Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 31.01.2007

LSG NRW: arbeitslosenhilfe, vorbehalt des gesetzes, gesetzeslücke, rechtsgrundlage, rückforderung, rechtsnorm, grundrechtseingriff, erlass, gerichtsakte, wiederholung

Landessozialgericht NRW, L 12 AL 121/06
Datum:
31.01.2007
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
12. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 12 AL 121/06
Vorinstanz:
Sozialgericht Köln, S 24 AL 48/05
Nachinstanz:
Bundessozialgericht, B 11a AL 11/07 R
Sachgebiet:
Arbeitslosenversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Berufung der Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des
Sozialgerichts Köln vom 07.07.2006 wird zurückgewiesen. Die Beklagte
hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers im
Berufungsverfahren zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
1
Umstritten ist im Berufungsverfahren nur noch die Erstattung von
Krankenversicherungsbeiträgen in Höhe von 326,45 EUR und von
Pflegeversicherungsbeiträgen in Höhe von 39,93 EUR für die Zeit vom 01.05. -
30.09.2004, nachdem die Bewilligung von Arbeitslosenhilfe für diese Zeit rechtskräftig
aufgehoben worden ist. Streitig ist allein, ob es seit dem 01.01.2005 noch eine
Rechtsgrundlage für eine solche Forderung gibt.
2
Der im Jahr 1965 geborene Kläger ist Iraker und bezog zuletzt im Jahr 2004
Arbeitslosenhilfe. Mit Bescheid vom 17.11.2004, bestätigt durch Widerspruchsbescheid
vom 26.01.2005, hob die Beklagte die Bewilligung von Arbeitslosenhilfe für die Zeit vom
01.05. - 30.09.2004 auf. Sie führte aus, der Kläger habe in der genannten Zeit der
Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung gestanden und habe somit keinen Anspruch auf
Leistungen gehabt. Es wurden 2.348,55 EUR an Arbeitslosenhilfe zurückgefordert.
Darüberhinaus wurden Krankenversicherungsbeiträge in Höhe von 326,45 EUR und
Pflegeversicherungsbeiträge in Höhe von 39,93 EUR zurückgefordert.
3
Hiergegen hat der Kläger am 28.02.2005 Klage vor dem Sozialgericht Köln erhoben. Er
hat sich zunächst gegen die Aufhebung der Bewilligung von Arbeitslosenhilfe gewandt
und ausführlichen Sachvortrag dazu gemacht, dass er der Beklagten seine Ausreise
nach Jordanien wegen der plötzlichen schweren Erkrankung seines Vaters nicht
rechtzeitig habe anzeigen können.
4
Vor dem Sozialgericht hat der Kläger beantragt,
5
den Bescheid vom 17.11.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
26.01.2005 aufzuheben.
6
Die Beklagte hat beantragt,
7
die Klage abzuweisen.
8
Die Beklagte hat an ihrer im Verwaltungsverfahren vertretenen Rechtsauffassung
festgehalten.
9
Mit Gerichtsbescheid vom 07.07.2006 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen,
soweit die Aufhebung die Bewilligung von Arbeitslosenhilfe betroffen war.
10
Es hat zudem bestätigt, dass die Beklagte berechtigt war, den überzahlten Betrag in
Höhe von 2.348,55 EUR zurückzuverlangen. Weiterhin hat das Sozialgericht wörtlich
ausgeführt:
11
"Nicht berechtigt ist die Beklagte allerdings, die Kranken- und
Pflegeversicherungsbeiträge vom Kläger in Höhe von insgesamt 366,38 EUR zu
verlangen. Bei der vom Kläger erhobenen Klage handelt es sich um eine
Anfechtungsklage. Grundsätzlich maßgebend für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit
des Verwaltungsaktes ist damit die Sach- und Rechtslage bei Erlass des
Verwaltungsaktes bzw. des Widerspruchsbescheides, wenn ein solcher ergangen ist
(vgl. Meyer-Ladewig, Sozialgerichtsgesetz, 8. Auflage, § 54 RdNr. 32a). Nach § 335
SGB III in der ab 01.01.2005 geltenden Fassung hat ein Bezieher von Arbeitslosengeld
oder Unterhaltsgeld Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung zu erstatten, soweit
die Entscheidung über die Leistung rückwirkend aufgehoben und die Leistung
zurückgefordert worden ist. Durch das Hartz-IV-Gesetz vom 24.12.2003 wurde in Abs. 1
Satz 1 mit Wirkung ab 01.01.2005 das Wort "Arbeitslosenhilfe" gestrichen. Bis zum
31.12.2004 konnten auch bei der Aufhebung der Bewilligung und Rückforderung von
Arbeitslosenhilfe Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge zurückgefordert werden.
12
Nach Abs. 5 des § 335 gilt nämlich Abs. 1 des 335 SGB III für die
Pflegeversicherungsbeiträge entsprechend. In Folge der Streichung des Wortes
"Arbeitslosenhilfe" besteht ab dem 01.01.2005 keine Rechtsgrundlage für die
Rückforderung von Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträgen bei der Aufhebung der
Bewilligung von Arbeitslosenhilfe. Zwar ist davon auszugehen, dass es sich insoweit
um ein Versehen des Gesetzgebers handelt. Angesichts des klaren Wortlauts des § 335
SGB III besteht jedoch keine Rechtsgrundlage für den Erlass der belastenden
Entscheidung: Forderung der Erstattung von Kranken- und
Pflegeversicherungsbeiträgen."
13
Das Sozialgericht hat die Berufung für die Beklagte nach § 144 Sozialgerichtsgesetz
(SGG) wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Sache zugelassen.
14
Die Beklagte hat gegen den ihr am 12.07.2006 zugestellten Gerichtsbescheid am
11.08.2006 Berufung eingelegt, während der Kläger keine Berufung eingelegt hat. Die
Beklagte vertritt die Auffassung, dass die Entscheidung des Sozialgerichts dem Wortlaut
des Gesetzes nach vordergründig nicht zu beanstanden sei. Es sei jedoch von einer
planwidrigen Regelungslücke auszugehen. Es liege die Vermutung nahe, dass der
15
Gesetzgeber, der die Änderung des § 335 Abs. 1 Satz 1 SGB III ausweislich der
Begründung des Gesetzesentwurfs lediglich als redaktionelle Folgeänderung der
Aufhebung der Vorschriften über die Arbeitslosenhilfe aufgrund der Einführung der
Grundsicherung für Arbeitssuchende im SGB II angesehen habe. Fälle der vorliegenden
Art, in denen die Bewilligung von vor dem 01.01.2005 geleisteter Arbeitslosenhilfe
aufgehoben und die Leistung zurückgefordert werde, habe der Gesetzgeber schlicht und
ergreifend nicht bedacht. Die Beklagte vertritt die Auffassung, dass dann, wenn für die
Zeit ab 01.01.2005 keine Arbeitslosenhilfe mehr ausgezahlt werden kann, sich dann die
Aufhebung von Arbeitslosenhilfebewilligungen für Zeiten vor dem 01.01.2005 auch
nach dem für diese Zeiten geltenden Recht zu richten habe. Wegen der Einzelheiten der
Ausführungen der Beklagten wird auf den Schriftsatz vom 24.08.2006 Bezug
genommen.
Die Beklagte beantragt,
16
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts vom 07.07.2006 zu ändern und die Klage
insgesamt abzuweisen.
17
Der Kläger beantragt schriftsätzlich,
18
die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
19
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
20
Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte und der den Kläger betreffenden Verwaltungsakte der Beklagten mit dem
Aktenzeichen 000 Bezug genommen. Diese Akten waren Gegenstand der mündlichen
Verhandlung.
21
Entscheidungsgründe:
22
Die kraft Zulassung nach § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG eingelegte Berufung der Beklagten ist
zulässig. Der Senat ist nach § 144 Abs. 3 SGG an die Zulassung durch das
Sozialgericht gebunden.
23
Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Der Senat nimmt zunächst Bezug auf die für
zutreffend erachteten Ausführungen des Sozialgerichts und sieht von einer
Wiederholung gem. § 153 Abs. 2 SGG ab. Der Senat hat den Ausführungen des
Sozialgerichts nichts hinzuzufügen.
24
Das Berufungsvorbringen der Beklagten ist nicht geeignet, die angefochtene
Entscheidung als unrichtig erscheinen zu lassen. Nach Ansicht des Senats ist im
vorliegenden Fall keine erweiternde oder analoge Anwendung der Rechtsnorm möglich.
Der Beklagten ist einzuräumen, dass dadurch, dass es nach dem 01.01.2005 keine
Erstattungsforderung bzgl. Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträgen bei überzahlter
Arbeitslosenhilfe mehr gibt, eine planwidrige Gesetzeslücke entstanden ist. Damit
jedoch eine planwidrige Gesetzeslücke im Wege der Auslegung oder der Analogie
planvoll geschlossen werden kann, muss es sich um eine unbeabsichtigte oder
unbewusste Gesetzeslücke handeln.
25
Davon kann jedoch keine Rede sein. Der Gesetzgeber hat bei der Neufassung des §
26
335 Abs. 1 SGB III bewusst das Wort Arbeitslosenhilfe gestrichen und hat dies sogar
ausdrücklich als Folgeänderung der Aufhebung der Vorschriften über die
Arbeitslosenhilfe aufgrund der Einführung der Grundsicherung für Arbeitssuchende im
Zweiten Buch bezeichnet. Der Gesetzgeber wollte die Arbeitslosenhilfe aus § 335 Abs.
1 SGB III streichen und hat dies bewusst und begründet getan. Bei dieser Sachlage
kann keinesfalls durch Rechtsauslegung oder Analogiebildung die Rechtsnorm so
gelesen werden, als habe der Gesetzgeber die Änderungen nicht vorgenommen.
Aus dem in Art. 20 Grundgesetz (GG) normierten Rechtsstaatsprinzip folgt ein
allgemeiner Vorbehalt des Gesetzes bei staatlichen Eingriffen in grundrechtlich
geschützte Positionen des Betroffenen. Dass die frühere gesetzliche
Erstattungsforderung bzgl. der Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung bei
überzahlter Arbeitslosenhilfe einen Grundrechtseingriff mindestens in Art. 2 Abs. 2 GG
darstellt, bedarf keiner weiteren Ausführungen. Ein solcher Grundrechtseingriff muss als
Rechtfertigung eine klare und eindeutige gesetzliche Grundlage haben. Die schließt es
im vorliegenden Fall aus, die ausdrückliche Gesetzesänderung durch den Gesetzgeber
so zu behandeln, als wäre sie nicht erfolgt. Der Auffassung des Sozialgerichts, die sich
auf die zutreffend zitierte Kommentarstelle bei Niesel stützt, hat sich im Übrigen auch
das Landessozialgericht Baden-Würtemberg mit Urteil vom 15.12.2006 - L 12 AL
3427/06 angeschlossen. Auch der erkennende Senat schließt sich dieser Auffassung
an.
27
Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 183, 193 SGG.
28
Hierbei war zu berücksichtigen, dass nur die Beklagte Berufung eingelegt hat und mit
dieser Berufung im vollen Umfang keinen Erfolg hatte.
29
Der Senat hat die Revision zugelassen, da er der Sache mit dem Sozialgericht und mit
der Beklagten grundsätzliche Bedeutung beimisst. Es handelt sich nicht um eine
Entscheidung im Einzelfall, sondern es kann noch eine Vielzahl von Fällen auftreten, in
denen es um die Aufhebung von Arbeitslosenhilfe für Zeiten vor dem 01.01.2005 gehen
kann.
30