkörpert der
Arzneimittelregress einen besonderen Typus eines Schadensersatzanspruchs (Engelhard in Hauck/Noftz, SGB V, K §
106 Rn 90). Entscheidend kommt hinzu, dass die Gesetzessystematik eine weite Ausweitung des Begriffs
"Honorarkürzung" verbietet, die auch den Fall des Arzneimittelregresses erfasst (ebenso SG Marburg 23.8.2007 - S
12 KA 316/07 ER, juris; dazu tendierend auch Engelhard aaO Rn 631; aA Clemens in jurisPK-SGB V, § 106 Rn 279:
keine aufschiebende Wirkung von Klagen gegen Verordnungsregresse aufgrund Durchschnittsprüfungen). Anderenfalls
wäre die Regelung des § 106 Abs 5a Satz 11 SGB V, wonach Klagen gegen Entscheidungen des
Beschwerdeausschusses aufgrund von Richtgrößenprüfungen der Verordnungsweise keine aufschiebende Wirkung
haben, überflüssig. Dafür, dass § 106 Abs 5a Satz 11 SGB V nur klarstellende Bedeutung zukommen könnte, sind
keine ausreichenden Anhaltspunkte ersichtlich.
§ 106 Abs 5a Satz 11 SGB V kann für Wirtschaftlichkeitsprüfungen der Verordnungsweise nach Durchschnittswerten
nicht entsprechend angewandt werden. Diese Prüfmethode ist seit dem 1.1.2004 keine Regelprüfmethode mehr, auch
wenn sie weiterhin zwischen den Landesverbänden der gesetzlichen Krankenkassen einerseits und den
Kassenärztlichen Vereinigungen andererseits vereinbart werden kann (§ 106 Abs 2 Satz 4 SGB V). Dafür, dass das
Gesetz für diese Prüfmethode eine planwidrige Lücke enthält, die im Wege der Analogie ausgefüllt werden müsste
(vgl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, Studienausgabe 1983, S 241 ff), gibt es keine genügenden
Hinweise. Die Rechtslage in Bezug auf die sofortige Vollziehbarkeit von Regressbescheiden bei der Regelprüfmethode
der Richtgrößenprüfung - keine aufschiebende Wirkung der Klage - entspricht nicht zwangsläufig derjenigen bei der nur
ausnahmsweise aufgrund vertraglicher Regelung möglichen statistischen Vergleichsprüfung nach
Durchschnittswerten. Dafür, dass die Klage der Antragstellerin gegen den Beigeladenen bei der vorliegenden
Konstellation aufschiebende Wirkung hat, spricht auch die Übergangsnorm des Art 3 § 2 Satz 4 ABAG. Nach dieser
Vorschrift hat die Klage gegen die Entscheidung des Beschwerdeausschusses bei Prüfungen ärztlich verordneter
Arznei- und Verbandmittel nach Durchschnittswerten keine aufschiebende Wirkung. Diese Vorschrift ist nach ihrer
Überschrift nur für die Jahre 2002 und 2003 anwendbar (aA Steinhilper MedR 2004, 253, 254). Dass der Gesetzgeber
den Anwendungsbereich dieser Norm auf die Jahre 2002 und 2003 beschränkt hat, zeigt, dass solche Klagen ab 2004
wieder aufschiebende Wirkung entfalten. Die Gesetzesbegründung des Art 3 § 2 Satz 4 ABAG rechtfertigt keine
andere Entscheidung. Zwar heißt es hierin ua: " ... Klagen gegen Entscheidungen des Beschwerdeausschusses in
diesem Verfahren der Übergangsregelung haben wie in den übrigen Prüfungsverfahren keine aufschiebende Wirkung
..." (Bundestags-Drucksache 14/7170 S 16 zu Art 3). Ein gesetzgeberischer Wille, dass auch über das Jahr 2003
hinaus allen Klagen gegen Arzneimittelregresse keine aufschiebende Wirkung zukommen soll, wird jedoch aus dieser
Formulierung nicht hinreichend deutlich. Der Normierung des Art 3 § 2 Satz 4 ABAG hätte es im Übrigen nicht bedurft,
wenn unabhängig von dieser Regelung alle Klagen gegen Arzneimittelregresse keine aufschiebende Wirkung hätten.
Dem Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen (11.3.2003 - L 11 B 6/03 KA ER, MedR 2003, 476), nach dem
gesetzgeberischen Gesamtkonzept der §§ 106 Abs 5, Abs 5a, Art 3 § 2 ABAG sei der Wille des Gesetzgebers darauf
gerichtet, dass in allen Fallgestaltungen der Wirtschaftlichkeitsprüfungen Klagen keine aufschie-bende Wirkung
haben, vermag der Senat - jedenfalls für die Zeit nach Ablauf des Zeitraums der Anwendbarkeit des Art 3 § 2 ABAG
Ende 2003 - nicht zu folgen. Ein solches Gesamtkonzept ist aus den genannten Vorschriften nicht zweifelsfrei
erkennbar.
Die Regelung in der zwischen der Antragsgegnerin und den Verbänden der Krankenkassen geschlossenen
Prüfvereinbarung, wonach eine Klage gegen die Entscheidung des Beschwerdeausschusses keine aufschiebende
Wirkung hat, ist nicht geeignet, die aufschiebende Wirkung der Klage entfallen zu lassen, da es sich nicht um eine
Regelung durch Bundesgesetz handelt, wie sie § 86a Abs 2 Nr 4 SGG fordert.
Die Anordnung des SG, dass die Antragsgegnerin die Belastung des Honorarkontos der Antragstellerin mit dem
Betrag von 7.359,33 EUR rückgängig zu machen habe, entspricht der gegebenen Rechtslage (§ 86b Abs 1 Satz 2
SGG).
Die Kostenentscheidung ergeht in entsprechender Anwendung des § 197a SGG iVm § 154 Abs 2, § 162 Abs 3
Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
Die Entscheidung über den Streitwert beruht auf § 52 Abs 1 Gerichtskostengesetz (GKG). Der Streitwert in Verfahren
des vorläufigen Rechtsschutzes beträgt regelmäßig 1/2 bis 1/4 des Streitwerts der Hauptsache (vgl Streitwertkatalog
für die Sozialgerichtsbarkeit, B.7.1.). Bei Berücksichtigung des Interesses der Antragstellerin an der begehrten
Feststellung der aufschiebenden Wirkung der Klage ist als Streitwert 1/3 des Streitwerts der Hauptsache
angemessen. Der Senat ändert auch die erstinstanzliche Streitwertfestsetzung entsprechend ab, wozu er nach § 63
Abs 3 GKG von Amts wegen befugt ist.
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde beim Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG; zur
Streitwertentscheidung vgl § 66 Abs 3 Satz 3 GKG).
In dem Beschwerdeverfahren hat der 5. Senat des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz in Mainz am 22. November
2010 durch den Vizepräsident des Landessozialgerichts Dr. Follmann beschlossen:
Der Beschluss von 25.10.2010 wird berichtigt. Auf Seite 4 II 3. Absatz 3. Zeile heißt es richtigerweise anstelle von
"Aufschiebende Wirkung nach " "Der Ausschluss der aufschiebenden Wirkung nach".
Gründe:
Es handelt sich um eine offenbare Unrichtigkeit, die nach § 138 SGG zu berichtigen ist.