Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 19.03.2007

LSG NRW: universität, wohnheim, verordnung, gesellschaft, hochschulstudium, pflegebedürftigkeit, hochschule, wohnung, unterbringung, sozialhilfe

Landessozialgericht NRW, L 20 B 133/06 SO ER
Datum:
19.03.2007
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
20. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
L 20 B 133/06 SO ER
Vorinstanz:
Sozialgericht Duisburg, S 32 SO 53/06 ER
Sachgebiet:
Sozialhilfe
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des
Sozialgerichts Duisburg vom 11.10.2006 wird mit der Maßgabe
zurückgewiesen, dass vorläufige Leistungen ab dem 11.10.2006 bis
zunächst zum 31.03.2007 zu erbringen sind. Im Übrigen wird die
Beschwerde zurückgewiesen. Die Antragsgegnerin trägt die
erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin in
beiden Rechtszügen.
Gründe:
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Die zulässige Beschwerde der Antragsgegnerin vom 02.11.2006, der das Sozialgericht
nicht abgeholfen hat (Nichtabhilfebeschluss vom 03.11.2006), ist lediglich im aus dem
Tenor ersichtlichen Umfang hinsichtlich der Dauer der ausgesprochenen Verpflichtung
zur vorläufigen Leistungserbringung begründet. Im Übrigen wird sie zurückgewiesen.
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Das Sozialgericht hat die Antragsgegnerin zu Recht im Wege der einstweiligen
(Regelungs-) Anordnung gemäß § 86 b Abs. 2 S. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG)
verpflichtet, vorläufig die Kosten für die Unterbringung der Antragstellerin im Wohnheim
für körperbehinderte Studenten des Studentenwerkes Niederbayern/Oberpfalz in S ab
dem 11.10.2006 zu übernehmen. Denn die auch im einstweiligen
Rechtsschutzverfahren erforderliche Interssenabwägung (vgl. BVerfG, Beschluss vom
12.05.2005, 1 BvR 569/05, NvWZ 2005, 927) geht zugunsten des Antragstellers aus.
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Der Senat teilt nicht die mit der Beschwerdebegründung vertretene Auffassung der
Antragsgegnerin, dass der Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes wegen
offensichtlicher Unbegründetheit der Forderung auf Hilfe in einer stationären Einrichtung
hätte zurückgewiesen werden müssen. Die reklamierte offensichtliche Unbegründetheit
ergibt sich insbesondere nicht aus der auf Veranlassung der Antragsgegnerin durch das
M-Heim in S im Zeitraum vom 14. bis zum 22.10.2006 erstellten Pflegedokumentation.
Vielmehr sind die Erfolgsaussichten der Antragstellerin in einem Hauptsacheverfahren
gerade unter Berücksichtigung dieser Pflegedokumentation und der vom Senat vom
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Pflegedienst des M-Heimes angeforderten und mit Schreiben vom 08.03.2007
übersandten Unterlagen zur Ermittlung des Hilfebedarfs von Menschen mit Behinderung
(HBM-Unterlagen) zumindest als offen zu qualifizieren. Als Anspruchsgrundlage für die
begehrten Leistungen zum Besuch einer Hochschule ist § 54 Abs. 1 Nr. 2
Sozialgesetzbuch 12. Buch (SGB XII) i.V.m. § 13 der Verordnung nach § 60 des SGB XII
(Eingliederungshilfe-Verordnung [EinglVO]) heranzuziehen.
Der dem Hilfesuchenden zustehende Anspruch ist dabei unter Berücksichtigung der
Grundsatzbestimmung für die Eingliederungshilfe in § 53 SGB XII, der wiederum im
Kontext zum Grundgesetz sowie zum SGB I und SGB IX zu betrachten ist (vgl.
Wahrendorf in Grube/Wahrendorf, SGB XII, § 53 SGB XII RdNr. 3), zu konkretisieren.
Das SGB IX dient insoweit als Auslegungsmaßstab für das SGB XII, soweit dessen
Strukturprinzipien nicht entgegenstehen.
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Zweck der Eingliederungshilfe ist es, behinderte Menschen in die Gesellschaft
einzugliedern, d.h. ihnen ein selbstbestimmtes Leben innerhalb der Gesellschaft zu
ermöglichen (vgl. Wahrendorf in Grube/Wahrendorf, a.a.O., RdNr. 22).
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In Bezug auf ein Hochschulstudium ist es nicht Aufgabe der Eingliederungshilfe, den
Lebensunterhalt zur Durchführung eines Studiums sicherzustellen (Wahrendorf in
Grube/Wahrendorf, a.a.O., § 54 RdNr. 23; ebenso Baur, Jahn, SGB XII, § 54 RdNr. 101).
Die Eingliederungshilfe zielt insoweit nicht auf eine Finanzierung des Studiums ab.
Eingliederungshilfe zur Ausbildung an einer Hochschule soll vielmehr allein
behinderungsbedingte Hindernisse und Erschwernisse ausräumen, die der Aufnahme
und der Durchführung des Studiums entgegenstehen (vgl. BVerwG, Urteil vom
19.10.1995, 5 C 28/95, zu den Vorgängernormen der §§ 40,41 Bundessozialhilfegesetz
[BSHG] OVG NRW, Urteil vom 24.11.1992, FEVS 43, 341).
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Die Antragstellerin begehrt die Eingliederungshilfe ersichtlich nicht zur Sicherung ihres
Lebensunterhalts. Vielmehr verweist sie darauf, dass sie als Rollstuhlfahrerin mit einem
Grad der Behinderung von 100 und der daraus resultierenden Hilfebedürftigkeit auf eine
behindertengerechte und barrierefreie Wohnung und eine jederzeitige Betreuung zur
Sicherung in der Pflege angewiesen ist.
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Der Senat verkennt insoweit nicht, dass hinsichtlich des konkreten Umfangs der Hilfe-
bzw. Pflegebedürftigkeit auch unter Berücksichtigung der beigezogenen
Verwaltungsakten der zuständigen Pflegekasse ggf. in einem Hauptsacheverfahren
weiterer Ermittlungsbedarf bestehen könnte. Denn insoweit liegen unverkennbar
Widersprüche etwa hinsichtlich der Notwendigkeit der Assistenz bei der Körperpflege
und der Toilettenbenutzung (Transfer und nächtlicher Grundpflegebedarf) zwischen dem
letzten verfügbaren Gutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit des
Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) vom 12.02.2004 und dem
(aktuelleren) Gutachten zur Ermittlung der Hilfebedürftigkeit nach dem Metzler-Verfahren
vom 28.06.2006 vor. Eine abschließende Überprüfung kann im vorliegenden Verfahren
des einstweiligen Rechtsschutzes nicht erfolgen.
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Zunächst dürften allerdings keine Zweifel daran bestehen, dass die Antragstellerin auf
eine behindertengerechte Wohnung in räumlicher Nähe zur Universität angewiesen ist.
Im Übrigen ist der Pflegedokumentation für den Zeitraum 14.10. bis 22.10.2006 zu
entnehmen, dass in diesem Zeitraum zahlreiche Hilfestellungen insbesondere beim An-
und Auskleidens sowie der Körperhygiene erforderlich waren. Darüber hinaus war zu
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unregelmäßigen Zeiten Hilfe bei der Toilettenbenutzung sicherzustellen. Zu den
Besonderheiten im Zusammenhang mit dem Studium der Antragstellerin gehört es, dass
letztere regelmäßig auch durch Personal des M-Heimes zu wechselnden Zeiten in der
Universität sichergestellt wurde. Da aktuellere medizinische Unterlagen und
insbesondere Pflegedokumentationen nicht vorliegen, hält der Senat es einstweilen für
gerechtfertigt, auf die vorliegende Pflegedokumentation im Rahmen der gebotenen
summarischen Prüfung abzustellen.
Für die streitentscheidende Frage, ob unter Berücksichtigung des Vorranggrundsatzes
aus § 13 Abs. 1 Satz 3 SGB XII einstweilen Leistungen in der stationären Einrichtung
des M-Heimes zuzusprechen sind, gewinnt die vorliegende Pflegedokumentation
insoweit Bedeutung, als sie wegen der Unregelmäßigkeit einzelner Hilfestellungen eine
Planbarkeit zur Sicherstellung ambulanter Betreuung in Frage stellt. Bereits das
Sozialgericht hat die Notwendigkeit stationärer Hilfe daraus abgeleitet, dass die
Antragstellerin, was zwischen den Beteiligten auch nicht streitig sein dürfte, Hilfe
insbesondere bei der Blasen- und Darmentlehrung benötigt. Insoweit aber allein auf den
in der Tat fraglichen Hilfebedarf zur Nachtzeit abzustellen, erschiene nur dann
gerechtfertigt, wenn die Hilfe zur Tageszeit und insbesondere auch während des
Besuchs der Universität durch eine ambulante Versorgung konstengünstiger
sicherzustellen wäre und nächtlicher Hilfebedarf auszuschließen wäre. Aufgrund
insbesondere der durch die Pflegedienstleitung des M-Heimes vorgelegten Unterlagen
ist aber ein unregelmäßiger Hilfebedarf zumindest auch bei der Toilettenbenutzung
wahrscheinlich. Insoweit verweist der Senat auch auf die im Gutachten des MDK vom
12.02.2004 aufgeführte Stressinkontinenz. Dieses Gutachten vermag die von der
Pflegedienstleistung getroffenen Feststellungen weitgehend zu stützen.
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Bei dieser Sachlage hält der Senat es nach Abwägung der Folgen der Gewährung
einstweiligen Rechtsschutzes für die Antragsgegnerin und derjenigen bei Versagen
einstweiligen Rechtsschutzes für die Antragstellerin für gerechtfertigt, die
Antragsgegnerin einstweilen zur Leistungserbringung zu verpflichten. Insoweit
berücksichtigt der Senat insbesondere die benannte Zweckrichtung der
Eingliederungshilfe unter besonderer Betonung der für einen behinderten Menschen
bestehenden Besonderheiten bei einem Hochschulstudium. Ob der Zweck der
Eingliederung bei Inanspruchnahme ambulanter Pflege und möglicher
Eingliederungshilfen durch den örtlichen Träger der Sozialhilfe in gleicher Weise
sicherzustellen wäre, hat bereits das Sozialgericht in Frage gestellt. Derzeit hält der
Senat es für die Antragstellerin nicht für zumutbar, diese auf entsprechende ambulante
Hilfen zu verweisen, zumal die Antragsgegnerin im Rahmen der auch sie treffenden
Amtsermittlungspflicht im Vorfeld der Bescheideerteilung vom 15.08.2006 und des
Antrages auf Erlass einer einstweiligen Anordnung vertiefte Bemühungen zur
Feststellung der Hilfebedürftigkeit nicht unternommen hat.
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Das Sozialgericht hat darüber hinaus in nachvollziehbarer Weise darauf abgestellt, dass
das derzeit von der Antragstellerin bewohnte Wohnheim für körperbehinderte
Studenten, für das eine Vereinbarung gemäß §§ 75 ff. SGB XII für den Leistungstyp
Eingliederungshilfe für Behinderte gemäß §§ 53 ff. SGB XII mit dem überörtlich
zuständigen Sozialhilfeträger für den Bezirk Oberpfalz besteht, in besonderer Weise zur
Erreichung des Eingliederungszwecks geeignet ist. Die besondere räumliche Nähe zur
Universität, die Verfügbarkeit jederzeit abrufbar Pflege- und Betreuungspersonals auch
während des Universitätsbetriebes und etwa die Möglichkeit der Inanspruchnahme des
verfügbaren Fahrdienstes garantieren ein Umfeld, das den Erfordernissen des
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studentischen Alltags bei Vorliegen einer Schwerbehinderung in besonderer Weise
gerecht werden dürfte. Das zu Grunde liegende Konzept zielt in besonderer Weise
darauf ab, behinderungsbedingte Hindernisse und Erschwernisse auszugleichen.
Dem Hauptsacheverfahren kann insoweit, sofern diesem Aspekt entscheidende
Bedeutung beizumessen wäre, auch vorbehalten bleiben abzuklären, ob (und ggf. in
welchem Umfang) die stationäre Unterbringung in einem studentischen Wohnheim, das
in besonderer Weise auf die Bedürfnisse behinderter Studenten ausgerichtet ist, im
Vergleich zu ggf. zu gewährenden ambulanten Leistungen mit Mehrkosten verbunden
ist.
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Abweichend vom Sozialgericht hält der Senat eine Verpflichtung über das Ende des
laufenden Semesters im Rahmen des einstweiligen Verfahrens hinaus nicht für geboten
und zweckmäßig. Der Senat geht aber davon aus, dass die Antragsgegnerin sich bei im
Übrigen unveränderten Verhältnissen bis zur abschließenden Entscheidung im
Hauptsacheverfahren der hier ausgesprochenen Verpflichtung schon zur Vermeidung
weiterer gerichtlicher Eilverfahren entsprechend verhalten wird.
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Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 177 SGG.
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