Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 24.02.2005

LSG Mainz: venire contra factum proprium, berufliche weiterbildung, allgemeiner rechtsgrundsatz, beratung, software, zukunft, organisation, ohg, arbeitslosigkeit, ergänzung

Sozialrecht
LSG
Mainz
24.02.2005
L 1 AL 36/03
Pflicht der Arbeitsagentur zur Förderung einer Weiterbildung bei vereiteltem Beratungsgespräch
T E N O R:
1. Das Urteil des Sozialgerichts Mainz vom 17.02.2003 - S 9 AL 342/01 - und der Bescheid der Beklagten
vom 07.05.2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.07.2001 werden aufgehoben.
2. Die Beklagte wird verurteilt, die vom Kläger vom 09.04.2001 bis 08.03.2002 bei der S
GmbH & Co. OHG durchgeführte Weiterbildungsmaßnahme „Systemadministrator für SAP Software“ nach
den gesetzlichen Bestimmungen zu fördern.
3. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Rechtszügen zu erstatten.
T A T B E S T A N D :
Der Kläger begehrt Leistungen zur Förderung einer beruflichen Weiterbildungsmaßnahme zum
Systemadministrator für SAP Software vom 09.04.2001 bis 08.03.2002.
Der 1965 geborene Kläger hat eine Ausbildung zum Elektroinstallateur absolviert und wurde im Rahmen
einer beruflichen Rehabilitation zum Biologisch-Technischen Assistenten umgeschult. Vom 01.01.1995
bis zum 31.05.2000 war er in diesem Beruf im Institut für Virologie der Universität M tätig. Dort war er für
den Aufbau der IT-Infrastruktur zuständig. Er plante beispielsweise die Netzwerkstruktur für das gesamte
Institut, übernahm die Installation und den Betrieb des Netzwerks im Bereich des Instituts mit ca. 30
Arbeitsplätzen, plante und installierte einen Multimediaarbeitsplatz zum Ersatz eines konventionellen
Photolabors, konfigurierte und steuerte einen Messplatz und plante und erweiterte eine SUN (Unixserver)
für Datenbankanwendungen. Das Arbeitsverhältnis endete durch Aufhebungsvertrag. In dem
Arbeitszeugnis ist ausgeführt, dass der Kläger „seine berufliche Erfüllung seinen Fähigkeiten
entsprechend im IT-Bereich“ suche und deshalb aus dem Institut ausgeschieden sei.
Nach Eintritt einer Sperrzeit gewährte die Beklagte dem Kläger Arbeitslosengeld (Alg). Im Frühjahr 2001
führte der Kläger bei der Arbeitsagentur Mainz mehrere Beratungstermine bezüglich seiner beruflichen
Zukunft. Die Beklagte hielt eine berufliche Weiterbildung des Klägers für erforderlich. Die allgemeinen
Fördervoraussetzungen für die Teilnahme an einer beruflichen Weiterbildungsmaßnahme erfüllte er. Der
zuständige Arbeitsberater fasste zunächst ein IT-Traineeprogramm zum System-/Netzwerkadministrator
bei der Fa. G ins Auge. Weil jedoch in naher Zukunft keine geeignete Maßnahme geplant war, äußerte
der Kläger gegenüber seinem Arbeitsberater am 05.03.2001 den Wunsch, eine Weiterbildung bei der Fa.
I Deutschland GmbH zum „Technischen Professional Certified MCP“ zu absolvieren; die Maßnahme
sollte vom 26.03.2001 bis zum 21.12.2001 durchgeführt werden. Grundlegendes Ziel dieser Maßnahme
ist entsprechend ihrem Lehrplan die Erlangung fundierter Kenntnisse über den Aufbau von lokalen
Netzwerken und die verschiedensten, in der IT-Branche vorzufindenden Netzwerkbetriebssysteme. Der
zuständige Arbeitsberater sicherte ihm mündlich die Förderung dieser Maßnahme zu, falls er von der Fa.
I in den Kurs aufgenommen werden sollte. Nachdem der Kläger von der Beklagten erfahren hatte, dass
die Maßnahme bei I nicht durchgeführt werden wird, nahm er am 26.03.2001 erfolgreich an einem
Eignungstest bei der Fa. S für eine Qualifizierungsmaßnahme zum Systemadministrator für SAP
Software teil. Nach dem Maßnahmekonzept konnten die Teilnehmer später in den Bereichen Organisation
und Beratung, Applikations-Entwicklung und Systemadministration, die einander jeweils berührten, tätig
werden.
Am Donnerstag, den 05.04.2001, sprach der Kläger ohne Termin in der Arbeitsagentur Mainz vor und bat
um ein Beratungsgespräch über diese Maßnahme. Sein zuständiger Arbeitsberater war in Urlaub; die ihn
vertretende Kollegin weigerte sich, ein entsprechendes Gespräch zu führen und verwies den Kläger auf
die Rückkehr des für ihn zuständigen Arbeitsberaters. Bei dieser Vorsprache gab der Kläger seinen
Kurzantrag auf Förderung dieser Weiterbildungsmaßnahme bei der Beklagten ab. Am Montag, dem
09.04.2001, unterzeichnete der Maßnahmeträger den Vertrag über die Teilnahme des Klägers an dieser
Maßnahme. Die Gesamtkosten betrugen 23.604,00 DM. Die Maßnahme dauerte bis zum 08.03.2002. Seit
dem 07.05.2002 ist der Kläger bei der Fa. M als SAP-Systemadministrator tätig.
Mit Bescheid vom 07.05.2001 und Widerspruchsbescheid vom 27.07.2001 lehnte die Beklagte eine
Förderung der Maßnahme ab, weil vor ihrem Beginn kein Beratungsgespräch über diese stattgefunden
habe. Im Übrigen sei diese Maßnahme auch nicht mit der zunächst bei der Fa. I GmbH ins Auge
gefassten Weiterbildung zu vergleichen.
Das Sozialgericht Mainz (SG) hat mit Urteil vom 17.02.2003 die hiergegen erhobene Klage abgewiesen.
Gegen das ihm am 21.02.2003 zugestellte Urteil hat der Kläger am 18.03.2003 Berufung eingelegt.
Er trägt im Wesentlichen vor:
Die Beklagte könne sich nicht auf ein fehlendes Beratungsgespräch berufen. Die zuständige Vertretung
habe sich am 05.04.2001 ausdrücklich geweigert, ein Beratungsgespräch durchzuführen, obwohl sie
gewusst habe, dass die betreffende Maßnahme bereits am 09.04.2001 beginnen sollte. Die Beklagte hätte
angesichts der besonderen Umstände eine Beratung zumindest am nächsten Tag ermöglichen müssen.
Darüber hinaus hätte sie ihn auch noch später beraten können. Es wäre durchaus möglich gewesen, in
die Maßnahme erst in der zweiten Woche einzusteigen. Im Übrigen sei es nicht zutreffend, dass die
Maßnahmen nicht miteinander vergleichbar seien. Sowohl die vorgesehene Maßnahme bei der Fa. I
GmbH als auch die von ihm bei der Fa. S AG durchgeführte Maßnahme hätten die Ausbildung zum
Systemadministrator zum Ziel gehabt. Auch bei der Fa. S AG sei er überwiegend in edv-technisch
orientierten Fächern unterrichtet worden. Keineswegs handele es sich hierbei um eine kaufmännisch-
betriebswirtschaftlich orientierte Weiterbildungsmaßnahme, wie die Beklagte behaupte. Im Übrigen habe
er sehr wohl die Zugangsvoraussetzungen für die Teilnahme an dieser Maßnahme erfüllt.
Zugangsvoraussetzung sei keineswegs zwingend ein Hoch- oder Fachhochschulstudium gewesen. An
der Maßnahme hätten außer ihm auch andere Personen erfolgreich teilgenommen, die nicht über ein
entsprechendes Studium verfügten. Die Fa. S AG habe auch Teilnehmer zugelassen, die eine
geeignete Berufsausbildung und EDV-Berufspraxis aufweisen konnten.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Mainz vom 17.02.2003 - S 9 AL 342/01 - und den Bescheid der Beklagten
vom 07.05.2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.07.2001 aufzuheben und die
Beklagte zu verurteilen, seine berufliche Weiterbildungsmaßnahme zum Systemadministrator für SAP
Software vom 09.04.2001 bis 08.03.2002 zu fördern.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie trägt vor:
Mit Ausnahme der insoweit allein in Streit stehenden Nr. 3 seien alle weiteren tatbestandlichen
Voraussetzungen des § 77 Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III) erfüllt. Eine Förderung scheide aus; es
fehle an der zwingend erforderlichen vorherigen Beratung. Der Kläger habe erst zwei Tage vor
Maßnahmebeginn um eine Beratung nachgesucht. Er habe auch nicht damit rechnen können, dass er am
05.04.2001 ohne einen entsprechenden Termin tatsächlich beraten werden würde. Der Arbeitstag der
Vertreterin der zuständigen Fachkraft sei durchterminiert gewesen, so dass nicht ausreichend Zeit für ein
ausführliches qualifiziertes Beratungsgespräch vorhanden gewesen sei. Selbst wenn der Kläger am
05.04.2001 beraten worden wäre, hätte sie seiner Teilnahme an der Maßnahme nicht zugestimmt. Es sei
zwar richtig, dass der Kläger wegen seiner Vorkenntnisse auch für eine technisch orientierte
Qualifizierung im IT-Bereich in Frage gekommen sei. Eine solche Maßnahme sei ihm auch konkret bei
einem Bildungsträger, nämlich einem Tochterunternehmen der I Deutschland, angeboten worden. Diese
Maßnahme sei jedoch nicht durchgeführt worden. Die vom Kläger in Eigeninitiative gesuchte und
schließlich auch abgeschlossene Maßnahme sei jedoch keineswegs mit dieser zunächst ins Auge
gefassten Maßnahme zu vergleichen. Ein weiterer Ablehnungsgrund wäre im Übrigen auch gewesen,
dass der Kläger die festgelegten Zugangsvoraussetzungen für diese Qualifizierung nicht erfüllt habe. Die
Tatsache, dass der Träger seiner Teilnahme dennoch zugestimmt habe, sei in diesem Zusammenhang
irrelevant.
Zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird im Übrigen auf den Inhalt der Prozessakte und der den
Kläger betreffenden Verwaltungsakte der Beklagten (Kunden-Nr. ) Bezug genommen. Er ist
Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung gewesen.
E N T S C H E I D U N G S G R Ü N D E:
Die zulässige Berufung ist auch begründet. Zu Unrecht hat das SG die Klage abgewiesen. Der
angefochtene Bescheid der Beklagten vom 07.05.2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
27.07.2001 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat Anspruch auf
Förderung seiner vom 09.04.2001 bis zum 08.03.2002 besuchten beruflichen Weiterbildungsmaßnahme
zum Systemadministrator für SAP Software.
Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 77 Abs. 1 SGB III sind erfüllt: Im Zeitpunkt des
Maßnahmebeginns war die Weiterbildung für den Kläger notwendig, um ihn bei bestehender
Arbeitslosigkeit beruflich einzugliedern (Nr. 1), er erfüllte die Vorbeschäftigungszeit (Nr. 2), zudem war die
Maßnahme für die Weiterbildungsförderung auch durch die Beklagte anerkannt (Nr. 4). Darüber hinaus
liegt aber auch entgegen der Auffassung der Beklagten die hier streitige Nr. 3 vor, wonach erforderlich ist,
dass vor Beginn der Teilnahme eine Beratung durch die Arbeitsagentur erfolgt ist und diese der
Teilnahme zugestimmt hat.
Zwar ist der Kläger vor Beginn der Teilnahme an der Maßnahme von der Beklagten weder beraten
worden noch hat sie der Teilnahme zugestimmt. Aber die Beklagte kann sich nach dem Rechtsgedanken
des „venire contra factum propium“, § 242 Bürgerliches Gesetzbuch - BGB -, hierauf nicht berufen. Sie hat
eine Beratung des Klägers vereitelt. Das Verbot des "venire contra factum proprium" ist ein allgemeiner
Rechtsgrundsatz, der als einheitlicher Rechtsgedanke auch im Sozialrecht Anwendung findet (vgl nur
BSGE 65, 272
, 27 mwN = SozR 4100 § 78 Nr 8). Unerheblich ist es insoweit, dass der Kläger erst am
Donnerstag, dem 05.04.2001, ohne Termin bei der Beklagten vorgesprochen hat. Angesichts der
besonderen Umstände des vorliegenden Falles hätte die Beklagte eine kurzfristige Beratung des Klägers
ermöglichen und in seinem und dem Interesse der Versichertengemeinschaft gewährleisten müssen, dass
der Kläger ohne weitere zeitliche Verzögerungen an dieser (Ersatz-) Maßnahme teilnimmt. Wenn die am
Vorsprachetag zuständige Bedienstete aus organisatorischen Gründen nicht in der Lage gewesen war,
ein entsprechendes Beratungsgespräch zu führen, hätte sie dem Kläger jedenfalls einen (kurzfristigen)
anderen Termin nennen müssen. Keinesfalls durfte sie ihn ohne Bearbeitung der Angelegenheit auf die
Rückkehr des für den Kläger nach der behördeninternen Organisation zuständigen Kollegen verweisen.
Schließlich war der Kläger zu diesem Zeitpunkt bereits über ein Jahr lang arbeitslos, zudem hatte ihm die
Beklagte bereits die Förderung einer vergleichbaren, aber auf unbestimmte Zeit verschobenen
Maßnahme zugesagt.
Die Beklagte hätte der Teilnahme an der Maßnahme bei der Fa. S AG auch zustimmen müssen. Diese
Teilnahme entsprach im Wesentlichen der von der Beklagten favorisierten und von der Fa. I GmbH
angebotenen Maßnahme. Nach den Maßnahmekonzepten beider Bildungsträger hatten die Absolventen
eine Berufschance u.a. als Systemadministrator.
Zu Unrecht macht die Beklagte geltend, sie habe der Teilnahme auch deshalb nicht zustimmen können,
weil der Kläger die formellen Voraussetzungen nicht erfüllt habe. Dies ist bereits deshalb nicht zutreffend,
weil nach der Beschreibung des Maßnahmeträgers auch eine entsprechende Berufserfahrung im EDV-
Bereich ausreichte, die der Kläger aufgrund seiner Tätigkeit im Institut für Virologie erfüllte. Unabhängig
davon kommt es im Übrigen auch nur darauf an, dass der Maßnahmeträger den Kläger nach
erfolgreichem Eignungstest für geeignet gehalten und in die Maßnahme aufgenommen hat.
Obwohl die hier maßgebliche, vom 01.08.1999 bis 31.12.2002 geltende Fassung des § 77 SGB III der
Beklagten ein Ermessen bezüglich der Förderung von Maßnahmen der beruflichen Weiterbildung
einräumt, ist die Beklagte zur Förderung der Weiterbildungsmaßnahme zu verurteilen. Der
Ermessensspielraum der Beklagten ist aufgrund der tatsächlichen Umstände des Falles auf Null reduziert.
Die Beklagte hatte den Kläger bereits als förderungsfähig und förderungsbedürftig eingestuft und ihm
deshalb die Förderung der von der I Deutschland GmbH angebotenen Maßnahme Technischer
Professional zugesagt. Zudem hat der Kläger die Maßnahme erfolgreich beendet und im Anschluss einen
adäquaten Arbeitsplatz gefunden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Revisionszulassungsgründe nach § 160 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 SGG liegen nicht vor.
- Rechtsmittelbelehrung -