Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 04.03.2009

LSG NRW: eidesstattliche erklärung, eltern, unterhalt, altersrente, lebensmittel, anerkennung, herbst, wartezeit, verfügung, staatsangehörigkeit

Landessozialgericht NRW, L 8 R 31/08
Datum:
04.03.2009
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
8. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 8 R 31/08
Vorinstanz:
Sozialgericht Düsseldorf, S 11 (27) R 138/05
Sachgebiet:
Rentenversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts
Düsseldorf vom 10.12.2007 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche
Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision
wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
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Streitig ist der Anspruch auf Regelaltersrente unter Berücksichtigung von
Ghettobeitragszeiten von März 1941 bis März 1943.
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Der am 00.00.1929 in Lublin geborene jüdische Kläger hatte ursprünglich die polnische
Staatsangehörigkeit. Zu seinem Verfolgungsschicksal gab er im
Entschädigungsverfahren an, er sei von Anfang 1940 bis März 1943 im Judenviertel und
Ghetto Lublin gewesen. Danach habe er bis Sommer 1944 versteckt in den Wäldern von
Lublin gelebt. 1957 wanderte er von Breslau nach Israel aus. Dort erwarb er die
israelische Staatsangehörigkeit, die er bis heute besitzt.
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Im Entschädigungsverfahren legte der Kläger eine eidesstattliche Versicherung seiner
am 00.00.1895 geborenen und am 00.01.1981 verstorbenen Mutter U A vor, in der es
heißt:
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"Ich lebte zu Kriegsausbruch mit meiner Familie, Ehemann I und Sohn T in Lublin.
Gleich nach Besetzung der Stadt durch die Deutschen wurden antijüdische
Maßnahmen eingeführt, denen zur Folge ich und mein Ehemann wie auch unser Kind
den Judenstern anlegen und deutlich sichtbar tragen mussten. Wir verrichteten schwere
Zwangsarbeiten und auch mein kleiner Sohn wurde zu verschiedenen
Reinigungsarbeiten herangezogen. Im Frühling 1940 mussten wir in das Judenviertel in
Lublin einziehen und lebten dort unter primitivsten Verhältnissen. Im März 1941 wurde
ich mit Ehemann I und Sohn T in das streng isolierte Ghetto Lublin einziehen, welches
von der Umwelt total abgesperrt war. Ich war mit meiner Familie hier total meiner
Freiheit beraubt, wir arbeiteten viele Stunden am Tag bei ungenügender Nahrung,
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waren hungrig und dauernd krank. Wir wurden misshandelt und geschlagen und litten
furchtbar unter der Tag und Nacht dauernden Bewachung. Mein Ehemann I1 verstarb im
Herbst 1942 an den Folgen der Unterernährung und ungewohnten schweren Arbeit, mit
der damit verbundenen Misshandlung. Ich beschloss daraufhin mit meinem Sohn aus
dem Ghetto zu fliehen ..." Im März 1943 habe sich eine solche Gelegenheit gefunden,
und sie habe sich mit dem Kläger in den Wäldern von Lublin versteckt, wo sie im
Sommer 1944 befreit worden seien.
Gleichzeitig erklärte die Mutter des Klägers an Eides Statt, eine in der örtlichen
Tageszeitung aufgegebene Suchannonce nach Zeugen sei ohne Echo geblieben. Sie
beantrage daher für sich und ihren Sohn die Anerkennung von Beweisnot.
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Aufgrund seines Verfolgungsschicksals erhielt der Kläger eine Beihilfe wegen
Freiheitsentziehung vom 15.10.1941 bis März 1943 (Bescheid des
Regierungspräsidenten Köln v. 06.01.1970). Der Kläger war in Israel vom 01.10.1957
bis zum 01.07.1989 pflichtversichert bzw. angestellt und legte auf diese Weise 441
Monate in der israelischen Nationalversicherung zurück (Bescheinigung v. 27.09.2006).
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Im Rahmen seines Antrags auf Leistungen aus dem Art-2-Fonds erklärte der Kläger
gegenüber der Jewish Claims Conference (JCC): "Im März 1941 wurde ich und meine
Eltern in das streng isolierte Ghetto Lublin eingewiesen, welches von der Umwelt total
abgeschlossen war. Meine Eltern und ich waren hier total unserer Freiheit beraubt, wir
wurden Tag und Nacht bewacht. Ich litt an Unterernährung und Kälte, Nässe. Mein Vater
verstarb im Herbst 1942 an den Folgen der Unterernährung und ungewohnten schweren
Arbeit. Meine Mutter beschloss daraufhin mit mir aus dem Ghetto zu fliehen und im März
1943 fand sich eine solche Gelegenheit. Wir versteckten uns in den Wäldern von Lublin
"
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Am 13.11.2002 beantragte die Prozessbevollmächtigte des Klägers sinngemäß die
Gewährung einer Altersrente für den Kläger unter Berücksichtigung von Zeiten nach
dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto
(ZRBG). Im tabellarischen Versicherungsverlauf gab der Kläger an, er habe von März
1941 bis März 1943 im Ghetto Lublin verschiedene Arbeiten 60 Stunden wöchentlich
verrichtet. Die Spalte "Arbeitsverdienst" blieb unausgefüllt. Die Zugehörigkeit zum
deutschen Sprach- und Kulturkreis (dSK) verneinte der Kläger. Im Fragebogen für die
Anerkennung von Zeiten unter Berücksichtigung der Vorschriften des ZRBG gab er an,
er sein von März 1941 bis März 1943 im Ghetto Lublin innerhalb des Ghettos beschäftigt
gewesen. Er habe freiwillig durch eigene Bemühungen Reinigungsarbeiten im Umfang
von 8 bis 10 Stunden täglich verrichtet und hierfür vergrößerte Lebensmittelrationen und
Essen am Arbeitsplatz erhalten. Auf die Frage nach Barlohn antwortete er "nicht
erinnerlich".
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Die Beklagte zog die Entschädigungsakte des Klägers bei und wertete sie aus. Sodann
lehnte sie den Rentenantrag des Klägers mit der Begründung ab, dieser habe im Ghetto
Lublin weder aus eigenem Willensentschluss noch gegen Entgelt gearbeitet (Bescheid
v. 11.03.2004).
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Im Widerspruchsverfahren gab der Kläger eine eidesstattliche Erklärung mit folgendem
Wortlaut ab:
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"Als ich mit meinen Eltern in das Ghetto Lublin eingewiesen wurde, war ich 12 Jahre alt.
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Alle Habseligkeiten waren uns genommen worden und wir waren plötzlich mittellos.
Meine Eltern beantragten für sich und mich beim Arbeitsamt in Lublin eine Arbeit. Die
Not war sehr groß. Meine Eltern bekamen eine Arbeit bei der Reinigungskolonne
zugewiesen und da ich als Einzelkind keine Geschwister hatte, die tagsüber auf mich
aufpassen konnten, beantragte mein Vater auch für mich eine Arbeit bei der
Reinigungskolonne. Der Andrang auf dem Arbeitsamt war sehr groß, viele Menschen,
die plötzlich mittellos geworden waren, suchten Arbeit. Trotz der elenden Umstände war
es ein großes Glück, eine Arbeit zu ergattern, die mir und meinen Eltern eine
Mittagsration und zusätzliche Bezugsscheine für Lebensmittel oder auch Holz und Seife
sicherte. Mein Vater arbeitete am schwersten, um uns mit weiteren Coupons, so gut es
ging, zu versorgen. Er verhungerte im Herbst 1942. Fortan fehlten uns die
Bezugsscheine aus der Arbeit meines verstorbenen Vaters und meine Mutter sah
keinen anderen Ausweg aus dem Hungertod zu entkommen, als aus dem Ghetto zu
flüchten. Im Frühling 1943 flüchtete ich mit meiner Mutter aus dem Ghetto und lebte
fortan versteckt in den Wäldern."
Die Beklagte wertete die sog. KEOM-Liste aus und entnahm dieser, dass in Lublin vom
05.04.1941 bis 09.11.1942 ein Ghetto existiert habe. Zudem zog sie von der JCC die
Antragsunterlagen des Klägers beim Art-2-Fonds bei. Sodann wies sie den Widerspruch
des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 15.02.2005 zurück. Weder sei die
Eingliederung des Klägers in einen bestimmten Betrieb zu erkennen noch sei die
Gewährung von Lebensmitteln bzw. Lebensmittelgutscheinen zur Sicherung des bloßen
Überlebens als Entgelt im Sinne des Gesetzes anzusehen.
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Mit der am 10.03.2005 erhobenen Klage hat der Kläger vorgetragen, die Beklagte
verkenne Sinn und Zweck des ZRBG. Die von ihr gestellten Anforderungen an die
Erfüllung der gesetzlichen Tatbestandsmerkmale seien angesichts der
Mangelversorgung der jüdischen Bevölkerung im Generalgouvernement unerfüllbar.
Entscheidend sei, dass die arbeitenden Juden einen Anspruch auf Barentlohnung
gehabt hätten. Dabei sei es nicht abwegig anzunehmen, dass der dem Kläger
zustehende Barlohnanteil ohne seine Kenntnis direkt seinem Vater oder seiner Mutter
zugeflossen seien, zumal diese mit ihm zusammengearbeitet hätten.
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Der Kläger hat beantragt,
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die Beklagte unter Aufhebung des angefochtenen Bescheides vom 11.03.2004 in der
Fassung des Widerspruchsbescheides vom 15.02.2005 zu verurteilen,
Beschäftigungszeiten nach Maßgabe des ZRBG anzuerkennen und Regelaltersrente zu
gewähren.
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Die Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie hat den angegriffenen Bescheid verteidigt.
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Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil v. 10.12.2007). Auf die Entscheidungsgründe
wird Bezug genommen.
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Gegen das am 01.02.2008 zugestellte Urteil hat der Kläger am 12.02.2008 Berufung
erhoben. Zu Unrecht nehme das SG an, dass die Bewachung im Ghetto der
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Arbeitsaufnahme aus eigenem Willensentschluss entgegengestanden habe. Im Übrigen
werde die Gewährung von Vergünstigungen für die von ihm geleistete Arbeit schon
dadurch belegt, dass er das Ghetto überlebt habe.
Der Kläger beantragt wörtlich,
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das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 10.12.2007 aufzuheben und die Beklagte
zur Anerkennung einer Beitragszeit nach dem ZRBG von März 1941 bis März 1943 und
zur Zahlung einer Rente zu verurteilen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Sie hält das Urteil des SG für zutreffend.
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Eine weitere Anfrage des Senates beim JCC hat ergeben, dass der Kläger beim
Härtefonds nicht registriert ist, aufgrund der Angaben beim Art-2-Fonds jedoch auch
eine Entschädigung aus dem Zwangsarbeiterfonds erhalten hat.
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Die übrigen vom Senat gestellten Fragen (Schilderung des Verfolgungsschicksals, auch
durch die Mutter, weitere Zeugen, Fragebogen) sind unbeantwortet geblieben.
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Der Senat hat die den Kläger betreffende Verwaltungsakte der Beklagten sowie die Akte
seines Entschädigungsverfahrens nach dem BEG beigezogen und zum Gegenstand der
mündlichen Verhandlung gemacht.
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Entscheidungsgründe:
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Der Senat konnte gemäß der §§ 153 Abs. 1, 110 Abs. 1, 126 Sozialgerichtsgesetz
(SGG) in Abwesenheit des Klägers und seiner Prozessbevollmächtigten verhandeln
und entscheiden, weil dieser in der Terminsmitteilung, die ihm am 09.02.2009 gegen
Empfangsbekenntnis zugestellt worden ist, auf diese Möglichkeit hingewiesen worden
ist.
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Die zulässige Berufung ist unbegründet. Der schriftlich gestellte Antrag des Klägers ist
dahingehend auszulegen, dass er begehrt, das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf
vom 10.12.2007 zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom
11.03.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.02.2005 zu verurteilen,
ihm Regelaltersrente unter Berücksichtigung von Ghettobeitragszeiten von März 1941
bis März 1943 zu gewähren. Auch in dieser Fassung hat die Klage jedoch keinen Erfolg.
Der angefochtene Bescheid der Beklagten ist rechtmäßig und beschwert den Kläger
daher nicht im Sinne von § 54 Abs. 2 SGG. Der Kläger hat keinen Anspruch auf
Gewährung einer Regelaltersrente.
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Der Anspruch auf Regelaltersrente folgt aus § 35 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch
(SGB VI) in der bis zum 31.12.2007 geltenden Fassung (a.F.; vgl. § 300 Abs. 1 SGB VI
auch dann, wenn er auf Ghettobeitragszeiten gestützt wird. Die Bestimmungen des
ZRBG stellen demgegenüber keine eigenständige Anspruchsgrundlage für den
Anspruch auf Altersrente dar (BSG, Urteil v. 26.07.2007, B 13 R 28/06, SozR 4-5075 § 1
Nr. 4). Die Vorschriften des SGB VI sind trotz des Auslandswohnsitzes des Klägers (vgl.
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§ 30 Abs. 1 1. Buch Sozialgesetzbuch) anwendbar (vgl. dazu BSG, Urteil v. 14.07.1999,
B 13 RJ 75/98, Juris; BSG, Urteil v. 13.08.2001, B 13 RJ 59/00 R, SozR 3-2200 § 48 Nr.
17).
Nach § 35 SGB VI a.F. haben Versicherte Anspruch auf Altersrente, wenn sie das 65.
Lebensjahr vollendet und die allgemeine Wartezeit von fünf Jahren erfüllt haben. Als auf
die Wartezeit anrechenbare Versicherungszeiten kommen hier nur Beitrags- und
Ersatzzeiten im Sinne der §§ 50 Abs. 1 Nr. 1, 51 Abs. 1 und 4 SGB VI in Betracht. Dabei
finden nach § 250 Abs. 1 SGB VI Ersatzzeiten allerdings nur dann Berücksichtigung,
wenn vor Beginn der Rente zumindest ein Beitrag wirksam entrichtet worden ist, oder
als wirksam entrichtet gilt; denn Ersatzzeiten sollen nach dem Gesetzeswortlaut nur
"Versicherten", d.h. Personen zugute kommen, die bereits Beitragsleistungen erbracht
haben (BSG, Urteil vom 07.10.2004, B 13 RJ 59/03 R, SozR 4-5050 § 15 Nr. 1, m.w.N.).
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Der Kläger hat keine auf die Wartezeit anrechenbaren Beitragszeiten zurückgelegt.
Beitragszeiten sind Zeiten, für die nach Bundesrecht, oder den
Reichsversicherungsgesetzen Pflichtbeiträge oder freiwillige Beiträge gezahlt worden
sind (§§ 55 Abs. 1 Satz 1, 247 Abs. 3 Abs. 1 SGB VI), oder als gezahlt gelten (§ 55 Abs.
1 Satz 2 SGB VI). Beitragszeiten, die zur Zahlung einer Altersrente führen könnten,
bestehen hier indessen weder nach § 2 Abs. 1 ZRBG noch nach den Vorschriften des
Fremdrentenrechts.
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Nach § 2 Abs. 1 ZRBG gelten Beiträge als gezahlt für Zeiten der Beschäftigung von
Verfolgten in einem Ghetto. Voraussetzung ist gem. § 1 Abs. 1 Satz 1 ZRBG, dass die
Verfolgten sich zwangsweise in einem Ghetto aufgehalten haben, das in einem vom
Deutschen Reich besetzten oder ihm eingegliederten Gebiet gelegen hat, und dort eine
Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss gegen Entgelt ausgeübt haben. Ferner
darf für die betreffenden Zeiten nicht bereits eine Leistung aus einem System der
sozialen Sicherheit erbracht werden. Die Anspruchsvoraussetzungen müssen glaubhaft
gemacht werden (§ 1 Abs. 2 ZRBG i.V.m. § 3 Gesetz zur Regelung der
Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung
[WGSVG]). Glaubhaft gemacht ist eine Tatsache, wenn ihr Vorliegen nach dem
Ergebnis der Ermittlungen, die sich auf sämtliche verfügbare Beweismittel erstrecken
sollen, überwiegend wahrscheinlich ist, d.h. mehr für als gegen sie spricht, wobei
gewisse noch verbleibende Zweifel unschädlich sind (vgl. BSG, Beschluss vom
08.08.2001, B 9 V 23/01 B, SozR 3-3900 § 15 Nr. 4).
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Es kann dahingestellt bleiben, ob der Kläger und seine Mutter sich im
Anspruchszeitraum (März 1941 bis März 1943) im Ghetto Lublin aufgehalten haben.
Dagegen könnte sprechen, dass nach den frei verfügbaren historischen Quellen im April
1942 die im Ghetto Lublin inhaftierten Juden in das in einem südöstlichen Vorort
gelegene Majdan Tatarski in Sichtweite des Konzentrationslagers Majdanek überführt
worden sind (vgl. http://www.deathcamps.org/occupation/lublin%20ghetto.html) und
diese sicherlich einschneidende Entwicklung weder im Entschädigungs- noch im
Rentenverfahren Erwähnung gefunden hat. Letztlich kommt es darauf jedoch ebenso
wenig an wie auf die Frage, ob das als "Modellghetto" bezeichnete Ghetto Majdan
Tatarski noch ein Ghetto im Sinne des § 1 Abs. 1 ZRBG gewesen ist und ob dieses
nicht, wie den o.g. Quellen zu entnehmen ist, bereits am 09.11.1942 endgültig liquidiert
wurde. Schließlich kann dahingestellt bleiben, ob der Kläger - soweit er sich im Ghetto
Lublin aufgehalten hat - die von ihm behaupteten Reinigungsarbeiten aus eigenem
Willensentschluss ausgeübt hat und ob ihm dabei als Minderjährigem der
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Willensentschluss seiner Eltern zugerechnet werden kann.
Jedenfalls ist es nämlich nicht glaubhaft, dass der Kläger die behauptete Beschäftigung
gegen Entgelt (§ 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b) ZRBG) ausgeübt hat.
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Nach ständiger Rechtsprechung des Senates (vgl. zuletzt Urteil v. 14.01.2009, L 8 R
71/07, sozialgerichtsbarkeit.de; rkr.) ist als Entgelt in diesem Sinne nur ein die
Versicherungspflicht in der deutschen Rentenversicherung begründendes Entgelt
anzusehen (BSG, Urteil vom 07.10.2004, B 13 RJ 59/03 R, SozR 4-5050 § 15 Nr. 1).
Maßgebend sind dabei die Vorschriften der Reichsversicherungsordnung (RVO) in der
im Streitzeitraum geltenden Fassung (a.F.). Zum Entgelt gehörten dabei nach § 160
RVO a.F. neben Gehalt oder Lohn auch Gewinnanteile, Sach- und andere Bezüge, die
der Versicherte, wenn auch nur gewohnheitsmäßig, statt des Gehalts oder Lohnes oder
neben ihm von dem Arbeitgeber oder einem Dritten erhielt. Jedoch war eine
Beschäftigung, für die als Entgelt nur freier Unterhalt gewährt wurde, versicherungsfrei
(§ 1227 RVO a.F.; vgl. zum Folgenden außerdem BSG, Urteil vom 30.11.1983, 4 RJ
87/92; Mentzel/Schulz/Sitzler, Kommentar zum Versicherungsgesetz für Angestellte,
1913, § 7 Anm. 3; RVO mit Anmerkungen, herausgegeben von Mitgliedern des
Reichsversicherungsamtes, 1930, § 1227 RVO Anm. 1 ff.). Als freier Unterhalt i.S.v. §
1227 RVO a.F. ist dabei dasjenige Maß von wirtschaftlichen Gütern anzusehen, das zur
unmittelbaren Befriedigung der notwendigen Lebensbedürfnisse des Arbeitnehmers
erforderlich ist, nicht aber das, was darüber hinausgeht. Zum freien Unterhalt gehören
insbesondere Unterkunft, Beköstigung und Kleidung. Die betreffenden Sachbezüge
müssen nach Art und Maß zur Bestreitung des freien Unterhalts geeignet und bestimmt
sein. Das ist der Fall, wenn sie in geringem Umfang zur Befriedigung kleinerer
Bedürfnisse und Lebensgewohnheiten gewährt werden. Bei Gewährung von
Lebensmitteln ist daher zu prüfen, ob sie nach Umfang und Art des Bedarfs unmittelbar
zum Verbrauch oder Gebrauch gegeben werden (dann freier Unterhalt) oder aber zur
beliebigen Verfügung, wie es z.B. bei Deputaten der Fall ist. Die Grenze des freien
Unterhalts ist insbesondere dann überschritten, wenn die gewährte Menge erheblich
das Maß des persönlichen Bedarfs übersteigt. Das ist unter anderem dann
anzunehmen, wenn die gewährten Sachbezüge ausreichen, nicht nur den freien
Unterhalt des Beschäftigten selbst, sondern auch eines nicht bei demselben Arbeitgeber
beschäftigten Familienangehörigen sicherzustellen (vgl. VDR, Kommentar zur RVO, 5.
Aufl., 1954, § 1228 Rdnr. 5). Werden demgegenüber anstelle des freien Unterhalts auch
nur geringe Geldbeträge zur Bestreitung des notwendigen Unterhalts gegeben, so ist
dies keine freie Unterhaltsgewährung mehr. Geldleistungen stehen demnach der
Gewährung des freien Unterhalts nicht gleich, auch wenn sie den unbedingt zum
Lebensunterhalt erforderlichen Betrag nicht übersteigen und nicht einmal erreichen.
Allerdings geht die bisherige Rechtsprechung davon aus, dass das Entgelt eine
Mindesthöhe erreichen muss, damit man von einer entgeltlichen
versicherungspflichtigen Beschäftigung ausgehen kann. Bei Barzahlung neben freiem
Unterhalt reicht es aus, wenn das Entgelt die Grenze von einem Sechstel bis einem
Drittel Ortslohnes überschritt.
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Es ist nicht glaubhaft, dass der Kläger für seine Reinigungstätigkeiten eine diesen
Anforderungen genügende Gegenleistung erhalten hat. Er selbst hat hierzu im Detail
unterschiedliche Angaben gemacht. Im Fragebogen für die Anerkennung von Zeiten
unter Berücksichtigung der Vorschriften des ZRBG hat er angegeben, er habe
vergrößerte Lebensmittelrationen und Essen am Arbeitsplatz erhalten, also Leistungen
ausschließlich in Naturalien. Im Widerspruchsverfahren hat er demgegenüber von
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Bezugsscheinen gesprochen. Damit ist es jedenfalls nicht überwiegend wahrscheinlich,
dass ihm Bargeld gezahlt worden ist. Grundsätzlich besteht zwar die theoretische
Möglichkeit der Zahlung an die erziehungsberechtigten Eltern. Überwiegend
wahrscheinlich ist dies indessen nicht, zumal der Kläger sich an die gewährten
Lebensmittel erinnern kann, nicht jedoch an eine zusätzliche Geldleistung. Auch der
Erhalt von Lebensmittelcoupons ist nicht überwiegend wahrscheinlich, sondern nur
ebenso gut möglich wie der Erhalt von Naturalleistungen. Letztlich kommt es hierauf
indessen nicht an, weil - wie der Senat bereits rechtskräftig entschieden hat - die
Gewährung von Lebensmittelcoupons derjenigen von Lebensmitteln in Natur
gleichzustellen ist (Urteil v. 28.01.2008, L 8 RJ 139/04, sozialgerichtsbarkeit.de).
Hinsichtlich der dem Kläger letztlich ausgehändigten und damit zur Verfügung
stehenden Lebensmittel bestehen keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass diese das Maß
freien Unterhalts überschritten haben könnten. Im Gegenteil hat der Kläger glaubhaft
dargelegt, dass sein Vater der Haupternährer gewesen ist und dass er nach dessen Tod
mit seiner Mutter aus dem Ghetto fliehen musste, um nicht zu verhungern. Damit ist es
sogar überwiegend wahrscheinlich, dass die ihm trotz Arbeitsleistung zur Verfügung
stehenden Lebensmittel nicht einmal ansatzweise ausgereicht haben, seinen eigenen
persönlichen Bedarf zu decken.
Die von dem Kläger gegebenenfalls im Ghetto Lublin verrichtete Arbeit kann auch nicht
nach den Vorschriften der Reichsversicherungsordnung (RVO) bzw. §§ 15, 16
Fremdrentengesetz (FRG) i.V.m. § 20 WGSVG bzw. §17 a FRG oder § 12 WGSVG als
Versicherungszeit angerechnet werden. Die Arbeit des Klägers in Lublin unterfiel nicht
den Reichsversicherungsgesetzen, da diese im Generalgouvernement nicht für
Personen galten, die - wie der Kläger - nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besaßen
(vgl. BSG, Urteil vom 23.08.2001, B 13 RJ 59/00 R). Eine Anrechnung als Beitragszeit
nach dem Fremdrentengesetz (FRG) und dem WGSVG kommt schon deshalb nicht in
Betracht, weil der Kläger nach eigenen Angaben, an deren Richtigkeit nicht zu zweifeln
ist, zu keinem Zeitpunkt dem dSK angehörte (vgl. §§ 17 a FRG, 20 WGSVG).
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Gründe, die Revision zuzulassen,
bestehen nicht, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
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