Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 09.09.2008

LSG NRW: gesetzlicher vertreter, geistige behinderung, eigenes verschulden, wohnung, versorgung, zusammenleben, erfüllung, vorrang, krankenkasse, anfang

Landessozialgericht NRW, L 6 VG 12/08
Datum:
09.09.2008
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
6. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 6 VG 12/08
Vorinstanz:
Sozialgericht Köln, S 8 VG 507/06
Sachgebiet:
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln
vom 21.04.2008 in der Fassung des Berichtigungsbeschlusses vom
21.04.2008 wird zurückgewiesen. Der Beklagte trägt auch die
außergerichtlichen Kosten der Klägerin im Berufungsverfahren. Die
Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
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Die Beteiligten streiten über den Beginn von Beschädigtenversorgung nach dem
Opferentschädigungsgesetz (OEG) i.V.m. mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).
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Der am 00.00.1998 geborene Kläger wurde am 22.09.1998 als Säugling von seinem
Vater B schwer geschädigt, als dieser versuchte, ihn zu ersticken, indem er ihn in einen
großen blauen Müllsack legte, diesen dann fest zuknotete und ihn im Kinderwagen
unter anderen Bettsachen versteckte. Als der Kläger gefunden wurde, war er bereits
klinisch tot; er konnte in der Folgezeit wiederbelebt werden. Beim Kläger entstand als
gesundheitliche Schädigung ein hypoxischer Hirnschaden, eine linksbetonte Spastik,
geistige Behinderung sowie Blasen- und Darminkontinenz. Das Landgericht (LG) Köln
verurteilte den B mit Urteil vom 24.03.1999 (BGH, Beschluss vom 19.11.1999, 2 StR
383/99) wegen versuchten Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren und
sechs Monaten. Auf die beigezogenen Strafakten mit der Geschäfts-Nr. 000 und
insbesondere die Darlegungen in dem Urteil vom 24.03.1999 wird Bezug genommen.
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Vor der Tat lebte der Kläger seit Anfang Juli 1998 mit seiner Mutter O C und dem Vater
in einer gemeinsamen Wohnung. Wegen erheblicher Spannungen in der Beziehung
war O C Anfang September 1998 zurück zu ihrer Mutter in die elterliche Wohnung
gezogen. In der Folgezeit trafen sich O C und der B noch einige Male in der alten und
auch in ihrer neuen Wohnung.
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Nach der Gewalttat vom 22.09.1998 besuchte die Mutter des Klägers den B beginnend
ab dem 22.04.1999 während der Untersuchungshaft in der Justizvollzugsanstalt (JVA) L
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und machte von der Besuchsmöglichkeit anschließend regen Gebrauch. B wurde in der
Folgezeit zum Langzeitbesuch (Zeitraum von drei Stunden unkontrolliert) mit O C in den
JVA B und H zugelassen. In den Unterlagen der JVA H wird O C als Verlobte des B
geführt. In dem Bericht des Psychologen der JVA H vom 24.10.2001 heißt es: "B erhält
regelmäßig Besuch von seiner Verlobten und dem gemeinsamen Kind. Auch die
Möglichkeit des Langzeitbesuchs und alle weiteren Besuchsmöglichkeiten werden
regelmäßig wahrgenommen und darüber hinaus schreibt man täglich Briefe. Die
Beziehung zur Verlobten wird als sehr intensiv beschrieben. Trotz der großen
Entfernung, die Verlobte lebt in H, tausche man sich offener und vertrauensvoller aus,
als man es früher konnte und habe so das Gefühl, sich sehr nahe zu sein." Weiter heißt
es: "Nach der Haftentlassung plant B, zu seiner Verlobten nach H zu ziehen und später
zu heiraten." B wurde am 10.04.2004 erstmals zu O C und dem Kläger nach H
ausgeführt. Im Rahmen eines am 02.09.2004 stattgefundenen Langzeitbesuchs
beendete O C die Beziehung zu B. Im Einzelnen wird auf die Schreiben der JVA B vom
10.04.2007 und vom 30.11.2007 nebst zu den Akten genommenen Anlagen Bezug
genommen.
O C beantragte am 23.02.2000 bei der AOK - Pflegekasse - Pflegegeld nach dem
Sozialgesetzbuch, Elftes Buch (SGB XI). Nach Untersuchung durch den Medizinischen
Dienst der Krankenversicherung Nordrhein (MdK) am 17.05.2000 bewilligte die
Pflegekasse dem Kläger ab 01.03.2000 Pflegegeld nach Pflegestufe I. Am 18.09.2001
beantragte O C für ihren Sohn die Feststellung einer Behinderung nach dem
Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX). Das Versorgungsamt L stellte mit Bescheid
vom 07.11.2001 den Grad der Behinderung (GdB) mit 70 und die Merkzeichen G und B
fest.
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Auf eindringliche Zurede der Versorgungsverwaltung beantragte O C am 20.09.2004 für
ihren Sohn auch Versorgung nach dem OEG. Hierzu heißt es in einer im Aktendeckel
eingehefteten, nicht unterzeichneten und undatierten Aktennotiz: "Die Antragstellung
nach dem OEG erfolgte auf Anregung der SchwebR Gruppe. Mir hat Frau B in einem
Telefongespräch erklärt, dass sie zwar im Strafverfahren vom Richter aufgeklärt wurde,
dass Ansprüche nach dem OEG bestehen, sie aber keinen Antrag stellen wollte - aus
Rücksicht auf Täter? - (vgl. auch Aktenvermerk von Frau H vom 06.11.2006). Das
Versorgungsamt wertete die Strafakten aus und zog die Pflegegutachten sowie die
bisherigen Krankenunterlagen bei. In der versorgungsärztlichen Stellungnahme der
Ärztin für Nervenheilkunde Dr. T wird als Befund eine Cerebralparese mit spastisch
athetotischer und ataktischer Komponente, ein Streckdefizit der Arme,
Artikulationsstörung, Harn- und Stuhlinkontinenz beschrieben und abweichend von den
Feststellungen im Schwerbehindertenverfahren eine MdE (jetzt Grad der Schädigung -
GdS -) von 100 vorgeschlagen. Entsprechend stellte der Beklagte mit Bescheid vom
05.07.2006 die Schädigungsfolgen und auch die MdE ab 01.09.2004 (Antragsmonat)
mit 100 fest.
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Gegen diesen Bescheid legte der Kläger durch seine Mutter am 04.08.2006
Widerspruch mit dem Ziel ein, ihm die Versorgung ab September 1998 zu zahlen. Zur
Begründung bezog er sich auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG)
und auf ein Urteil des LSG Sachsen-Anhalt vom 13.11.2003, Az.: L 7 (5) VG 22/02 und
führte aus, dass O C sich in einer Konfliktsituation zwischen dem geschädigten Kind
und dem Täter befunden habe. O C habe unmittelbar nach Abschluss der
Heilbehandlung und der Reha-Maßnahmen Kontakt mit dem Vater aufgenommen. Ab
Dezember 1998 habe sie ihm in die U-Haft geschrieben und nach der Verurteilung den
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Kontakt zu B intensiviert. An den zulässigen Besuchstagen, dreimal monatlich, habe O
C den B in der JVA L, B und später auch in H besucht. Hierhin sei sie mit öffentlichen
Verkehrsmitteln angereist. Gegenüber dem Gefängnispsychologen habe O C Aussagen
gemacht, die letztlich dazu beitrugen, dass der Täter Langzeitbesuche empfangen
durfte. Ab August 1999 sei es bereits zu intimen Kontakten (im Sinne von Küssen) und
ab Mai/Juni 2000 auch zu sexuellen Kontakten gekommen. Im Frühjahr 2000 habe sich
O C in der JVA mit dem B verlobt.
Die Bezirksregierung Münster wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom
30.11.2006 zurück. Es seien keine objektiven Gründe zu erkennen, die den Kläger
gehindert hätten, durch seine Mutter einen früheren Antrag zu stellen.
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Der Kläger hat am 15.12.2006 beim Sozialgericht (SG) Köln Klage erhoben und im
Wesentlichen vorgetragen, dass sich seine Mutter trotz der schweren Straftat zu seinem
Nachteil gefühlsmäßig nicht von B habe lösen können. Die Beziehung sei vielmehr
intensiviert worden und habe sogar zur Verlobung geführt. Für seine Mutter habe sich
eine Konfliktsituation zwischen ihm und dem Täter ergeben. Es könne ihm daher nicht
zugerechnet werden, dass die Antragstellung erst im September 2004 und nicht
kurzfristig nach dem versuchten Totschlag erfolgt sei.
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Das Sozialgericht (SG) hat beim Landgericht Köln die bereits bezeichneten Straf- sowie
die Strafvollstreckungsakten und beim Versorgungsamt L die Schwerbehindertenakten
beigezogen.
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In der mündlichen Verhandlung vom 21.04.2008 hat es die Mutter des Klägers, O C,
persönlich angehört. Diese hat ausführlich die Beziehungen zu B während der Haftzeit
beschrieben. Schon bei den ersten Besuchen seien neben den Gefühlen für das
entsetzliche Geschehene starke Liebesgefühle aufgekommen. Sie habe den B immer
noch geliebt und gehofft, mit ihm in einer Familie zusammen leben zu können. Auch
habe sie gemeint, er könne dadurch einen Teil des Schadens wieder gut machen, dass
er dem Kind als Vater zur Verfügung stehe. Etwa ab April 2004 habe sie sich immer
intensiver mit dem Geschehenen befasst und habe damit angefangen, aufzuwachen.
Getrennt habe sie sich von B dann am 02.09.2004. Einen Antrag nach dem OEG habe
sie trotz des frühen Hinweises durch den Strafrichter nicht gestellt, weil sie finanzielle
Nachteile für B befürchtet habe. Schon im Jahr 1999 habe die Krankenkasse die
Kostenübernahme für Behandlungen verweigert; sie möge sich an den Schädiger
wenden. Hier habe sie erfahren, dass ein Schädiger zu Ersatzleistungen herangezogen
werden könne. Sie habe weitere Belastungen des B, den sie ja noch liebte, vermeiden
wollen. Sie habe auch geglaubt, dass eine Antragstellung nach dem OEG die
vorgesehene Familie belasten würde. Sie sei dermaßen verblendet gewesen, weil sie
sich ein familiäres Zusammenleben mit dem B gewünscht habe. Hinsichtlich des
weiteren Inhalts der Erklärungen wird auf die Sitzungsniederschrift Bezug genommen.
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Das SG hat der Klage mit Urteil vom 21.04.2008 (berichtigt im Tenor durch Beschluss
vom 28.04.2008) stattgegeben und die angefochtenen Bescheide geändert. Es hat den
Beklagten zur Gewährung der Versorgungsleistungen an den Kläger bereits ab dem
Schädigungsmonat verurteilt. Der minderjährige Kläger sei ohne sein Verschulden an
einer frühzeitigeren Antragstellung im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG gehindert
gewesen. Das pflichtwidrige Verhalten seiner Mutter sei ihm nicht zuzurechnen. Das
Grundsatzurteil des BSG vom 28.04.2005 sei auf die vorliegende Fallkonstellation
übertragbar, auch wenn anders als in der dortigen Fallgestaltung, der Täter bereits
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ermittelt, geständig und rechtskräftig verurteilt worden sei. Den Ausführungen des BSG
sei nicht zu entnehmen, dass nur in den Fällen der dort entschiedenen Art das
pflichtwidrige Unterlassen der Antragstellung dem Vertretenen ausnahmsweise nicht
zuzurechnen sei. Vielmehr sei tatbezogenes und täterbezogenes Versagen des
gesetzlichen Vertreters beachtlich. Die Grundsätze des BSG müssten auch gelten,
wenn der sorgeberechtigte Elternteil - hier die Mutter des Klägers - das von ihr
beabsichtigte spätere familienhafte Zusammenleben nach der Entlassung aus der
Strafhaft durch finanzielle Belastungen des von der Versorgungsverwaltung in Anspruch
genommenen Täters gefährdet oder belastet sähe. Insoweit läge zumindest subjektiv
eine täterbezogene Konfliktsituation der emotional vom Kläger hochgradig und auf
irrationale Weise abhängigen Kindesmutter vor, die sich der schwerstbeschädigte und
selber handlungsunfähige Kläger nicht zurechnen lassen müsse. O C habe um die
Schwere und Grausamkeit der Tat ihres früheren Lebensgefährten gewusst und sei
diesem zu Lasten des Kindes weiterhin in einem Maße verbunden geblieben, welches
rational nicht erklärbar sei. Dies sei dem Kind nicht zuzurechnen. Der Kläger habe
danach bereits ab September 1998 Anspruch auf Versorgungsrente nach einem GdS
von 100, der auch in der versorgungsärztlichen Stellungnahme der Ärztin für
Nervenheilkunde Dr. T vom 07.06.2006 in dieser Höhe vorgeschlagen worden sei.
Diese zeitliche Rückwirkung gelte schließlich auch für die mit Bescheid vom 03.01.2007
festgestellten weiteren Versorgungsleistungen (Kleiderverschleißpauschale,
Pflegzulage nach Stufe V, Schwerstbeschädigtenzulage nach Stufe VI und
Ausgleichsrente), denn dieser Bescheid sei nach § 96 SGG Gegenstand des
Klageverfahrens geworden.
Der Beklagte hat gegen das ihm am 28.04.2008 zugestellte Urteil am 19.05.2008
Berufung eingelegt. Grundsätzlich müsse sich auch ein minderjähriges Opfer die Folgen
einer nicht rechtzeitigen Antragstellung zurechnen lassen. Davon habe das BSG
lediglich in zwei Fällen eine Ausnahme gemacht. In dem einen Fall (BSG, Urteil vom
23.10.1985, 9 a RVg 4/83) habe der Vater für das Kind keinen Versorgungsantrag
gestellt, weil er sich als Täter nicht selbst habe bloß stellen wollen. In dem späteren Fall
(BSG-Urteil vom 28.04.2005, B 9a/9 VG 1/04 R) habe die Mutter den Versorgungsantrag
für das minderjährige Kind nicht gestellt, weil sie von der Unschuld ihres des sexuellen
Missbrauchs beschuldigten Ehemannes überzeugt gewesen sei. Danach müsse sich
der gesetzliche Vertreter in einem tatbezogenen Interessenkonflikt befunden haben, in
dem er sich für den Täter (Schutz vor Strafverfolgung) oder für das Opfer (Antragstellung
nach dem OEG) zu entscheiden habe. Die Aussage des BSG sei im Kontext mit der
Mitwirkung des Sorgeberechtigten an der vollständigen Aufdeckung des Tatgeschehens
zu sehen. Die Klägerin habe sich zu keiner Zeit in einer tat- und täterbezogenen
Konfliktsituation befunden. Sie habe vielmehr aus Liebe zum Täter auf eine
Antragstellung für das Kind verzichtet, obwohl der Täter die Mutter nicht von einer
Antragstellung abgehalten habe. Mit der vom BSG geforderten Tatbezogenheit habe
das nichts zu tun. An die Ausnahmeregelung seien auch deshalb strenge
Anforderungen zu stellen, weil die Kostenfolgen immens sein können.
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Der Beklagte beantragt,
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das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 21.04.2008 in der Fassung des
Berichtigungsbeschlusses vom 28.04.2008 zu ändern und die Klage abzuweisen.
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Der Kläger beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Der Kläger hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Nach dem Schutzzweck des OEG
könne es für den Anspruch nicht darauf ankommen, aus welchen Eigeninteressen der
gesetzliche Vertreter den Antrag nicht stelle. Es dürfe keine Rolle spielen, worauf die
Konfliktlage des gesetzlichen Vertreters letztlich beruhe. Für das Gewaltopfer mache es
keinen Unterschied, aus welcher Art inneren Konfliktes sein gesetzlicher Vertreter den
Antrag letztlich nicht stelle.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakten, der beigezogenen Verwaltungsakten des Beklagten (B-Akten I und II),
der beigezogenen Schweb-Akten, der beim Landgericht Köln geführten Strafakten mit
der Geschäfts-Nr. 000 sowie auf die auszugsweise durch die AOK H - Pflegekasse -
übersandten Vorgänge über die Bewilligung des Pflegegeldes Bezug genommen.
Diese waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
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Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Berufung des Beklagten ist nicht begründet.
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Die Sachurteilsvoraussetzungen liegen vor. Richtiger Beklagter ist im
Berufungsverfahren seit dem 01.01.2008 der für die Klägerin örtlich zuständige
Landschaftsverband Rheinland (vgl. zur Kommunalisierung der Versorgungsverwaltung
Urteil des erkennenden Senats vom 12.02.2008, L 6 SB 101/06 - Rev. Az.: B 9 SB 1/08
R, Urteil vom 26.02.2008, L 6 SB 35/05 - Rev. Az.: B 9 SB 3/08 R, Urteil vom
11.03.2008, L 6 V 28/07 - rechtskräftig; Urteil vom 11.03.2008, L 6 (10) VS 29/07 - Rev.
Az.: B 9 Vs 1/08 R; alle Entscheidungen sind im Internet unter
www.sozialgerichtsbarkeit.de abrufbar).
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Das SG hat zu Recht die angefochtenen Bescheide des Beklagten aufgehoben und
diesen verurteilt, dem Kläger nach Maßgabe des § 60 Abs. 1 Satz 2 BVG Versorgung
nach dem OEG i.V.m. dem BVG bereits ab September 1998 zu zahlen. Dem im
Zeitpunkt der Gewalttat erst drei Monate alten Kläger ist weder eigenes Verschulden
noch das pflichtwidrige Verhalten seiner allein sorgeberechtigten Mutter im Hinblick auf
die verspätete Antragstellung zuzurechnen. Dementsprechend verlängert sich die in §
60 Abs. 1 Satz 1 BVG genannte Frist von einem Jahr nach Satz 2 dieser Vorschrift um
den Zeitraum der Verhinderung.
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Das SG hat die vom BSG in der Entscheidung vom 28.04.2005 aufgestellten
Grundsätze beachtet und auf den hier zu beurteilenden Sachverhalt übertragen. Es hat
richtigerweise darauf abgestellt, in welcher Konfliktsituation sich O C - nur darauf kann
es ankommen - aufgrund ihrer individuellen Gegebenheiten befand. Auf welchem
Sachverhalt die Konfliktlage letztlich beruhte, hat das SG, anders als der Beklagte
meint, zu Recht nicht als erheblich angesehen. Die von dem Beklagten mit der Berufung
angenommene Konfliktlage, nämlich einerseits "Schutz des Täters vor Strafverfolgung"
und andererseits "Antragstellung für das Opfer nach dem OEG" war zwar Gegenstand
des vom BSG zu entscheidenden Sachverhalts; dass das BSG die Ausnahmeregelung
auf Fälle dieser Art beschränkt wollte, entnimmt der Senat dieser Entscheidung nicht. So
führt das BSG auch aus "dies ist insbesondere anzunehmen, wenn ...". Das Gewicht der
Entscheidung des BSG liegt danach nicht in der Umschreibung und Festlegung der Art
der Konfliktlage, sondern im Bestehen einer Konfliktsituation, die zu Lasten des
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geschädigten Kindes gelöst wird. Diese kann wie in dem vom BSG entschiedenen Fall
tat- und täterbezogen sein. Die Konfliktlage kann auch bestehen, wenn der gesetzliche
Vertreter den eigenen Interessen - so ausdrücklich BSG - den Vorrang einräumt und
damit bei der Erfüllung des auch grundgesetzlich statuierten Auftrags (Art. 6 Abs. 2 Satz
1 GG), für das Kind zu sorgen, gescheitert ist.
Ohne Zweifel befand sich die Klägerin bis zu ihrer Trennung von B im April 2004 in
einem ganz erheblichen täterbezogenen Konflikt, in dem sie das Interesse an der
Aufrechterhaltung der Liebesbeziehung zu dem B über das Wohl des Klägers gestellt
hat und unter Leugnung der schweren Schuld des B sogar beabsichtigte, mit diesem
nach der Haftentlassung ein normales Familienleben zu führen. Die Feststellungen in
dem Bericht des Psychologen aus der JVA in H vom 24.10.2001, dem Bericht des Dipl.
Psychologen Q vom 29.03.2004 für die JVA B (Gespräch mit dem B, mit O C und dem
Kläger) und die glaubhaften Erklärungen der O C in der mündlichen Verhandlung vor
dem SG verdeutlichen, dass die Beziehungen jedenfalls ab Frühjahr 1999 zwischen O
C und B noch oder wieder eng verflochten waren. Es liegt damit genau die vom BSG
angesprochene Situation vor, dass die Antragstellung nach dem OEG und der aus Sicht
der O C zu erwartende Regress gegen den B zu einem Bruch oder einer erheblichen
Belastung der der O C wichtigen Beziehung zu dem straffällig gewordenen
Familienangehörigen (hier dem Vater des Klägers) führen könnte. Das SG hat zutreffend
das irrationale Verhalten der beratungsresistenten Mutter und deren innere
Konfliktsituation und Befangenheit dargestellt und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass
O C ihren Interessen den Vorrang eingeräumt hat und zwangsläufig bei der Erfüllung
ihres Auftrages zur Sorge für das Kindeswohl (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) zu Lasten des
Kindes gescheitert ist. Dem Kläger als handlungsunfähigem und schwerstbeschädigtem
Gewaltopfer ist ein solches Versagen der allein sorgeberechtigten Mutter im Rahmen
des § 60 Abs. 1 BVG nicht als Verschulden anzulasten. Der Senat schließt sich der
überzeugende Argumentation des SG an und sieht von einer weiteren Darstellung der
Entscheidungsgründe ab (§ 153 Abs. 2 SGG).
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Hiernach braucht der Senat nicht mehr zu prüfen, ob es sich unter dem Gesichtspunkt
des sozialrechtlichen Herstellungsanspruch für die AOK - Krankenkasse - (im Jahr
1999) und die AOK - Pflegekasse - (im Jahr 2000, vgl. insoweit die konkreten Angaben
zur Gewalttat in dem Pflegegutachten vom 17.05.2000), aber insbesondere auch für die
Versorgungsverwaltung im September 2001 und nicht erst im Jahr 2004 hätte
aufdrängen müssen, die Mutter des Klägers dazu anzuhalten, zu Gunsten des Klägers
einen entsprechenden Antrag nach dem OEG zu stellen. Obwohl die irrational
handelnde Klägerin sich gegenüber allgemeinen Ratschlägen als beratungsresistent
gezeigt hat, ist durchaus denkbar, dass ihr bei ganz konkreter Beratung und Betreuung
die Augen geöffnet worden wären und sie sich einsichtig gezeigt hätte. Bei dem
offensichtlichen Versagen der Mutter zu Lasten des geschädigten Kindes hätte auch das
Jugendamt eingeschaltet werden müssen. Der Senat sieht insoweit klare Versäumnisse
der vorbezeichneten Sozialleistungsträger, die sich der Beklagte möglicherweise
zurechnen lassen muss. Hierauf kommt es vorliegend allerdings nicht mehr an.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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Der Senat hat die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision als gegeben
angesehen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
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