Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 14.07.2003

LSG NRW: rente, erwerbsunfähigkeit, tod, erlass, rechtsgrundlage, minderung, verwaltungsakt, zukunft, rückgriff, nichterfüllung

Landessozialgericht NRW, L 3 RJ 76/02
Datum:
14.07.2003
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
3. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 3 RJ 76/02
Vorinstanz:
Sozialgericht Dortmund, S 34 RJ 253/01
Sachgebiet:
Rentenversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts
Dortmund vom 31.07.2002 wird zurückgewiesen. Die Beklagte trägt die
außergerichtlichen Kosten des Klägers auch im Berufungsverfahren. Die
Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
1
Zwischen den Beteiligten ist der Zeitpunkt, zu dem die Beklagte frühestens die bisherige
Höchstwertfestsetzung des Rechts auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit aufheben und
einen neuen Höchstwert festsetzen durfte, sowie davon abhängig der Wert des
Ausgleichsanspruchs streitig, der sich aus dem Rückausgleich der wegen eines
Versorgungsausgleichs vorgenommenen Kürzung des Werts des Rechts auf Rente
wegen Erwerbsunfähigkeit ergibt.
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Der im ... 1937 geborene Kläger war mit der am ...1939 geborenen ... verheiratet. Die
Ehe wurde durch Urteil des Amtsgerichts Witten vom ...1985 geschieden. Zu Lasten des
Klägers wurde für die Ehezeit vom ... bis ... der Versorgungsausgleich durchgeführt.
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Mit Bescheid vom 14.03.1994 bewilligte die Beklagte dem Kläger
Erwerbsunfähigkeitsrente ab 01.03.1993 in Höhe von 1490,54 DM netto (brutto 1530,79
DM): Dabei berücksichtigte sie einen Abschlag für den Versorgungsausgleich in Höhe
von 15,6243 Entgeltpunkten.
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Im September 2000 stellte der Kläger einen Antrag nach § 4 Abs. 1 des Gesetzes zur
Regelung von Härten im Versorgungsausgleich (VAHRG): Seine geschiedene Ehefrau
sei am ...2000 verstorben. Leistungen aus der für sie bei der LVA Westfalen
bestehenden Versicherung und insbesondere Leistungen aus dem durchgeführten
Versorgungsausgleich hat die Verstorbene nicht bezogen.
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Daraufhin berechnete die Beklagte mit Bescheid vom 27.11.2000 die
Erwerbsunfähigkeitsrente des Klägers ab 01.01.1996 neu. Es ergab sich nun ein
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Zahlbetrag in Höhe von 2313,22 DM netto. Die beklagte stützte sich dabei auf § 48 Abs.
4 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - SGB X -, gewährte rückwirkend aber nur Leistungen
für vier Jahre ab 01.01.1996 und verwies zur Begründung insofern auf § 44 Abs. 4 SGB
X. Dagegen legte der Kläger Widerspruch ein: Die Vier-Jahres-Frist sei bei einem
Anspruch nach § 4 VAHRG nicht anwendbar. Die Beklagte verblieb jedoch bei ihrer
Auffassung (Widerspruchsbescheid vom 23.08.2001).
Hiergegen hat der Kläger am 12.09.2001 Klage erhoben und zur Begründung dargelegt,
er sei so zu behandeln, als wenn der Versorgungsausgleich nie stattgefunden hätte. Er
sah seine Rechtsauffassung auch durch ein Urteil des Bundessozialgerichts vom
24.07.2001 - Az.: B 4 RA 94/00 R - bestätigt.
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Die Beklagte hielt das Urteil des Bundessozialgerichts nicht für überzeugend und lehnte
weiterhin die Zahlung einer Rente ohne Berücksichtigung des Versorgungsausgleichs
vor dem 01.01.1996 ab.
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Mit Urteil vom 31.07.2002 hat das Sozialgericht die Beklagte verurteilt, dem Kläger über
den bisher zuerkannten Ausgleichsanspruch hinaus einen weiteren Betrag unter
Berücksichtigung des Zeitraums vom 01.03.1993 bis 31.12.1995 nach Maßgabe der
gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren. Zur Begründung hat das Sozialgericht unter
Hinweis auf das genannte Urteil des 4. Senats des BSG darauf verwiesen, § 4 Abs. 1
VAHRG konkretisiere das verfassungsrechtliche Gebot eines wirtschaftlich
vollständigen Rückausgleichs. Der einmalige Ausgleichsanspruch ergebe sich gerade
nicht als Summe der in der Vergangenheit wiederkehrend entstandenen und fällig
gewordenen Einzelansprüche, sondern sei originär gemäß § 4 Abs. 1 VAHRG mit dem
Tod der früheren Ehefrau entstanden und fällig geworden.
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Gegen diese ihr am 27.08.2002 zugestellte Entscheidung richtet sich die Berufung der
Beklagten vom 19.09.2002. Zur Begründung meint die Beklagte, § 4 VAHRG enthalte
effektiv keine Regelung darüber, in welcher Weise eine bereits durchgeführte
Rentenminderung nachträglich zu beheben sei. Das Bundessozialgericht habe selbst
formuliert, dass es sich bei § 4 VAHRG um keine Sondervorschrift zu § 48 SGB X
handle. Ermächtigungsgrundlage sei für die erforderliche zukunftsgerichtete Aufhebung
der bisherigen Rentenhöchstwertfeststellung allein § 48 Abs. 1 SGB X. Welche
verfahrensrechtlichen Grundlagen die Rückgewähr vormals gekürzter Rentenanteile
habe, gehe aus den Gründen des Urteils nicht hervor. Da es aber in Fällen der
Rückgewähr früher eingebüßter Rententeilbeträge notwendigerweise auch um die
Rückgängigmachung der Rechtswirkungen eines bei seinem Erlass fehlerfreien
Dauerverwaltungsaktes gehe, sei nicht evident, warum die Regelung aus § 48 SGB X
einschließlich der darin enthaltenen Verweisung auf die Ausschlussfrist des § 44 Abs. 4
SGB X keine Geltung beanspruchen sollte. Die Entscheidung des 4. Senats stelle nach
ihrer Auffassung keine ständige höchstrichterliche Rechtsprechung dar. Es werde daher
eine Entscheidung durch einen anderen Senat des BSG angestrebt. Zudem habe der 1.
Senat des BSG mit Urteil vom 27.01.1987 - Az.: 1 RA 27/86 - für die rückwirkende
Gewährung vorenthaltener Leistungen aufgrund eines sozialgerichtlichen
Herstellungsanspruchs entschieden, dass § 44 Abs. 4 SGB X analoge Anwendung
finde. Insofern bestehe ein vergleichbarer Interessenkonflikt zwischen dem Bedürfnis
des Ausgleichspflichtigen nach umfassendem Ausgleich vorangegangener Verluste und
dem Anliegen des Rentenversicherungsträgers, die Befriedigung von Forderungen
einzugrenzen.
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Die Beklagte beantragt,
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das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 31.07.2002 abzuändern und die Klage
abzuweisen.
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Der Kläger beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Er verweist auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 24.07.2001. Es seien
keine Gründe ersichtlich, warum von dieser Entscheidung abgewichen werden sollte.
Mittlerweile erhält der Kläger aufgrund einer Umwandlung Regelaltersrente ab
01.09.2002.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die
Prozessakten sowie die Verwaltungsakten der Beklagten, die Gegenstand der
mündlichen Verhandlung gewesen sind, verwiesen.
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Entscheidungsgründe:
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Die Berufung der Beklagten ist nicht begründet. Zu Recht und mit zutreffender
Begründung hat das Sozialgericht die Beklagte verurteilt, dem Kläger ab 01.03.1993 die
ungeminderte Rente zu zahlen.
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Der Bescheid der Beklagten vom 27.11.2000 ist nur insofern rechtmäßig, als die
Beklagte die Rente wegen Wegfall der Minderung durch Versorgungsausgleich neu
berechnet und ab 01.01.2001 die ungeminderte Rente gezahlt hat. Nur insofern kann
sich die Beklagte rechtmäßig auf die Ermächtigungsgrundlage des § 48 Abs. 1 SGB X
stützen. Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft
aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem
Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Der Verwaltungsakt soll
mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit
u.a. die Änderung zu Gunsten des Betroffenen erfolgt (§ 48 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr.
1 SGB X). Mit dem Tod der früheren Ehefrau des Klägers am 26.08.2000 ist die von § 48
SGB X vorausgesetzte Änderung in den tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen
eingetreten. Die verstorbene Ehefrau des Klägers hat keine
rentenversicherungsrechtlichen Leistungen erhalten, für deren Gewährung die im
Versorgungsausgleich übertragenen Anwartschaften hätten bedeutsam sein können.
Der Kläger hatte deswegen Anspruch darauf, dass der Wert seines Rechts auf Rente
wegen Erwerbsunfähigkeit nicht mehr aufgrund des Versorgungsausgleichs gekürzt
wurde. Die wesentliche rechtliche Änderung lag darin, dass der Tod der geschiedenen
Ehefrau des Klägers die Rechtsfolgen des § 4 Abs. 1 VHARG auslöste. Mit Rücksicht
darauf hätte die Beklagte die bisherige Rentenhöchstwertfeststellung frühestens ab
26.08.2000, unter Beachtung des rentenversicherungsrechtlichen Monatsprinzips
jedoch mit Wirkung ab 01.09.2000 aufheben können und müssen.
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Nur für diesen Zeitraum ist die rückwirkend dem Kläger gewährte höhere Rente wegen
Erwerbsunfähigkeit ohne Minderung infolge des Versorgungsausgleichs rechtmäßig
von der Beklagten auf die Ermächtigungsgrundlage des § 48 Abs. 1 SGB X gestützt
worden. Für eine darüberhinausgehende rückwirkende Gewährung bietet § 48 Abs. 1
SGB X allerdings keine Rechtsgrundlage, da die wesentliche Änderung erst durch den
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Tod der geschiedenen Ehefrau des Klägers am 26.08.2000 eintrat und ausschließlich
dieser Umstand als Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse in Betracht kommt. Vor
diesem Zeitpunkt war zum Einen keine Änderung eingetreten, die zur Aufhebung des
Verwaltungsaktes eine Grundlage bot, zum Anderen war bis dahin der durchgeführte
Versorgungsausgleich rechtmäßig und dementsprechend auch die Festsetzung des
Höchstwertes der dem Kläger gewährten Rente mit Recht erfolgt. Dies beachtet die
Beklagte nach wie vor nicht hinreichend, da sie für die - hier schon denkgesetzlich
ausgeschlossene - rückwirkende Aufhebung ausschließlich § 48 SGB X als
maßgebliche Rechtsgrundlage ansieht. Dies ist ausgeschlossen, weil § 48 SGB X
frühestens eine Änderung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse (hier: Tod der
geschiedenen Ehefrau) ermöglicht, hingegen nicht für Zeiten davor. Dies erhellt auch,
dass § 48 SGB X von Vorneherein schon als Grundlage für die Rückgewähr früher
eingebüßter Rententeilbeträge unter dem Gesichtspunkt der Rückgängigmachung der
Rechtswirkungen eines bei seinem Erlass fehlerfreien Dauerverwaltungsaktes
ausscheidet. Ist aber § 48 SGB X schon von Vornherein nicht anwendbar, ist ebenso ein
Rückgriff auf § 44 Abs. 4 SGB X verwehrt, was schon mangels Lücke die von der
Beklagten in Betracht gezogene analoge Anwendung des § 44 Abs. 4 SGB X
ausschließt.
Der Anspruch des Klägers auf ungeminderte Zahlung seiner Rente wegen
Erwerbsunfähigkeit ab 01.03.1993 beruht dementsprechend auch nicht auf § 48 SGB X
sondern ausschließlich auf § 4 Abs. 1 VAHRG. Der Senat folgt ohne Einschränkungen
auch insoweit der von der Beklagten nicht akzeptierten Entscheidung des
Bundessozialgerichts vom 24.07.2001 - Az.: B 4 RA 94/00 R -, die der Senat für
überzeugend und zutreffend hält. § 4 VAHRG begründet nicht nur ein Recht auf
Aufhebung der bisherigen Wertfestsetzung sondern darüberhinaus auch die Pflicht des
Rentenversicherungsträgers, jetzt den Verlust auszugleichen, den der
Versorgungsausgleichsverpflichtete infolge des rechtmäßig durchgeführten
Versorgungsausgleichs erlitten hat. Dieser Ausgleichsanspruch ist eine einmalige
Leistung. Es geht, wie schon das Sozialgericht zutreffend dargelegt hat, nicht um in der
Vergangenheit entstandene und fällig gewordene Einzelansprüche, deren anteilige
Nichterfüllung durch eine Änderung im Sinne des § 48 SGB X rückgängig gemacht
werden müsste. Vielmehr dient § 4 Abs. 1 VAHRG in Umsetzung der Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichts (Urteil vom 28.02.1980, BVerfGE 53, 257) der
Vermeidung verfassungswidriger Härten im Versorgungsausgleich mit der
Verpflichtung, den Ausgleichsverpflichteten so zu stellen, als sei eine Rentenkürzung
wegen des Versorgungsausgleichs in der Vergangenheit vorgenommen worden. Auf
diese einmalige Leistung ist § 48 SGB X aus den dargelegten Gründen nicht anwendbar
und auch nicht von Bedeutung. Dementsprechend ist die Beklagte zu Recht vom
Sozialgericht verurteilt worden, einen Ausgleichsbetrag zu zahlen, der auch den von der
Beklagten nicht berücksichtigten Zeitraum vom 01.03.1993 bis 31.12.1995 für die
Höchstwertfestsetzung des Rechts auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit berücksichtigt.
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Der Senat hat keine Veranlassung gesehen, die Revision zuzulassen, da die
gesetzlichen Voraussetzungen hierfür (§ 160 Abs. 2 SGG) nicht vorliegen. Die
Rechtssache hat vor dem Hintergrund der Entscheidung des 4. Senat des
Bundessozialgerichts vom 24.07.2001 keine grundsätzliche Bedeutung mehr. Auch
weichen weder der 4. Senat des Bundessozialgerichts noch der erkennende Senat von
einer anderen Entscheidung des Bundessozialgerichts ab.
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