Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 10.03.2011

LSG Rpf: firma, versorgung, ersatzbeschaffung, montage, gebrauchsgegenstand, behinderung, stadt, rechtsschutz, kostenvoranschlag, verordnung

Landessozialgericht Rheinland-Pfalz
Beschluss vom 10.03.2011 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Speyer S 13 KR 34/11 ER
Landessozialgericht Rheinland-Pfalz L 5 KR 59/11 B ER
1. Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Speyer vom 16.2.2011 aufgehoben.
Die Antragsgegnerin wird im Wege einer einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin den beantragten
Dusch-WC-Aufsatz mit Hand-/Fuß-/Wandbedienung, Montageset und Montage entsprechend der Artikelbeschreibung
der Firma S Reha GmbH vom 14.7.2010 zu gewähren.
2. Die Antragsgegnerin hat der Antragstellerin die außergerichtlichen Kosten beider Instanzen zu erstatten.
Gründe:
I.
Umstritten ist, ob die Antragsgegnerin im Wege einer einstweiligen Anordnung zur Gewährung eines Dusch-WC-
Aufsatzes mit Zubehör zu verpflichten ist.
Die bei der Antragsgegnerin gesetzlich krankenversicherte Antragstellerin leidet an einer Ataxia teleangiectatica
(Louis-Bar-Syndrom). Sie war von der Antragsgegnerin vor ca 13 Jahren mit einem Dusch-WC-Aufsatz versorgt
worden. Im Juli 2010 beantragte die Antragstellerin bei der Antragsgegnerin unter Vorlage einer vertragsärztlichen
Verordnung einen neuen automatischen Dusch-WC-Aufsatz VAmat der Firma S Reha GmbH. Sie machte geltend, der
alte Dusch-WC-Aufsatz sei defekt und nicht mehr zu reparieren. Die Firma S Reha GmbH reichte bei der
Antragsgegnerin einen Kostenvoranschlag vom Juli 2010 für eine Ersatzbeschaffung des Dusch-WC-Aufsatzes
anstelle des defekten Geräts ein. Der Kostenvoranschlag belief sich für das Dusch-WC VAmat, eine Hand-/Fuß-
/Wandbedienung, ein Montageset und die Montage einschließlich Arbeitszeit und Anfahrt auf insgesamt 3.483,96
EUR.
Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) führte in seiner Stellungnahme vom September 2010 an, die
Verordnung des Hilfsmittels sei nicht sachgerecht. Er wies zur Begründung auf ein Pflegegutachten vom November
2003 hin, wonach der Hilfebedarf bei der Intimreinigung der Antragstellerin pflegeversicherungsrechtlich berücksichtigt
worden sei.
Am 25.1.2011 hat die Antragstellerin beim Sozialgericht (SG) Speyer einstweiligen Rechtsschutz durch Verpflichtung
der Antragsgegnerin sowie der Stadt K als Sozialhilfeträgerin zur Übernahme der Kosten eines Dusch-WC VAmat
beantragt. Sie hat vorgetragen, die Firma S Reha GmbH habe ihr seit Sommer 2010 ein Leihgerät zur Verfügung
gestellt, dieses aber mit Schreiben vom 11.1.2011 zurückgefordert. Inzwischen habe die Firma das Gerät abgebaut,
sodass sie dringend vorläufigen Rechtsschutz benötige. Sie könne die Kosten für die Selbstbeschaffung der Leistung
nicht selbst aufbringen.
Das SG hat das Verfahren abgetrennt, soweit es sich gegen die Stadt K richtet. Durch Beschluss vom 16.2.2011 hat
das SG Speyer den Antrag der Antragstellerin gegen die Antragsgegnerin abgelehnt und zur Begründung ausgeführt:
Es fehle an einem Anordnungsgrund. Dem Vorbringen der Antragstellerin lasse sich nicht entnehmen, dass ihr ein
unzumutbarer Nachteil drohe, wenn sie zur Durchsetzung ihres behaupteten Anspruchs auf das noch nicht
abgeschlossene Verwaltungsverfahren und ein sich ggf anschließendes Hauptsacheverfahren verwiesen werde. Die
Antragstellerin habe nicht geltend gemacht, dass bei ihr die Durchführung der Verrichtung "Ausscheidung"
einschließlich der anschließenden Reinigung des Intimbereichs ohne einen Dusch-WC-Aufsatz nicht sichergestellt sei.
Die Antragsgegnerin habe nachvollziehbar vorgebracht, dass der Bedarf bei der Körperpflege für das Wasserlassen
und den Stuhlgang vollständig bei der Bewertung der Pflegebedürftigkeit im Rahmen der Feststellung der Pflegestufe
nach dem Elften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) berücksichtigt worden sei.
Gegen diesen Beschluss richtet sich die am 24.2.2011 eingelegte Beschwerde der Antragstellerin.
II.
Die nach §§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz SGG zulässige Beschwerde ist begründet. Die beantragte einstweilige
Anordnung ist zu erlassen; der angefochtene Beschluss ist daher aufzuheben. Die Voraussetzungen einer
einstweiligen Anordnung (§ 86b Abs 2 SGG) sind erfüllt, da sowohl der notwendige Anordnungsanspruch als auch der
erforderliche Anordnungsgrund gegeben ist.
Der Senat kommt bei der im Rahmen des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes gebotenen summarischen
Prüfung des Sach- und Streitstandes zu dem Ergebnis, dass die Antragstellerin einen Anspruch auf Versorgung mit
dem begehrten Dusch-WC-Aufsatz als Hilfsmittel iSd § 33 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) hat. Nach Abs 1
Satz 1 dieser Vorschrift haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hilfsmitteln, die im Einzelfall ua erforderlich
sind, um eine Behinderung auszugleichen, soweit das Hilfsmittel nicht als allgemeiner Gebrauchsgegenstand des
täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs 4 SGB V ausgeschlossen ist. Die Antragsgegnerin hat zwar bei der
Entscheidung über die Ersatzbeschaffung des Dusch-WC-Aufsatzes erneut in vollem Umfang die Voraussetzungen
des Anspruchs der Antragstellerin auf die Versorgung mit diesem Hilfsmittel zu überprüfen, ohne an ihre frühere
Bewilligung gebunden zu sein (BSG 24.5.2006 B 3 KR 12/05 R, juris Rn 17). Die gesetzlichen Voraussetzungen für
die begehrte Ersatzbeschaffung sind jedoch erfüllt.
Der von der Antragstellerin beantragte Dusch-WC-Aufsatz ist erforderlich, um ihre Behinderung auszugleichen. Die
Versorgung mit dem Dusch-WC-Aufsatz ist zur Sicherung ihrer Grundbedürfnisse notwendig. Zu diesen zählt auch
das Ausscheiden mit den dazu gehörigen Reinigungen (vgl BSG 29.4.2010 B 3 KR 5/09 R Rn 12). Die Erforderlichkeit
des Dusch-WC-Aufsatzes ergibt sich mittelbar aus der Stellungnahme des MDK, der die Notwendigkeit des
Hilfsmittels nur deshalb verneint hat, weil die Reinigung des Intimbereichs bei der Antragstellerin durch die
vorhandenen Pflegekräfte erfolgen könne und der hierfür anfallende Zeitaufwand bei der Ermittlung des Pflegebedarfs
nach dem SGB XI berücksichtigt worden sei. Diese Argumentation des MDK, der sich die Antragsgegnerin und das
SG angeschlossen haben, ist unzutreffend, weil sie den Grundprinzipien des Neunten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB
IX) zuwiderläuft.
Nach § 1 Satz 1 SGB IX dienen die Leistungen an behinderte Menschen dazu, deren Selbstbestimmung zu fördern.
Zur Verwirklichung dieses Ziel muss dem behinderten Menschen vorrangig dafür Hilfestellung geleistet werden, um die
Reinigung des Intimbereichs selbst ohne Mithilfe anderer Personen durchzuführen, sofern und soweit ihm dies
möglich ist. Ein Verweis auf die mögliche Reinigung des Intimbereichs durch Pflegepersonen würde bei einer solchen
Fallkonstellation auch gegen die verfassungsrechtlich geschützte Würde der Antragstellerin als behinderter Mensch
verstoßen (Art 1 Abs 1 Grundgesetz; vgl. BSG 12.08.2009 - B 3 KR 8/08 R, juris, Rn 18 f).
Bei dem von der Antragstellerin beantragten Hilfsmittel handelt es sich nicht um einen Gebrauchsgegenstand des
täglichen Lebens. Auch ist die Versorgung nicht nach § 34 Abs 4 SGB V ausgeschlossen. Die Antragstellerin hat
Anspruch auf Ersatzbeschaffung des Dusch-WC-Aufsatzes, weil die Reparatur des vorhandenen Geräts nicht in
Betracht kommt. Denn diese ist unwirtschaftlich, wie sich aus dem Angebot der Firma S Reha GmbH vom Juli 2010
ergibt. Ob sich hinsichtlich der Voraussetzungen der der Antragstellerin zuerkannten Pflegestufe nach dem SGB XI
eine wesentliche Änderung iSd § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) ergeben haben wird, wenn sie mit dem
begehrten Hilfsmittel versorgt sein wird, ist nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens.
Der erforderliche Anordnungsgrund ist gegeben, weil es der Antragstellerin nicht zuzumuten ist, bis zum Abschluss
des Verwaltungsverfahrens und eines etwaigen Widerspruchs- und Klageverfahrens abzuwarten, bis sie mit dem
begehrten Hilfsmittel versorgt wird. Sie ist nicht in der Lage, die Kosten des Hilfsmittels selbst aufzubringen.
Die Kostenentscheidung ergeht in entsprechender Anwendung des § 193 SGG.
Da die Beschwerde Erfolg hat, sieht der Senat im Interesse der Beschleunigung des Verfahrens von einer vorherigen
Entscheidung über den Antrag der Antragstellerin auf Prozesskostenhilfe (PKH) für das Beschwerdeverfahren ab. Der
Antrag auf PKH hat sich durch die zusprechende Beschwerdeentscheidung erledigt.