Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 08.07.2009

LSG NRW: therapie, behandlung, innere medizin, verfassungskonforme auslegung, label, erblindung, versorgung, gefahr, hauptsache, diagnose

Landessozialgericht NRW, L 16 B 9/09 KR ER
Datum:
08.07.2009
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
16. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
L 16 B 9/09 KR ER
Vorinstanz:
Sozialgericht Münster, S 16 (11) KR 160/08 ER
Sachgebiet:
Krankenversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des
Sozialgerichts Münster vom 20. Januar 2009 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Beschwerdeverfahren nicht zu
erstatten.
Gründe:
1
I.
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Streitig ist die Kostenübernahme durch die Antragsgegnerin(AGn) für eine
Immunglobulin-Therapie mit einem Fertigarzneimittel zur Behandlung einer
Augenerkrankung.
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Die am 00.00.1941 geborene Antragstellerin (AStn) befindet sich in ständiger
Behandlung der Augenabteilung am St. G-Hospital in N. Im Jahre 2000 wurde eine
Kataraktoperation an beiden Augen durchgeführt. In der Folgezeit kam es zu
verschiedenen Schleimhauterkrankungen und im Jahre 2003 wurde eine
voranschreitende Keratinisierung (Verhornung, d. h. Vorgang der schrittweisen
Umwandlung von lebenden Epithelzellen in "totes" Hornmaterial) der gesamten unteren
Bindehaut an beiden Augen fest- und die Diagnose eines okulären Pemphigoides
(chronische, autoimmunologisch bedingte Bindehautentzündung des Auges) beidseits
gestellt. Im Jahre 2005 fand sich ein invasives (in das umgebende Gewebe
hineinwucherndes) Karzinom am nasalen Lidrand des linken Auges. Der maligne
Tumor wurde entfernt; zugleich erfolgte eine Rekonstruktion des Fornix (Umschlagfalte,
die die Bindehaut des Auges im Spaltraum unterhalb der Lider bildet) am linken Auge.
Das rechte Auge zeigte sich über diesen Verlauf hin stabil ohne wesentliche Aktivität
der vernarbenden Schleimhauterkrankungen. Die Sehschärfe am rechten Auge lag
zwischen 80 und 100 %. Im weiteren Verlauf kam es zu einer Einmauerung des Bulbus
oculi (Augapfel) links mit einer Aufhebung der Motilität. Eine zuletzt durchgeführte
Fornixrekonstruktion zur Motilitätsverbesserung zeigte keine dauerhafte Befreiung des
Bulbus. Bei der Kontrolle Ende 2007 konnte eine Sehschärfe von rechts 0,9 und links
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0,5 mit Korrektur festgestellt werden. Es wurde mit einer hochdosierten Cortison-
Therapie mit 1 mg je kg Körpergewicht fortgefahren.
Am 11.12.2007 beantragte die AStn unter Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung der
Augenabteilung am St. G-Krankenhaus vom selben Tag die Versorgung der bei der Agn
gegen Krankheit versicherten AStn mit Immunglobulinen zur Behandlung des okulären
Pemphigoides beidseits. Grundsätzlich sei eine cortisonsparende Therapie erforderlich,
da die Erkrankung durch Cortison allein nicht in adäquater Dosis zum Stillstand
gebracht werden könne. Aufgrund der bestehenden malignen Erkrankung (Karzinom am
Unterlid links) sei eine konventionelle immunsuppressive (die normale Funktion des
Immunsystems unterdrückende) Therapie nicht möglich. Insofern erscheine eine
Therapie mit Immunglobulinen sinnvoll. Hierzu gebe es einzelne Fallserien, die
durchweg über positive Ergebnisse berichteten. Bei drohender Erblindung der AStn
werde gebeten, den Antrag für diese "sicherlich sehr teure Therapie kritisch zu prüfen".
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In seiner Stellungnahme vom 31.01.2008 kam der von der AGn mit der Überprüfung der
medizinischen Voraussetzungen für eine Leistungsgewährung beauftragte Medizinische
Dienst der Krankenversicherung (MDK) Westfalen-Lippe zu dem Ergebnis, dass in der
sog. Roten Liste insgesamt vierzehn verschiedene Immunglobulin-Präparate
angegeben seien, von denen jedoch kein einziges über eine arzneimittelrechtliche
Zulassung für die von den behandelnden Ärzten mitgeteilten Diagnose eines okulären
Pemphigoides (chronische, autoimmunologisch bedingte Bindehautentzündung des
Auges) beidseits verfüge. Bei der AStn liege eine schwerwiegende Erkrankung vor, die
allerdings nicht innerhalb von Wochen oder Monaten zu einer akuten Erblindung führen
könne. Es gebe Therapiealternativen zu der beantragten Immunglobulin-Therapie im
Rahmen konservativer Behandlung, wie Verabreichung von Tränenersatzmitteln,
Durchführung einer adäquaten Lidhygiene, gegebenenfalls mit Epilation der Wimpern,
Therapie mit Immunsuppression, systemische Corticosteroidtherapie, gegebenenfalls
chirurgischer Verschluss der Tränenwege. Im Übrigen lägen zuverlässige,
wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zur Wirksamkeit von Immunglobulinen nicht
vor.
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Diesen Standpunkt machte sich die AGn in zwei Schreiben vom 06.02.2008 zu eigen
und wies darauf hin, dass die Verantwortung für die Verordnung von Arzneimitteln bei
dem behandelnden Arzt liege. Eine Genehmigung von ärztlichen Verordnungen durch
die Krankenkasse sei unzulässig. Der dennoch mit der Überprüfung des Sachverhalts in
medizinischer Hinsicht beauftragte MDK sei zu dem Ergebnis gekommen, dass ein sog.
off-label-use nicht in Betracht komme.
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Gegen dieses Schreiben richtete sich der Widerspruch der AStn vom 03.03.2008.
Parallel dazu hat sie am 18.08.2008 bei dem Sozialgericht (SG) Münster die Gewährung
vorläufigen Rechtschutzes beantragt. Zur Begründung hat sie ausgeführt, es liege zwar
derzeit die arzneimittelrechtliche Zulassung für die hier erstrebte Therapie nicht vor,
jedoch habe sie nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG)
und des Bundessozialgerichts (BSG) einen Anspruch auf die begehrte
Arzneimittelversorgung auch in die Zulassung überschreitender Weise. Sie könne das
dringend notwendige Arzneimittel, das einen Kostenaufwand von ca. 1.900 EUR
monatlich verursachen werde, mit ihrem Einkommen von 1.556,97 EUR pro Monat nicht
finanzieren. Es sei ihr auch nicht zumutbar, den Ausgang eines entsprechenden
Hauptsacheverfahrens abzuwarten.
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Die AStn hat schriftsätzlich beantragt,
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die AGn im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig, längstens bis zur
bestandskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, zu verpflichten, die Kosten für ihre
Versorgung mit Immunglobulinen entsprechend ihrem Antrag zu übernehmen.
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Die AGn hat beantragt,
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den Antrag abzulehnen.
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Zur Begründung hat die AGn darauf hingewiesen, die behandelnde Klinik habe die
begehrten Immunglobuline bisher weder auf Kassenrepezt im Rahmen einer
vertragärztlichen Verordnung noch auf Privatrezept verordnet. Die an die AStn und an
die behandelnden Ärzte gerichteten Schreiben vom 06.02.2008 stellten keinen
ablehnenden Verwaltungsakt dar, seien mithin auch keinem Widerspruch zugänglich;
ein solcher sei unzulässig.
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Darüber hinaus hat sich die AGn auf die ergänzende Stellungnahme des MDK vom
26.08.2008 bezogen. Danach bestehe für das Immunglobulin "G" z. B. der Firma Baxter,
dessen Einsatz geplant sei, keine indikationsbezogene Diagnose. Anwendungsgebiete
seien: Substitutionsbehandlung bei primären Immundefekten, bei Myelom oder
lymphatischer Leukämie bzw. bei Kindern mit kongenitaler HIV-Infektion und
rezidivierenden Infekten. Ein weiteres Anwendungsgebiet stelle die Immunmodulation
bei idiopathischer thrombozytopenischer Purpura, beim Kawasaki-Syndrom und beim
Guillain-Barré-Syndrom, ebenso bei allogener Knochenmarktransplantation dar. Die
Voraussetzungen für einen sog. off-label-use aber lägen nicht vor. Es fehle bereits an
einer lebensbedrohlichen Erkrankung. Möglicherweise lasse sich eine Behandlung mit
zugelassenen Arzneimitteln finden. Jedenfalls gebe es für das begehrte
Fertigarzneimittel keinen ausreichenden Wirksamkeitsnachweis im Sinne kontrollierter,
prospektiver und randomisierter Studien mit ausreichender Fallzahl, validen
Endpunkten und langer Verlaufsbeobachtung. Auf Basis der hier vorliegenden
Unterlagen und Informationen werde in diesem Einzelfall der gesetzlichen
Krankenversicherung (GKV) keine Kostenübernahme für die beantragte
Therapiemaßnahme empfohlen.
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Das SG hat einen Befundbericht von Prof. Dr. I vom St. G-Hospital N vom 09.12.2008
eingeholt. Dieser hat mitgeteilt, dass bei der AStn im Jahre 2008 ein weiteres
Plattenepithelkarzinom (bösartiger Hauttumor) im Bereich der linken Parotis
(Ohrspeicheldrüse) diagnostiziert worden sei, der operativ entfernt und mittels
Bestrahlung behandelt worden sei. Das vom MDK als Therapiealternative benannte
Azathioprin® sei ebenso wie alle Proliferationshemmer kontraindiziert; bei Cortison sei
die Gefahr massiver Nebenwirkungen permanent gegeben. Auch wenn nicht akut die
Gefahr einer Erblindung bestehe, sei bei der AStn wegen des schweren chronischen
Verlaufs der Erkrankung das Erblindungsrisiko hoch. Gehe die Erkrankung in das
Stadium IV über, was in ca. zwölf Monaten bevorstehe, so trete in 75 % der Fälle eine
Erblindung ein. Die Kosten der beantragten Immunglobulin-Therapie lägen bei rund
1.500,00 EUR pro Monat für vorerst zwei Jahre und die erstrebte Behandlung müsse
nunmehr unmittelbar beginnen.
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Mit Widerspruchsbescheid vom 14.01.2009 hat die AGn den Widerspruch der AStn
gegen das Schreiben vom 06.02.2008 als unzulässig verworfen; denn das Schreiben
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stelle keinen mit dem Widerspruch anfechtbaren Verwaltungsakt dar.
Das SG hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit Beschluss vom
20.01.2009 abgelehnt. Zur Begründung hat das SG ausgeführt, es werde zwar nicht die
Auffassung der AGn geteilt, dass kein ordnungsgemäßer Antrag und keine
rechtsmittelfähige Ablehnung vorlägen und ohne Vorliegen eines Privatrezeptes der
Widerspruch und das einstweilige Rechtsschutzverfahren unzulässig seien. Der Antrag
habe jedoch in der Sache keinen Erfolg. Die AStn begehre die Behandlung im sog. off-
label-use auf Kosten der GKV, die nur in absoluten Ausnahmefällen möglich sei. Ein
solcher Ausnahmefall liege nicht vor. Die AStn habe nicht glaubhaft gemacht, dass ihre
Augenerkrankung lebensbedrohlich oder regelmäßig tödlich verlaufend sei. Auch sei
mit dem MDK nicht davon auszugehen, dass nur durch die Behandlung mit
Immunglobulinen eine Verschlechterung der Sehkraft des Auges vermieden werden
könne. Darüber hinaus bestehe auf Grund der Datenlage keine hinreichend begründete
Aussicht auf einen Behandlungserfolg. Es lägen nur unzureichende wissenschaftliche
Studien vor.
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Gegen den ihren Prozessbevollmächtigten am 22.01.2009 zugestellten Beschluss hat
die AStn am 16.02.2009 Beschwerde eingelegt und zugleich - im Hauptsacheverfahren
- Klage erhoben, die unter dem Az.: S 9 KR 20/09, SG Münster, geführt wird. Zur
Begründung verweist sie auf ihren bisherigen Vortrag und auf die von den
behandelnden Ärzten erteilten Auskünften. Danach liege eine zugespitzte
gesundheitliche Gefährdung im Sinne des drohenden Verlustes eines Organs, des zu
behandelnden Auges, vor. Zumindest unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des
BVerfG zu lebensbedrohlichen Erkrankungen stehe ihr ein Anspruch auf die begehrte
Sachleistung zu. Nach Auskunft der behandelnden Ärzte entspreche der Einsatz von
Immunglobulinen in Fällen wie dem vorliegenden ärztlichem Konsens.
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Die AStn beantragt schriftsätzlich sinngemäß,
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den Beschluss des SG Münster vom 20.01.2009 zu ändern und die AGn im Wege der
einstweiligen Anordnung vorläufig, längstens bis zur bestandskräftigen Entscheidung in
der Hauptsache, zu verpflichten, die Kosten für ihre (der AStn) Versorgung mit
Immunglobulinen entsprechend ihrem Antrag zu übernehmen.
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Die AGn beantragt schriftsätzlich sinngemäß,
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die Beschwerde der AStn gegen den Beschluss des SG Münster vom 20.01.2009
zurückzuweisen.
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Sie bezieht sich zur Begründung auf den ihrer Auffassung nach zutreffenden
erstinstanzlichen Beschluss sowie auf die ergänzenden Stellungnahmen des MDK vom
29.04.2009 und 27.05.2009. Danach sei der Visus innerhalb des Jahres 2008 bei dem
rechten Auge stabil geblieben und habe sich bei dem linken Auge von 0,5 auf 0,8 mit
Korrektur verbessert. Ein Übergang innerhalb von zwölf Monaten in das Stadium IV der
Erkrankung lasse sich ebenso wenig nachvollziehen wie die Angabe, dass 75 % der
Erkrankten erblinden würden. Vielmehr liege bei der Versicherten keine Situation vor,
die innerhalb der nächsten Wochen oder Monate die Gefahr der Erblindung beinhalte.
Zwar handele es sich um eine Erkrankung, die die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig
beeinträchtigen könne. Es bestünden aber andere Behandlungsmöglichkeiten als die
Immunglobulin-Therapie, nämlich die symptomatische Therapie u. a. mit
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Tränenersatzmittel, die adjuvante lokale Therapie mit Corticosteroid-Augentropfen und
der Einsatz des antibiotisch wirkenden Arzneistoffes Dapson. Die von dem Hausarzt
beschriebende Corticoiddauertherapie stelle keine Kontraindikation zu der
vorgeschlagenen intermittierenden Corticosteroidtherapie dar. Zudem fehlten für die
begehrte Immunglobulin-Therapie Wirksamkeitsnachweise im Sinne kontrollierter,
prospektiver und randomisierter Studien mit ausreichenden Fallzahlen, validen
Endpunkten und langer Verlaufsbeobachtung. Im Verhältnis zu den möglichen Gefahren
und Risiken, zu den die Behandler weiterhin keine Angaben machten, könne die
Kostenübernahme nicht empfohlen werden.
Der Senat hat eine ergänzende Stellungnahme des behandelnden Arztes Prof. Dr. I vom
St. G-Hospital N eingeholt. Danach steht die AStn in regelmäßiger radioonkologischer
Nachsorge nach stattgehabter Strahlentherapie. Bei der Nachsorge am18.12.2008
hätten sich dosisadäquate Nebenwirkungen der Strahlentherapie gezeigt. Eine
Corticosteroidtherapie sei von dem Hausarzt durchgeführt worden. Auf potentielle
Nebenwirkungen einer Immunglobulin-Behandlung sei die AStn hingewiesen worden;
die Gefahr der Gegenanzeigen erscheine nicht über das allgemeine Maß hinaus
gesteigert.
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In seinem vom Senat angeforderten Befundbericht vom 07.05.2009 hat Dr. X, Arzt für
Innere Medizin, mitgeteilt, bei der AStn bestehe u. a. eine chronisch-obstruktive
Lungenerkrankung und ein atopisches (allergisches) Ekzem. Deshalb erhalte die AStn
seit 2001 eine Corticosteroid-Dauertherapie. Bei Verschlechterung der pulmonalen
Symptomatik werde die Therapie intermittierend gesteigert. Wegen der pulmonalen
Erkrankung müsse die Behandlung mit dem Steroid fortgeführt werden, die AStn sei auf
die Einnahme trotz der inzwischen eingetretenen Nebenwirkungen, wie steroidindizierte
Osteoporose, Cushing-Symptomatik (körperliche Veränderungen aufgrund hohen
Cortisonspiegels im Körper, wie Vollmondgesicht, Stammfettsucht, "Stiernacken",
diabetische Stoffwechsellage, arterielle Hypertonie, Osteoporose, Muskelschwäche)
und periphere Muskeldystrophie, zwingend angewiesen.
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Wegen des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird auf den Inhalt der Prozessakte
sowie der Verwaltungsvorgänge der AGn Bezug genommen, die ihrem wesentlichen
Inhalt nach Gegenstand der Beratung und Entscheidung gewesen sind.
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II.
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Die zulässige, insbesondere fristgerecht eingelegte Beschwerde der AStn gegen den
Beschluss des SG Münster vom 20.01.2009 ist nicht begründet. Das SG hat im Ergebnis
und in der Begründung zu Recht den Antrag der AStn auf Versorgung mit einem
Fertigarzneimittel im Rahmen einer Immunglobulin-Therapie abgelehnt.
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Nach § 86b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) können einstweilige Anordnungen zur
Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis
erfolgen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig
erscheint. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind insoweit glaubhaft zu
machen, vgl. § 86b Abs. 2 S. 4 SGG i. V m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO).
Das einstweilige Rechtsschutzverfahren dient vorläufigen Regelungen. Nur wenn dies
zur Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes schlechterdings notwendig ist, d. h. wenn
die sonst zu erwartenden Nachteile für den Antragsteller unzumutbar wären und ein
hoher Grad an Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg in der Hauptsache spricht, weil dem
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Rechtsschutzsuchenden ein bestimmter Anspruch zusteht (vgl.
Bundesverwaltungsgericht -BVerwG-, Beschl. vom 13.08.1999, Az.: 2 VR 1/99,
www.juris.de; Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl. 2008, § 86b RdNr. 31 m. w.
N.), ist ausnahmsweise die Vorwegnahme der Hauptsache im vorläufigen
Rechtsschutzverfahren zulässig (vgl. BVerwG, Beschl. vom 13.08.1999, a. a. O.; Meyer-
Ladewig, a. a. O.; ständige Rechtsprechung des erkennenden Senats, vgl. Beschlüsse
vom 16.10.2002 - L 16 KR 219/02 ER -, vom 13.05.2004 - L 16 B 20/04 KR ER -, vom
29.11.2005 - L 16 B 90/05 -, vom 06.04.2006 - L 16 B 3/06 KR ER -, vom 11.07.2006 - L
16 B 43/06 KR ER -, vom 24.09.2008 - L 16 B 62/08 KR ER, sowie vom 20.05.2009 - L
16 B 13/09 KR ER -, www.sozialgerichtsbarkeit.de).
Das SG hat zu Recht die Auffassung vertreten, es fehle bereits an einem
Anordnungsgrund. Insbesondere hat die AStn weiterhin nicht ausreichend dargelegt
und glaubhaft gemacht, dass eine besondere Eilbedürftigkeit bestehe, die ein Abwarten
des Ausgangs des Hauptsacheverfahrens unzumutbar machen könnte. Auch aus den
im Beschwerdeverfahren vorgelegten bzw. eingeholten ergänzenden Stellungnahmen
der behandelnden Ärzte ergibt sich dies nicht.
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Arzneimittel sind mangels Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit (§ 2 Abs. 1 S. 1, § 12
Abs. 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V)) nicht von der Leistungspflicht der GKV
nach § 27 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 und 3, § 31 Abs. 1 S. 1 SGB V umfasst, wenn ihnen die
erforderliche (§ 21 Abs. 1 Arzneimittelgesetz (AMG)) arzneimittelrechtliche Zulassung
fehlt (vgl. z. B. BSG Sozialrecht (SozR) 4-2500 § 27 Nr. 7 m. w. N.). Abgesehen davon,
dass die behandelnden Ärzte der AStn zu keinem Zeitpunkt das konkret einzusetzende
Fertigarzneimittel benannt haben, weist keines der unter der Gliederungsziffer 75.1.1
(Human-Immunglobuline) in der Roten Liste 2009 aufgeführten Fertigarzneimittel eine
Zulassung für die maßgebliche Erkrankung der AStn auf.
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Eine zulassungsüberschreitende Anwendung eines Fertigarzneimittels auf Kosten der
GKV, das nur über eine Zulassung für die Behandlung anderer Krankheiten als für
diejenige verfügt, an welcher die AStn leidet, muss ebenfalls ausscheiden. Ein Off-
Label-Use kommt nach der ständigen Rechtsprechung des BSG, der sich der
erkennende Senat anschließt, nur in Betracht, wenn es um die Behandlung einer
schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig
beeinträchtigenden) Erkrankung geht, wenn keine andere Therapie verfügbar ist und
wenn aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem
betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann
(vg. BSG SozR 3-2500 § 31 Nr. 8, BSG SozR 4-2500 § 31 Nr. 5, und BSG,
Urteilssammlung der GKV (USK) 2007-25). Auch wenn im Hinblick auf die deutliche
Sehkraftminderung - mit dem MDK - eine die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig
beeinträchtigtende Erkrankung bei der AStn anzunehmen sein dürfte, vermag der Senat
in der in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes vorzunehmenden summarischen
Prüfung der Sach- und Rechtslage derzeit nicht zu erkennen, dass die beiden anderen
Voraussetzungen, die zur Anspruchsbegründung kumulativ vorliegen müssen, gegeben
sind. Der MDK hat in mehrfachen Stellungnahmen Therapiealternativen, die dem
Leistungskatalog der GKV entsprechen, benannt. Eine begründete Stellungnahme der
die AStn behandelnden Ärzte, warum diese nicht in Betracht zu ziehen seien, liegt nicht
vor. Davon abgesehen hat auch die AStn zu der dritten Voraussetzung - Datenlage -
nicht substantiiert vortragen können.
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Für einen sog. Seltenheitsfall, bei dem eine Ausnahme von dem letztgenannten
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Erfordernis erwogen werden könnte (vgl. dazu BSG SozR 4-2500 § 27 Nr. 1), ist nichts
vorgetragen, ebenso wenig für ein sog. Systemversagen (vgl. dazu BSG SozR 4-2500 §
27 Nr. 12). Auch Anhaltspunkte für eine hier gebotene grundrechtsorientierte Auslegung
(vgl. z. B. im Anschluss an BVerfG SozR 4-2500 § 27 Nr. 5: BSG SozR 4-2500 § 27 Nr.
12) sind weder vorgebracht worden noch sonst ersichtlich. Die verfassungskonforme
Auslegung setzt voraus, dass eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich
verlaufende (vgl. BSG SozR 4-2500 § 31 Nr. 4) oder eine zumindest wertungsmäßig
damit vergleichbare Erkrankung (vgl. BSG SozR 4-2500 § 27 Nr. 7) vorliegt, bezüglich
derer eine auf Indizien gestützte, nicht ganz fern liegende Aussicht wenigstens auf eine
spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht. Es fehlt bereits an der
ersten Voraussetzung: Mit dem Kriterium einer Krankheit, die zumindest mit einer
lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung in der Bewertung
vergleichbar ist, ist eine strengere Voraussetzung umschrieben, als sie etwa mit dem
Erfordernis einer "schwerwiegenden" Erkrankung für die Eröffnung des sog. off-label-
use (vgl. dazu BSG SozR 3-2500 § 31 Nr. 8) formuliert ist (vgl. BSG SozR 4-2500 § 31
Nr. 8; BSG SozR 4-2500 § 27 Nr. 10). Der Verlust eines wichtigen Sinnesorgans - dazu
zählt der erkennende Senat das Auge - ist der Lebensbedrohlichkeit im o. g. Sinne
grundsätzlich gleichzusetzen. Es fehlt jedoch nach derzeitigen Erkenntnisse das
zeitliche Moment. Dass in absehbarer Zeit (vgl. insoweit BSG, Beschl. vom 14.05.2007,
Az.: B 1 KR 16/07 B, www.juris.de) mit dem Verlust der Sehkraft zu rechnen sei, hat die
AStn weder dargelegt noch glaubhaft gemacht. Unabhängig von der Frage, ob damit der
Zeitraum eines Jahres umfasst sein kann, ist jedenfalls die bei Antragstellung am
11.12.2007 von den Behandlern aufgestellte Prognose, innerhalb der nächsten zwölf
Monate sei mit einem Eintritt des okulären Pemphigoides in das Stadium IV und damit
mit einer Wahrscheinlichkeit von 75 % mit einem völligen Verlust der Sehkraft zu
rechnen, offensichtlich nicht zutreffend gewesen; denn mehr als sechs Monate nach
Ablauf dieses Jahreszeitraumes hat sich die Sehkraft der AStn. stabilisiert bzw. sogar
verbessert.
Auch wenn der Senat derzeit die Voraussetzungen für den Erlass der begehrten
einstweiligen Anordnung nicht zu verkennen vermag, bedeutet dies nicht, dass sich bei
einer Änderung der Verhältnisse nicht doch ein entsprechender Anspruch ergeben
könnte. Insoweit dürfte es hilfreich sein, bei einem dann zu stellenden erneuten Antrag
eine Präzisierung bzgl. des einzusetzenden Fertigarzneimittels vorzunehmen, die das
konkret einzusetzende Fertigarzneimittel betreffende Datenlage aufzuführen und
insbesondere darzulegen und glaubhaft zu machen, warum gegebenenfalls die vom
MDK mehrfach benannten Therapiealternativen, insbesondere unter Berücksichtigung
der sonstigen schweren Erkrankungen der AStn, nicht aussichtsreich sein sollen. Im
vorliegenden Verfahren hat der Senat ebenfalls eine Auseinandersetzung der die AStn
behandelnden Ärzte mit den zum Teil recht erheblichen Nebenwirkungen im Verhältnis
zu den erwarteten Vorteilen bei Verabreichung von Immunglobulinen vermisst.
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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
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Der Beschluss ist unanfechtbar, § 177 SGG.
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