Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 28.03.2011

LSG NRW: venire contra factum proprium, zusicherung, wohnung, umzug, verfügung, wiederholungsgefahr, rechtswidrigkeit, verwaltungsakt, leistungserbringer, abgabe

Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen
Beschluss vom 28.03.2011 (rechtskräftig)
Sozialgericht Dortmund S 22 AS 3075/10
Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen L 19 AS 43/11 B
Die Beschwerden der Kläger gegen den Beschluss des Sozialgerichts Dortmund vom 26.11.2010 werden
zurückgewiesen.
Gründe:
Die Kläger, die in Bedarfsgemeinschaft Grundsicherungsleistungen nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) Zweites Buch
(II) beziehen, beantragten bei der Rechtsvorgängerin des Beklagten (im Folgenden einheitlich Beklagter) die
Zusicherung zu den Aufwendungen für eine neue Unterkunft. Dies lehnte Letzterer durch formloses Schreiben vom
09.06.2010 ab, weil der Umzug aufgrund ausreichenden Wohnraums nicht notwendig sei. Den hiergegen gerichteten
Widerspruch wies der Beklagte als unzulässig zurück, weil durch die Ablehnung nicht in die Rechte der Kläger
eingegriffen worden sei, sondern das Zusicherungsverfahren lediglich den Zweck habe, über die Angemessenheit der
Unterkunftskosten vor deren Entstehung eine Entscheidung herbeizuführen und so für den Hilfebedürftigen das
Entstehen einer erneuten Notlage infolge der nur teilweise Übernahme von Kosten zu vermeiden
(Widerspruchsbescheid vom 23.06.2010). Gleichzeitig teilte der Beklagte mit, dass das Vorbringen der Kläger die
Notwendigkeit des Umzugs begründen könne, wegen der Unangemessenheit der in Aussicht genommenen Wohnung
die Zusicherung aber gleichwohl nicht erfolgen könne.
Für die hiergegen erhobenen Klagen hat das Sozialgericht (SG) Dortmund Prozesskostenhilfe mit Beschluss vom
26.11.2010 abgelehnt, weil, nachdem die neue Unterkunft, für die die Zusicherung begehrt worden sei, nicht mehr zur
Verfügung stehe, den Klägern das erforderliche Feststellungsinteresse für die Fortsetzung des Verfahrens fehle.
Die dagegen gerichteten Beschwerden sind zulässig, aber nicht begründet. Das SG hat im Ergebnis
Prozesskostenhilfe zu Recht abgelehnt, weil das Klagebegehren nicht die erforderliche hinreichende Erfolgsaussicht
nach § 73a Abs. 1 S. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) i.V.m. § 114 Zivilprozessordnung (ZPO) bietet.
Eine solche Erfolgsaussicht kann nicht schon daraus abgeleitet werden, dass der Beklagte den Widerspruch zu
Unrecht als unzulässig behandelt hat. Die Entscheidung des Leistungsträgers über die begehrte Zusicherung nach §
22 Abs. 2 SGB II erfüllt die Anforderungen an einen Verwaltungsakt (vgl. Berlit in LPK-SGB II, 3. Aufl., § 22 Rn 83;
Lauterbach in Gagel, SGB II/SGB III, § 22 Rn 67). Ein solcher ist nach § 31 S. 1 SGB Zehntes Buch (X) jede
Verfügung, Entscheidung oder andere hoheitliche Maßnahme, die eine Behörde zur Regelung eines Einzelfalles auf
dem Gebiet des öffentlichen Rechts trifft und die auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet ist. Hierunter
fallen auch Zusicherungen im Sinne des § 34 SGB X (Engelmann in von Wulffen, SGB X, 6. Aufl., § 34 Rn 5 m.w.N.).
Mit der Zusicherung nach § 22 Abs. 2 SGB II erkennt der Leistungsträger nicht nur die Berechtigung zum Umzug der
Leistungsempfänger an, sondern er wird aufgrund dieser Entscheidung auch verpflichtet, die Kostenübernahme durch
einen zukünftigen Leistungsbescheid für die neue Unterkunft in dem ihm angezeigten Umfang zu regeln (Lang/Link in
Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl., § 22 Rn 69; Piepenstock in jurisPK, 2. Aufl., § 22 Rn 92). Damit stellt die
Zusicherung aber eine Regelung mit entsprechender Außenwirkung auf dem Gebiet des öffentlichen Leistungsrechts
dar.
Aus der von dem Beklagten in Bezug genommenen Rechtsprechung (u. a. Beschl. des Senats v. 27.08.2009 - L 19 B
217/09 AS; BSG Urt. v. 07.11.2006 - B 7b AS 10/06 R) folgt nichts anderes. Allein der Umstand, dass die
Zusicherung nicht Voraussetzung für den Anspruch auf höhere Kosten der Unterkunft im Falle eines notwendigen
Umzugs in eine angemessene Wohnung ist (BSG Urt. v. 07.11.2006 - B 7b AS 18/06 R = SozR 4-4200 § 22 Nr. 2 Rn
27) und aus diesem Grund die Verpflichtung des SGB II-Leistungsträgers zur Abgabe der Zusicherung in einstweiligen
Rechtsschutz-Verfahren regelmäßig abgelehnt wird, enthebt die Zusicherung nicht ihres Regelungscharakters. Mit
ihrer Abgabe wird nämlich das Verhältnis zwischen Leistungserbringer und Leistungsempfänger dahin geregelt, dass
die tatsächlichen Kosten der neuen Unterkunft angemessen im Sinne des § 22 Abs. 1 SGB II und daher den
zukünftigen Leistungsbewilligungen zugrunde zu legen sind.
Auch wenn die Verwerfung des Widerspruchs als unzulässig daher rechtswidrig gewesen ist, ist infolge des
Umstands, dass jedenfalls bei Vorlage des vollständigen Prozesskostenhilfegesuchs die Wohnung, für die die
Zusicherung begehrt worden ist, nicht mehr zur Verfügung stand, eine Erledigung des angefochtenen Verwaltungsakts
eingetreten, sodass auch kein Interesse mehr an der ggf. isolierten Aufhebung des Widerspruchsbescheides bestehen
kann. Es kann daher dahin stehen, ob die Klage in derartigen Fällen unmittelbar auf die materielle Leistung oder nur
auf Aufhebung des angefochtenen Widerspruchsbescheides gerichtet werden kann (vgl. dazu Schlegel in Hennig,
SGG, § 84 Rn 22).
Für die im Fall der Erledigung des streitigen Verwaltungsaktes allein statthafte Fortsetzungsfeststellungsklage auf
Ausspruch des Gerichts über die Rechtswidrigkeit des erledigten Verwaltungsaktes fehlt den Klägern das berechtigte
Interesse im Sinne des § 131 Abs. 1 S. 3 SGG. Dieses kann rechtlicher, wirtschaftlicher oder auch ideeller Art sein
und wird für den Fall einer Wiederholungsgefahr, eines Rehabilitationsbedürfnisses, der Durchsetzung eines
Schadensersatzanspruchs oder bei Präjudizialität des Verfahrens angenommen (BSG Urt. v. 28.08.2007 - B 7/7a AL
16/06 R = SozR 4-1500 § 131 Nr. 3 m.w.N.).
Die Annahme der hier alleine in Betracht kommenden Wiederholungsgefahr setzt die konkret absehbare Möglichkeit
voraus, dass innerhalb der nahen Zukunft eine gleiche oder gleichartige Entscheidung oder Maßnahme zu Lasten der
Kläger zu erwarten ist (BVerwG Beschl. v. 29.04.2008 - 1 WB 11/07 = Buchholz 310 § 113 Abs. 1 VwGO Nr. 31
m.w.N.). Es muss die hinreichend bestimmte (konkrete) Gefahr bestehen, dass sich unter im Wesentlichen
unveränderten tatsächlichen und rechtlichen Umständen ein gleichartiger Sachverhalt wiederholt oder dass trotz
veränderter Verhältnisse zumindest eine auf gleichartigen Erwägungen beruhende Entscheidung zu erwarten ist, weil
die Behörde eine entsprechende Absicht zu erkennen gegeben hat (BSG Urt. v. 16.05.2007 - B 7b AS 40/06 R =
SozR 4-4200 § 22 Nr. 4 Rn 7). Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt.
Der Senat folgt allerdings nicht der Auffassung des SG, dass im Hinblick auf die veränderten Verhältnisse, die einem
zukünftigen Zusicherungsbegehren nach § 22 Abs. 2 SGB II zugrunde liegen werden, eine solche
Wiederholungsgefahr auszuschließen ist. Verweigert der zuständige Leistungsträger zu Unrecht eine Zusicherung
nach § 22 Abs. 2 SGB II, besteht vielmehr grundsätzlich ein Interesse des Hilfebedürftigen an der Feststellung der
Rechtswidrigkeit der Ablehnung (ebenso LSG Berlin-Brandenburg Beschl. v. 15.12.2006 - L 5 B 1147/06 AS ER =
www.juris.de; einschränkend LSG Berlin-Brandendenburg Urt. v. 11.05.2010 - L 5 AS 1576/09 = www.juris.de; Krauß
in Hauck/Noftz, SGB II, § 22 Rn 105). Anderenfalls könnte der Leistungsempfänger bei einem Verbleib in seiner
bisherigen Wohnung nicht klären lassen, unter welchen Voraussetzungen ein Umzug in eine andere Wohnung ohne
leistungsrechtliche Nachteile für ihn möglich ist, oder er trüge bei einem gleichwohl durchgeführten Umzug das Risiko,
die Mietdifferenz tragen zu müssen, sofern sich die Entscheidung des Leistungsträgers als zutreffend erweist. Dies
gilt insbesondere in Ansehung des Umstands, dass nach der überwiegenden Rechtsprechung des LSG NRW (vgl. z.
B. Beschl. v. 27.05.2008 - L 20 B 75/08 AS) eine Zusicherung nach § 22 Abs. 2 SGB II nicht im Wege einstweiligen
Rechtsschutzes erlangt werden kann. Daher besteht ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse regelmäßig nicht nur,
soweit der Leistungserbringer den Umzug als solchen als nicht notwendig angesehen hat, sondern auch soweit er die
Zusicherung wegen Unangemessenheit der neuen Unterkunft abgelehnt hat (a.A. LSG Berlin-Brandenburg Urt. v.
11.05.2010 a.a.O.; Krauß a.a.O.). Diesbezüglich liegt auch nicht die bloße Klärung von Anspruchselementen vor (a.A.
LSG Berlin-Brandenburg Beschl. v. 15.12.2006 a.a.O.), sondern es wird vielmehr die Rechtsbeziehung zwischen den
Beteiligten in Bezug auf den zustehenden angemessenen Wohnraum einschließlich des Anspruchs auf Erlass
zukünftiger Leistungsbescheide auf dieser Grundlage über die Kosten der Unterkunft nach § 22 Abs. 1 SGB II geklärt.
Trotz dieser grundsätzlichen Interessenlage fehlt den Klägern hier das erforderliche Feststellungsinteresse. Soweit der
Beklagte seine Entscheidung ursprünglich damit begründet hat, dass keine Notwendigkeit eines Wohnungswechsels
bestünde, hat er hiervon ausdrücklich Abstand genommen. Auch wenn dieses lediglich durch ein formloses Schreiben
geschehen ist, droht den Klägern aufgrund des Ablehnungsbescheides vom 09.06.2010 kein Nachteil. Zum einen
stellt ein Ablehnungsbescheid keinen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung dar und kann daher einem zukünftigen
Zusicherungsbegehren nicht entgegengehalten werden. Zum anderen hat der Beklagte nunmehr schriftlich die
Notwendigkeit des Umzugs anerkannt, sodass er unabhängig von der Rechtsqualität dieses Aktes gegen das Verbot
eines venire contra factum proprium verstieße, wenn er sich im Falle eines Umzugs der Kläger auf eine gegenteilige
Bedarfslage beriefe.
Soweit der Beklagte nunmehr seine Ablehnung der Zusicherung mit der Unangemessen-heit der neuen Wohnung
begründet hat, haben die Kläger selbst mit ihrem Beschwerde-vorbringen erklärt, dass sie hinsichtlich dieses
Umstandes kein Feststellungsinteresse geltendmachen.
Die Beschwerden sind daher zurückzuweisen.
Die Nichterstattungsfähigkeit der Kosten des Beschwerdeverfahrens folgt aus einer entsprechenden Anwendung des §
127 Abs. 4 ZPO.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).