Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 27.08.2004

LSG NRW: aufschiebende wirkung, rechtskräftiges urteil, beitragssatz, krankenkasse, vollstreckung, rückabwicklung, wahlrecht, aussetzung, unverzüglich, mitgliedschaft

Landessozialgericht NRW, L 16 B 131/04 KR ER
Datum:
27.08.2004
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
16. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
L 16 B 131/04 KR ER
Vorinstanz:
Sozialgericht Köln, S 26 KR 656/04 ER
Sachgebiet:
Krankenversicherung
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Die Vollstreckung aus dem Beschluss des Sozialgerichts Köln vom
10.08.2004 - Az. S 26 KR 656/04 ER - wird bis zur Erledigung des
Rechtsstreits über den einstweiligen Rechtsschutz in der
Beschwerdeinstanz ausgesetzt. Die Beschwerdeführerin trägt die
außergerichtlichen Kosten der Beschwerdegegnerin für das Verfahren
der Vollstreckungsaussetzung.
Gründe:
1
I.
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Die Antragstellerin begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Ausstellung
einer Kündigungsbestätigung. D. Ast. war seit dem 01.04.2003 Mitglied bei der Taunus
BKK (T-BKK). Der allgemeine Beitragssatz betrug 12,8 %. Zum 01.04.2004 fusionierte
diese Kasse mit der BKK Braunschweig (BKK B). Daraus ging die Antragsgegnerin (d.
Ag.) hervor. Ihr Beitragssatz beträgt seitdem 13,8 %. D. Ast. kündigte daraufhin mit
Schreiben vom 29.04.2004 die Mitgliedschaft bei d. Ag. zum 30.06.2004. Das wies d.
Ag. zurück (Bescheid vom 11.05.2004; Widerspruchsbescheid vom 12.07.2004), da
durch die Fusion eine neue Krankenkasse mit einem neuen Beitragssatz entstanden
sei. Ein Sonderkündigungsrecht ergebe sich nicht. D. Ast. hat deshalb Klage zum
Sozialgericht (SG) Köln erhoben und zudem begehrt, d. Ag. im Wege einer
einstweiligen Anordnung zu verpflichten, d. Ast. unverzüglich eine
Kündigungsbestätigung auszustellen. Das SG hat d. Ag. antragsgemäß verpflichtet
(Beschluss vom 10.08.2004). Mit ihrer Beschwerde trägt d. Ag. vor, entgegen der
Ansicht des SG Köln fehle es an einem Anordnungsanspruch und am
Anordnungsgrund. Zudem mangele es an der verfassungsrechtlich gebotenen
Interessenabwägung. Das SG hat der Beschwerde nicht abgeholfen.
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D. Ag. und Beschwerdeführerin beantragt, die angefochtene Entscheidung aufzuheben
und den Vollzug der angefochtenen Entscheidung einstweilen auszusetzen. Einem vom
Senat angeregten Vergleichsvorschlag ist sie nicht gefolgt.
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D. Ast. und Beschwerdegegner beantragt sinngemäß,
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die Beschwerde zurückzuweisen.
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D. Ast. hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Sie will zur BKK Anker-
Lynen-Prym (Beitragssatz 12,6 %) wechseln.
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Wegen der Einzelheiten wird auf den Inhalt der Akten und der von den Beteiligten
gewechselten Schriftsätze verwiesen.
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II.
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Der Aussetzungsantrag der Ag. und Beschwerdeführerin ist zulässig und nunmehr
begründet. Nach § 199 Abs. 2 Satz 1 SGG kann, wenn ein Rechtsmittel keine
aufschiebende Wirkung hat, der Vorsitzende des Gerichts, das über das Rechtsmittel zu
entscheiden hat, die Vollstreckung durch einstweilige Anordnung aussetzen. Gemäß
Satz 2 kann er die Aussetzung und Vollstreckung von einer Sicherheitsleistung
abhängig machen; die §§ 108, 109 und 113 der Zivilprozessordnung (ZPO) gelten
entsprechend.
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Der Aussetzungsantrag ist statthaft. Die Beschwerde d. Ag. hat keine aufschiebende
Wirkung. Sie hat sich allerdings nicht schon durch Zeitablauf (30.06.2004) erledigt.
Denn das SG hat d. Ag. verpflichtet, unverzüglich eine Kündigungsbestätigung
(jedenfalls mit Wirkung für die Zukunft) auszustellen. Ferner liegt mit dem Beschluss des
SG eine gerichtliche Entscheidung im Sinne des § 199 Abs 1 Nr. 2 SGG vor.
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Berufen ist zur Entscheidung der Vorsitzende des Gerichts (vgl. insoweit auch BSG
SozR 3 - 1500 § 199 SGG Nr 1, S. 1 ff., 10, m.w.N.; Meyer-Ladewig, 7. Aufl., § 199, Rdnr.
7 a; Zeihe, SGG, § 199 Rdnr. 10 a; derselbe, Die Sozialgerichtsbarkeit 1994, S. 505 ff.,
jeweils m. w. N.).
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Die Entscheidung hat nach pflichtgemäßen Ermessen zu erfolgen, wobei außer den
betroffenen Interessen der Beteiligten und den Nachteilen, die bei einer Vollstreckung
für die Beschwerdeführerin, das öffentliche Interesse oder Dritte entstehen würden, auch
die Erfolgsaussichten des Rechtsmittels zu berücksichtigen sind (vgl. BSG, USK 91155;
Meyer-Ladewig, a.a.O., Rdnr. 8; Zeihe, a.a.O., Rdnr. 9, jeweils m. w. N.).
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Der Senat geht mit dem SG Köln davon aus, dass d. Ast. ein Sonderkündigungsrecht
zustehen dürfte, obgleich diese Frage höchstrichterlich noch nicht entschieden ist
(Senatsbeschluss vom 24.05.2004, L 16 B 15/04 KR ER; Übereinstimmung mit dem
rechtskräftigen Beschluss des LSG NRW/2. Senat vom 08.07.2004 - L 2 B 16 /04 KR ER
-; mit dem LSG Sachsen-Anhalt, rechtskräftiges Urteil vom 16.12.2003 - L 4 KR 33/00 in
ErsK 2004, 51; vgl. auch Urteil des SG Düsseldorf vom 12.09.2003 - S 8 KR 60/03,
rechtskräftig nach Rücknahme der Berufung im Verfahren LSG NRW L 16 KR 305/03;
siehe weiter SG Nordhausen, Beschluss vom 13.05.2004 - S 6 KR 761/04 ER; SG
Stuttgart, Urteil vom 28.10.2003, S 4 KR 5695/03).
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Für die Ermessensentscheidung, ob eine Aussetzung der Vollstreckung vorgenommen
werden kann, ist im vorliegenden Falle allerdings ausschlaggebend, dass durch die
Erklärung der Beschwerdeführerin vom 24.08.2004 der Anordnungsgrund inzwischen
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entfallen ist. Die Erklärung lautet: "Im Falle des rechtskräftigen Obsiegens des
Antragstellers/Klägers in der Hauptsache erstattet die T-BKK dem Antragsteller/Kläger
unaufgefordert die Beitragsdifferenz bis zum Ablauf der gesetzlichen Bindungsfrist,
soweit der Beitragssatz der in Ausübung des Wahlrechts und des
Sonderkündigungsrechts fristwahrend gewählten Krankenkasse unter dem Beitragssatz
der T-BKK liegt und der Antragsteller/Kläger auf eine Rückabwicklung verzichtet."
Mit dieser Erklärung ist der bei Erlass des sozialgerichtlichen Beschlusses noch
bestehende Anordnungsgrund d. Ast. - jedenfalls bei summarischer Prüfung der
Streitsache und verständiger Auslegung der Erklärung - entfallen. Die Erklärung wurde
d. Ast. mit Schreiben des Gerichts vom 16.07.2004 übersandt.
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Das vom Gesetzgeber im Rahmen des Sonderkündigungsrechts nach § 175 Abs 4 Satz
5 Sozialgesetzbuch 5. Buch (SGB V) allein als maßgeblich für die Ausübung dieses
Rechts angesehene Kriterium der Beitragssatzerhöhung spricht dafür, dass der
Gesetzgeber nur die Erhöhung der Beitragssätze als hinreichenden Grund für ein
Sonderkündigungsrecht angesehen hat; insoweit ist nur dieses Interesse der
Versicherten im Rahmen einer vorläufigen Regelung des einstweiligen Rechtsschutzes
maßgebend. Soweit demgegenüber mit dem zweiten GKV- Neuordnungsgesetz (Gesetz
vom 23.06.1997, BGBl. I S. 1520) ein Sonderkündigungsrecht auch dann eingeräumt
wurde, wenn die Krankenkasse Leistungen, über deren Art und Umfang sie entscheiden
kann, verändert, wurde dieses Recht durch Art. 1 Nr 22 a des GKV-
Solidaritätsstärkungsgesetzes (Gesetz vom 19.12.1998, BGBl. I S. 3853) wieder
aufgehoben, so dass an dieses Interesse nicht anzuknüpfen ist.
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Die Erklärung vom 24.08.2004 stellt d. Ast. aber von den Risiken frei, zu hohe Beiträge
bei Bestehen eines Sonderkündigungsrechts zu tragen, weil d. Ag. sich mit der
Erklärung unwiderruflich verpflichtet hat, für den Fall des rechtskräftigen Obsiegens d.
Ast. die relevante Beitragsdifferenz zu erstatten. Soweit d. Ag. ihre Verpflichtung von
einem fristwahrend ausgeübten Wahlrecht zu einer neuen Krankenkasse und dem
Verzicht auf die Rückabwicklung des Versicherungsverhältnisses (für die weitere Dauer
des Verbleibs bei d. Ag. - bis zum Ablauf der achtzehnmonatigen ordentlichen
Bindungsfrist des § 175 Abs. 4 S. 1 SGB V, hier 30.09.2004; was von d. Ag. ganz
offensichtlich nicht mehr in Frage gestellt wird -) abhängig macht, ist dies dahin zu
verstehen, dass d. Ag. selbstverständlich und nachvollziehbar verlangt, dass d. Ast.
eindeutig erklärt (hat), zu welcher Kasse ein Wechsel beabsichtigt ist und deren
Beitragssatz unter dem der Ag. liegt (13,8 %) - denn nur dann kommt ein finanzieller
Ausgleich in Betracht. Dem steht nicht entgegen, dass d. Ast. das Wahlrecht bislang
nicht hat ausüben können. Darauf kann sich die Ag. angesichts ihres grob irreführenden,
an Sittenwidrigkeit grenzenden Informationsverhaltens (vgl. dazu den Beschluss des 2.
Senats des LSG NRW vom 08.07.2004, L 2 B 16/04 KR ER) und der nach Auffassung
des Senats rechtswidrigen Weigerung, eine Bescheinigung über die Sonderkündigung
auszustellen, - auch für die Zukunft - nicht berufen; denn auch bei Ablauf der
Wechselfristen wird d. Ast., der rechtswidrig eine Kündigungsbestätigung durch einen
Leistungsträger versagt worden ist, ein Zugangsrecht zur kostengünstigeren Kasse mit
entsprechender Fristverlängerung zustehen (Grundsätze des sozialrechtlichen
Herstellungsanspruchs). Dass darüber hinaus eine (weitere) Rückabwicklung des
Versicherungsverhältnisses (bis zum Zeitpunkt des ohnehin möglichen Wechsels zum
30.09.2004/Ablauf der 18-Monatsfrist des § 175 Abs. 4 S. 1) nicht in Betracht kommt,
erscheint angesichts des vom Gesetzgeber als allein maßgeblich herausgestellten
finanziellen Kündigungsinteresses der Versicherten ebenfalls selbstverständlich. Damit
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fehlt es aber nunmehr an einem hinreichenden Interesse d. Ast., aus dem von der
Beschwerdeführerin angegriffenen Beschluss des SG Köln zu vollstrecken, zumal es
Sache d. Ast. ist, die von d. Ag. gewünschten Erklärungen herbeizuführen, soweit sie
nicht schon vorliegen.
Zur Klarstellung ist darauf hinzuweisen, dass - entsprechend der Auffassung des SG -
bis zur Abgabe der Verpflichtungserklärung vom 10.07.2004 durch d. Ag. ein
Anordnungsgrund zugunsten d. Ast. bestand. Denn ohne die Verpflichtung d. Ag. zur
Abgabe einer Kündigungsbestätigung drohte d. Ast. ein unwiederbringlicher
Rechtsverlust: es ist keine Rechtsgrundlage erkennbar, aufgrund derer d. Ast. einen
Anspruch auf Rückzahlung von Beitragsteilen (nämlich der Differenz zwischen dem -
höheren - Beitrag der Ag. und dem - niedrigeren - Beitrag einer konkurrierenden
Krankenkasse, die von d. Ast. als künftige Leistungsträgerin in Aussicht genommen
wird/wurde) verwirklichen könnte. Ein solcher Anspruch ist gesetzlich nicht normiert.
Über den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch lässt sich - entgegen der Auffassung
d. Ag. - kein derartiges Zahlungsbegehren begründen, weil über den sozialrechtlichen
Herstellungsanspruch nur von der Rechtsordnung vorgesehene Rechtsfolgen
(nachträglich) verwirklicht werden können (wie etwa ein verzögerter Beitritt zu der
neuen, kostengünstigeren Kasse). Ohne tatsächliche Aufnahme in eine neue Kasse und
ohne den entsprechenden Nachweis wird die Kündigung zur bisherigen Krankenkasse
nicht wirksam (§ 175 Abs. 4 S. 4 SGB V); dies hätte zur Folge, dass d. Ag. der von ihr
festgesetzte Krankenkassenbeitrag in voller Höhe zustehen würde. Ein denkbarer
sozialrechtlicher Schadensersatzanspruch erscheint zweifelhaft; er hat sich bislang in
Rechtsprechung und Literatur nicht durchgesetzt. Aus § 26 SGB IV (Erstattung zu
Unrecht geleisteter Beiträge) wird man einen Anspruch ebenfalls nicht eindeutig und
zweifelsfrei herleiten können: denn mangels Aufnahme in eine neue Kasse besteht die
Mitgliedschaft bei d. Ag. weiter fort; Beiträge sind dann zu Recht entrichtet. Schließlich
wird man d. Ast. nicht auf Amtshaftungsansprüche im Sinne von § 839 BGB verweisen
können, weil diese Ansprüche zum einen voraussetzen, dass ein Anspruchsteller
versuchen muss, seine berechtigten Interessen zunächst vor den Fachgerichten
durchzusetzen, und weil zum anderen angesichts der aufgezeigten
Rechtsunsicherheiten völlig unklar ist, ob d. Ast. der erforderliche Nachweis gelingt, d.
Ag. habe ihre Pflichten schuldhaft verletzt. Angesichts dieser Überlegungen wird wohl
nicht daran festgehalten werden können, dass ein Anordnungsgrund (Abwendung
wesentlicher Nachteile durch die begehrte Regelungsanordnung) schon deshalb nicht
vorliegt, weil ein Sonderkündigungsrecht noch nicht höchstrichterlich (d.h. offensichtlich)
bestätigt worden ist. Auch ist von Bedeutung, dass d. Ag. mit der Versagung einer
Kündigungsbestätigung d. Ast. gerade hindert, das Recht auszuüben, eine neue Kasse
zu wählen. Auch dürfte angesichts der drohenden endgültigen Rechtsvernichtung
zurücktreten müssen, dass das finanzielle Interesse d. Ast. (0,65 % der Beitragsdifferenz
für relativ wenige Monate) eher überschaubar erscheint. Insofern wird der Senat an
seiner bisher geäußerten Rechtsauffassung (vgl. Beschluss vom 24.05.2004, L 16 B
15/04 KR ER) kaum festhalten können, selbst wenn diese Auffassung bislang von einer
Vielzahl anderer Sozialgerichte bundesweit geteilt wird (vgl. nur etwa LSG Berlin,
Beschluss vom 24.06.2004, L 15 B 51/04 KR ER; LSG Thüringen, Beschluss vom
02.07.2004, L 6 KR 526/04 ER; SG Reutlingen, Beschluss vom 12.07.2004, S 3 KR
2053/04 ER sowie die mehr als 150 weiteren, von d. Ag. inzwischen benannten
Gerichtsbeschlüsse). Insoweit ist auch von Bedeutung, dass angesichts der drohenden
Rechtsvernichtung nicht mehr weiter darauf abgestellt werden kann (wie noch im
früheren Beschluss des Senats vom 24.05.2004), dass der Beitragsnachteil für die
betroffenen, wechselwilligen Versicherten überschaubar erscheint, zum Teil auch nur für
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ganz kurze Zeit besteht, wenn nämlich die Bindungsfrist des § 175 Abs. 4 SGB V kurz
vor dem Ablauf steht. Denn auch ein noch so geringfügiger Rechtsverlust braucht nicht
hingenommen zu werden.
Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 193 SGG (vgl. zur gesonderten
Kostenentscheidung u.a. BSG SozR 3-1500, § 199 SGG Nr. 1, S. 12) und trägt dem
Gedanken Rechnung, dass d. Ag. Veranlassung zum Rechtsstreit gegeben hat, die
dargestellten Unklarheiten der materiellen Rechtslage nicht zu Lasten der Versicherten
gehen können und das vom SG zutreffend bejahte Vollstreckungsinteresse d. Ast. erst
im Verlaufe des Beschwerdeverfahrens durch die o.a. Erklärung d. Ag. entfallen ist.
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