Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 19.07.2010

LSG NRW (aufschiebende wirkung, sgg, beendigung der erwerbstätigkeit, vollziehung, öffentliches interesse, wirkung, überwiegendes interesse, lebensversicherung, antrag, beitragspflicht)

Landessozialgericht NRW, L 11 KR 223/10 B ER
Datum:
19.07.2010
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
11. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
L 11 KR 223/10 B ER
Vorinstanz:
Sozialgericht Detmold, S 3 KR 101/10 ER
Sachgebiet:
Krankenversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des
Sozialgerichts Detmold vom 24.03.2010 wird zurückgewiesen. Kosten
sind auch im Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.
Gründe:
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I.
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Die Antragstellerin (AS) wendet sich gegen die Erhebung von Beiträgen zur
Krankenversicherung (KV) und Pflegeversicherung (PV) aus Versorgungsbezügen in
Form der Kapitalzahlung aus einer betrieblichen Direktversicherung.
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Die 1944 geborene AS ist seit 1975 Mitglied der Antragsgegnerin (AG). Seit dem
00.00.2009 unterliegt sie aufgrund Bezugs einer Altersrente der Deutschen
Rentenversicherung der Versicherungspflicht in der KV der Rentner.
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Ursprünglich war die AS im Einzelhandelsbetrieb ihres Ehemannes beschäftigt. Dieser
schloss am 01.10.1975 zu ihren Gunsten eine Kapitallebensversicherung bei der J
Lebensversicherung AG ab. Die Beiträge wurden durch den Arbeitgeber gezahlt. 1980
wurde die Vertragslaufzeit und die Beitragszahlungsdauer auf das Jahr 2009 verlängert.
Nach dem Tod ihres Ehemannes am 00.00.1997 übernahm die AS das
Einzelhandelsgeschäft. Mit Wirkung ab 01.10.1997 trat sie als Versicherungsnehmerin
in den Lebensversicherungsvertrag mit der J Lebensversicherung AG ein. Als
besondere Vereinbarung ist auf dem Versicherungsschein vom 25.09.1997 u.a.
vermerkt: "Dieser Vertrag war eine Direktversicherung, die beim Ausscheiden aus den
Diensten des Arbeitgebers auf den Arbeitnehmer übertragen worden ist. Es gelten
weiterhin die Vorschriften des Gesetzes zur Verbesserung der betrieblichen
Altersversorgung sowie einer ggf. bestehenden Betriebsvereinbarung." Ab Oktober
1997 zahlte die AS die Versicherungsbeiträge aus ihren Privateinkünften.
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Im Oktober 2009 zeigte die J Lebensversicherung AG der AG an, dass aus der
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Lebensversicherung zum 01.01.2009 zu Gunsten der AS eine Versicherungssumme
i.H.v. 210.439,84 EUR fällig sei.
Mit Bescheid vom 29.10.2009 teilte die AG der AS mit, dass die Kapitalleistung der
Beitragspflicht zur KV und PV unterliege. Für die Beitragsbemessung gelte 1/120 der
Kapitalleistung (1.753,67 EUR) als monatlicher Zahlbetrag. Der Beitragssatz zur KV
betrage 14,9 %, der zur PV 1,95 %. Ab dem 01.11.2009 habe die AS somit für 10 Jahre
monatlich 261,30 EUR für die KV und 34,20 EUR für die PV zu zahlen.
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Mit ihrem Widerspruch berief sich die AS auf verfassungrechtliche Bedenken
insbesondere im Hinblick auf den von ihr aus eigenen Beiträgen finanzierten Anteil der
Versicherungsleistung i.H.v. 52.557,34 EUR. Ihrem Antrag, die Vollziehung des
Bescheides vorläufig auszusetzen, entsprach die AG nicht (Schreiben vom 22.01.2010).
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Am 11.03.2010 hat die AS um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht und
vorgetragen, auch wenn ursprünglich eine betriebliche Altersversorgung vorgelegen
habe, sei der Zusammenhang mit ihrer früheren Berufstätigkeit mit dem Tod des
Ehemannes aufgelöst worden. Auch zu dessen Lebzeiten seien die Beiträge nicht nur
im Hinblick auf ihre Erwerbstätigkeit, sondern auch im Hinblick auf eine
Altersabsicherung gezahlt worden.
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Die AS hat schriftsätzlich beantragt,
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die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 02.12.2009 gegen den
Beitragsbescheid der Antragsgegnerin vom 29.10.2009 anzuordnen, hilfsweise
teilweise anzuordnen.
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Die AG hat schriftsätzlich beantragt,
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den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zurückzuweisen.
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Sie hat vorgetragen, aufgrund der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zur
auf Kapitalauszahlungen der betrieblichen Altersvorsorge beruhender Beitragspflicht
bestünden keine ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit ihrer Entscheidung. Deren
Vollziehung bedeute keine unbillige Härte für die AS.
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Das Sozialgericht (SG) Detmold hat den Antrag mit Beschluss vom 24.03.2010 - der AS
zugestellt am 26.03.2010 - abgelehnt und unter Zugrundelegung der Rechtsprechung
des BSG und des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) die Auffassung vertreten, nach
der im einstweiligen Rechtsschutz gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und
Rechtslage bestünden keine ernstlichen Zweifel an der Rechtsmäßigkeit des
Beitragsbescheides vom 29.10.2009. Aus den von der AS vorlegten
Versicherungsunterlagen ergebe sich, dass es sich bei der Lebensversicherung aus
dem Jahr 1975 um eine so genannte Direktversicherung gehandelt habe, also eine
Versicherung, mit der für die betriebliche Altersversorgung eine Lebensversicherung auf
das Leben des Arbeitnehmers durch den Arbeitgeber abgeschlossen werde und
aufgrund derer der Arbeitnehmer oder seine Hinterbliebenen hinsichtlich der Leistungen
des Versicherers ganz oder teilweise bezugsberechtigt seien. Die Leistungen aus einer
Direktversicherung würden auch deshalb nicht ihren Charakter als Versorgungsbezug
verlieren, weil sie zum Teil oder ganz auf Leistungen des Arbeitnehmers bzw. des
Bezugsberechtigten beruhten. Sie blieben auch dann in vollem Umfang Leistungen der
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betrieblichen Altersversorgung, wenn nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses die
Beiträge allein vom Beschäftigten als Versicherungsnehmer getragen worden seien.
Nach der Übernahme des Einzelhandelsbetriebes habe die AS die Möglichkeit gehabt,
die Versicherung zu übernehmen. Ein neuer Versicherungsvertrag sei aber nicht
geschlossen worden. Im Übrigen bedeute die monatliche Zahlung der Beiträge zur KV
und PV auch keine unbillige Härte.
Mit ihrer am 26.03.2010 eingelegten Beschwerde wendet sich die AS unter
Wiederholung ihres erstinstanzlichen Vortrags gegen diese Entscheidung. Zu
berücksichtigen sei, dass der ursprüngliche Versicherungsvertrag 1997 geändert
worden sei und dass seitdem die Versicherungsbeiträge ausschließlich von ihr gezahlt
worden seien.
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Die AS beantragt sinngemäß,
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den Beschluss des Sozialgerichts Detmold vom 24.03.2010 abzuändern und nach
ihrem erstinstanzlichen Antrag zu entscheiden.
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Die AG beantragt,
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die Beschwerde zurückzuweisen,
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und verweist darauf, dass der Widerspruch der Klägerin mit Widerspruchsbescheid vom
12.05.2010 zurückgewiesen worden ist.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte sowie der Verwaltungsvorgänge der AG Bezug genommen.
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II.
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Die form- und fristgerecht eingelegte und auch im Übrigen zulässige Beschwerde der
AS ist nicht begründet (§§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG)).
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Der Senat geht dabei zu Gunsten der AS, die zumindest gegenüber dem Senat
ausdrücklich von einer Stellungnahme u.a. zu dem Widerspruchsbescheid vom
12.05.2010 Abstand genommen hat, davon aus, dass sie fristgerecht Klage gegen
Widerspruchsbescheid erhoben hat. Ansonsten würde es bereits am
Rechtsschutzbedürfnis der AS an der begehrten Entscheidung fehlen. Auf dieser
Grundlage ist die Beschwerde jedenfalls unbegründet.
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Nach § 86a Abs. 2 SGG entfällt die sonst grundsätzlich eintretende aufschiebende
Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage (§ 86a Abs. 1 SGG) bei der
Entscheidung über Versicherungs-, Beitrags- und Umlagepflichten sowie der
Anforderung von Beiträgen, Umlagen und sonstigen öffentlichen Abgaben
einschließlich der darauf entfallenden Nebenkosten (§ 86a Abs. 2 Nr. 1 SGG) ebenso
wie bei den hier nicht in Betracht kommenden sonstigen in § 86a Abs. 2 SGG
abschließend aufgezählten Fällen. Dabei kann in den Fällen des § 86a Abs. 2 SGG die
Stelle, die den Verwaltungsakt erlassen oder die über den Widerspruch zu entscheiden
hat, die sofortige Vollziehung ganz oder teilweise aussetzen (§ 86a Abs. 3 S.1 SGG).
Auf Antrag kann (auch) das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung in den
Fällen, in denen Widerspruch und Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung
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haben, ganz oder teilweise anordnen (§ 86b Abs.1 Nr. 2 SGG).
Bei den Entscheidungen des Gerichts nach § 86b Abs. 1 SGG hat (wie auch bei den
entsprechenden Entscheidungen der Behörde nach § 86a Abs. 3 SGG, vgl. Keller in
Meyer/Ladewig-Keller SGG, 9. Auflage, 2008, § 86a Rdn. 26) eine Abwägung der
öffentlichen und privaten Interessen stattzufinden. Dabei steht eine Prüfung der
Erfolgsaussichten zunächst im Vordergrund. Auch wenn das Gesetz keine materiellen
Kriterien für die Entscheidung nennt, kann als Richtschnur für die Entscheidung davon
ausgegangen werden, dass das Gericht dann die aufschiebende Wirkung
wiederherstellt, wenn der angefochtene Verwaltungsakt offenbar rechtswidrig ist und der
Betroffene durch ihn in subjektiven Rechten verletzt wird. Am Vollzug eines
offensichtlich rechtswidrigen Verwaltungsaktes besteht kein öffentliches Interesse (LSG
NRW, Beschluss vom 23.08.2006 - L 10 B 11/06 KA ER - und Beschlüsse des Senats
vom 02.04.2009 - L 11 KA 2/09 ER - und vom 22.02.2010 - L 11 KR 4/10 B ER -; Düring
in Jansen, SGG, 3. Auflage, 2009, § 86b Rdn. 11). Sind die Erfolgsaussichten nicht
offensichtlich, müssen die für und gegen eine sofortige Vollziehung sprechenden
Gesichtspunkte gegeneinander abgewogen werden. Dabei ist die Regelung des § 86a
Abs. 3 Satz 2 SGG zu beachten, dass in den Fällen des § 86a Abs. 2 Nr. 1 SGG die
Vollziehung ausgesetzt werden soll, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des
angefochtenen Verwaltungsakts bestehen oder die Vollziehung für den Antragsteller
eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur
Folge hätte. Auch über diese ausdrückliche Regelung hinaus ist das aus den
Regelungen des § 86a SGG hervorgehende gesetzliche Regel-Ausnahmeverhältnis zu
beachten: In den Fallgruppen des § 86a Abs. 2 Nrn. 2 bis 4 SGG ist maßgebend zu
beachten, dass der Gesetzgeber einen grundsätzlichen Vorrang des
Vollziehungsinteresses angeordnet hat und es deshalb besonderer Umstände bedarf,
um eine davon abweichende Entscheidung zu rechtfertigen (BVerfG, Beschluss vom
10.10.2003 - 1 BvR 2025/03 - zu § 80 Abs. 2 Nrn. 1 bis 3 Verwaltungsgerichtsordnung).
In den Fällen des § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG haben Widerspruch und Klage hingegen
grundsätzlich aufschiebende Wirkung. Es ist ein öffentliches Vollzugsinteresse oder ein
überwiegendes Interesse eines Beteiligten erforderlich. Nur dann wird (ausnahmsweise)
die sofortige Vollziehung angeordnet. Das Gericht hat insbesondere zu berücksichtigen,
wie schwerwiegend die Beeinträchtigung durch die aufschiebende Wirkung gerade im
grundrechtsrelevanten Bereich ist. Bei Eingriffen in die Berufsfreiheit müssen die
Gründe für den Sofortvollzug in einem angemessenen Verhältnis zur Schwere des
Eingriffs stehen und ein Zuwarten bis zum rechtskräftigen Abschluss des
Hauptverfahrens ausschließen (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 28.08.2007 - 1 BvR
2157/07 - und vom 11.02.2005 - 1 BvR 276/05 -; BVerfG, NJW 2003 S. 3618, 3619; vgl.
auch Düring a.a.O.).
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Ausgehend hiervon kann der Antrag keinen Erfolg haben. Der Beitragsbescheid vom
29.10.2009 ist nicht offenkundig rechtswidrig; es bestehen keine ernstlichen Zweifel an
der Rechtmäßigkeit der Beitragserhebung. Der Senat nimmt zur Vermeidung von
Wiederholungen nach eigener Prüfung der Sach- und Rechtslage Bezug auf den
angefochtenen Beschluss des SG (§ 153 Abs. 2 SGG, § 142 Abs. 2 Satz 3 SGG) und
merkt ergänzend an:
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Das BSG hat in ständiger Rechtsprechung (z.B. Urteil vom 12.12.2007 - B 12 KR 2/07 R
-; Urteil vom 12.12.2007 - B 12 KR 6/06 R -; Urteil vom 25.04.2007 - B 12 KR 25/05 R -;
Urteil vom 25.04.2007 - B 12 KR 26/05 R -) ausgeführt, dass Leistungen aus
Direktversicherungen ihren Charakter als Versorgungsbezug nicht deshalb verlieren,
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weil sie zum Teil oder ganz auf Leistungen des Arbeitnehmers bzw. des
Bezugsberechtigten beruhen. Sie bleiben auch dann im vollen Umfang Leistungen der
betrieblichen Altersversorgung, wenn nach Beendigung der Erwerbstätigkeit die
Beiträge allein vom Beschäftigten als Versicherungsnehmer getragen werden. Bei der
Begründung der Beitragspflicht ist nicht auf den nachweisbaren Zusammenhang mit
dem früheren Erwerbsleben abzustellen, sondern typisierend anzuknüpfen. Das BSG
hält somit an einer "institutionellen Abgrenzung" fest, die sich allein daran orientiert, ob
die Rente von einer Einrichtung der betrieblichen Altersversorgung gezahlt wird. Diese
Abgrenzung vermeide auch die praktische Schwierigkeit, Zahlungen in einen
beitragsfreien und einen beitragspflichtigen Teil aufspalten zu müssen.
Die AS hat 1997 auch keinen neuen Versicherungsvertrag geschlossen. Mit der
Vertragsänderung wurde ausweislich des Versicherungsscheins vom 25.09.1997 der
Direktversicherungsvertrag auf die AS übertragen und wurde ausdrücklich vereinbart,
dass weiterhin die Vorschriften des Gesetzes zur Verbesserung der betrieblichen
Altersversorgung sowie einer ggf. bestehenden Betriebsvereinbarung gelten.
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Zur Frage, ob ein gemischt finanzierter Direktversicherungsvertrag, der betrieblich
begonnen und nach Ausscheiden aus dem Unternehmen vom Arbeitnehmer privat
weiter finanziert wurde, als betriebliche Altersversorgung anzusehen ist und eine
umfassende Beitragspflicht begründet, ist zwar beim BVerG unter dem Aktenzeichen 1
BvR 739/08 noch eine Verfassungsbeschwerde anhängig; dies allein reicht aber nicht
aus, ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Beitragsbescheides zu begründen
(vgl. auch Beschlüsse des Senats vom 22.02.2010 a.a.O. und vom 03.05.2010 - L 11 KR
139/10 B ER -).
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Die AS hat im Übrigen nicht glaubhaft gemacht, dass die Vollziehung für sie eine
unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hat.
Bestenfalls kommt für sie eine Reduzierung der Beitragspflicht unter Zugrundelegung
des nur durch Zahlungen des Arbeitsgebers begründeten Teils der
Versicherungssumme i.H.v. 157.882,50 EUR und damit derzeit eine Reduzierung des
zu zahlenden Versicherungsbeitrags auf 221,69 EUR (157.882,50 EUR: 120 x 16,85%)
in Betracht. Der damit letztlich in Streit stehende Betrag von 73,81 EUR ist bei
Einkünften der AS von 1.277,41 EUR (1.499,10 EUR - 221,69 EUR) noch als gering und
als nicht deren Existenz gefährdend anzusehen.
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Schließlich entspricht auch die Höhe der Beitragsforderung den gesetzlichen Vorgaben
(§ 229 Abs. 1 Satz 3 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch).
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Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung der §§ 193, 183
SGG.
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Der Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).
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