Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 24.06.2010

LSG NRW (kläger, wohnung, rollstuhl, hilfsmittel, behinderung, versorgung, verkehrsmittel, ausgleich, behinderter, krankenversicherung)

Landessozialgericht NRW, L 16 KR 45/09
Datum:
24.06.2010
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
16. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 16 KR 45/09
Vorinstanz:
Sozialgericht Münster, S 11 KR 227/05
Nachinstanz:
Bundessozialgericht, B 3 KR 12/10 R
Sachgebiet:
Krankenversicherung
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts
Münster vom 22.01.2009 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten. Die Revision wird
zugelassen.
Tatbestand:
1
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger einen Anspruch auf Erstattung der Kosten
für ein selbst beschafftes sog. Rollstuhlbike (syn.: Speedy-Bike, Hand-Bike) hat. Bei
diesem Gerät handelt es sich um ein an einen Rollstuhl ankuppelbares Zuggerät, das
mit einer in Brusthöhe des Rollstuhlfahrers angebrachten Handkurbel ausgestattet ist
und die Kraft mittels einer Kette auf das dazugehörige Vorderrad überträgt.
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Der 1968 geborene Kläger erlitt im Juli 2003 bei einem Fahrradunfall eine contusio
spinalis. Wegen der verbliebenen Unfallfolgen (inkomplette Querschnittslähmung) ist er
mit Unterarmgehstützen, einem Rollator sowie einem Greifreifenrollstuhl (Aktivrollstuhl)
versorgt. Er besitzt und fährt einen auf Handgas umgebauten Pkw.
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Im März 2005 beantragte er unter Vorlage einer Verordnung der Internistin Dr. Q ein
Hand-Bike der Fa. Speedy Reha-Technik. Die Beklagte holte eine Stellungnahme des
Dr. H vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) ein und lehnte den
Antrag auf Kostenübernahme mit Bescheid vom 26.04.2005 (Widerspruchsbescheid
vom 20.09.2005) ab, weil nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG)
allenfalls Kinder und Jugendliche Anspruch auf ein Rollstuhlbike hätten. Bei
Erwachsenen gehöre Radfahren nicht zu den elementaren Grundbedürfnissen, für
deren Sicherstellung die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) einzustehen habe; die
bisherige Versorgung des Klägers mit Aktivrollstuhl und Rollator sei ausreichend,
zweckmäßig und wirtschaftlich.
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Mit der am 04.10.2005 zum Sozialgericht Münster erhobenen Klage hat der Kläger, der
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zwischenzeitlich das Speedy-Bike angeschafft hatte, sein nunmehr auf Kostenerstattung
umgestelltes Begehren weiterverfolgt. Zur Begründung hat er ausgeführt: Die von der
Beklagten zitierte Rechtsprechung schließe nicht aus, dass im Einzelfall auch ein
erwachsener Versicherter Anspruch auf Gewährung eines Rollstuhlbikes habe. Ein
solches Hilfsmittel sei in seinem Fall auch erforderlich. Denn in Abhängigkeit von seiner
Tagesform könne er mit dem manuell betriebenen Rollstuhl lediglich Strecken von 500
bis 1000 m zurücklegen, was jedoch nicht ausreiche, um die täglichen Wege in seinem
Nahbereich zurückzulegen. Dazu versetze ihn nur das Speedy-Bike in die Lage, denn
durch die Übersetzung verringere sich der Kraftaufwand gegenüber dem
Greifreifenrollstuhl.
Die Beklagte hat ihre Entscheidung für zutreffend gehalten. Ein Wahlrecht des Klägers
zwischen einem Elektrorollstuhl und dem Rollstuhlzuggerät bestehe nicht, weil ein
Elektro-rollstuhl nur dann in Betracht komme, wenn ein handbetriebener Rollstuhl nicht
bewegt werden könne. Eine Indikation für einen Elektrorollstuhl sei beim Kläger nicht
gegeben.
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Mit Urteil vom 22.01.2009 hat das Sozialgericht die Beklagte verurteilt, dem Kläger die
Kosten des selbst beschafften Speedybikes in Höhe von 2619,18 EUR zu erstatten. Zur
Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die Beklagte habe die
Kostenübernahme für das Speedy-Bike zu Unrecht abgelehnt und sei daher gemäß §
13 Abs. 3 SGB V verpflichtet, dem Kläger die für die Anschaffung entstandenen Kosten
zu erstatten. Das Vermögen des Klägers, mit dem Aktivrollstuhl 500 - 1000 m
zurückzulegen, reiche zur Erschließung des Nahbereichs nicht aus, zumal hierzu auch
der Rückweg zu rechnen sei. Auf die Benutzung des PKW zur Erschließung des
Nahbereichs dürfe der Kläger nicht verwiesen werden. Weil damit die Voraussetzungen
für die Gewährung eines Elektrorollstuhls gegeben seien, habe der Kläger statt eines
solchen das kostengünstigere Hand-Bike wählen dürfen.
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Gegen das am 12.02.2009 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 06.03.2009 Berufung
eingelegt. Zur Begründung führt sie aus: Der vom Sozialgericht angenommene
Anspruch auf einen Elektrorollstuhl und das daraus resultierende Wahlrecht zwischen
Elektroroll-stuhl und Hand-Bike bestünden hier nicht. Der Basisausgleich im Bereich
des Gehens umfasse die Fähigkeit, sich in einer Wohnung zu bewegen und die
Wohnung zu verlassen, um bei einem kurzen Spaziergang "an die frische Luft zu
kommen " oder um die - üblicher-weise im Nahbereich der Wohnung liegenden - Stellen
zu erreichen, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen sind. Da der Kläger in der Lage
sei, eine Strecke zwischen 500 und 1000 m mit dem Aktivrollstuhl zurückzulegen, könne
er die üblicherweise im Nahbereich der Wohnung gelegenen Stellen mit dem von ihr
Verfügung gestellten Aktivrollstuhl erreichen. Besonderheiten des Wohnortes seien bei
der Hilfsmittelversorgung nicht zu berücksichtigen.
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Die Beklagte beantragt,
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das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 22.01.2009 aufzuheben und die Klage
abzuweisen.
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Der Kläger beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Er verteidigt die angefochtene Entscheidung: Das Sozialgericht habe insbesondere
zutreffend festgestellt, dass er nicht der Lage sei, sich den Nahbereich mit dem
Aktivrollstuhl zu erschließen. Dazu gehöre nicht nur die Fähigkeit zum Hin-, sondern
auch die zum Rückweg. Wegen der Mitberücksichtigung des Rückweges reduziere sich
die ihm mit dem Aktivrollstuhl mögliche Entfernung auf 250 m pro Strecke. Er setze das
Speedy-Bike, das er ohne fremde HIlfe an den Rollstuhl anzukuppeln könne, für
Spaziergänge und die Erledigung der Alltagsgeschäfte im Nahbereich der Wohnung,
wie zum Beispiel Post, Bank oder Apotheke, ein. Diese Wegstrecke betrage hin- und
zurück circa 2000 m. Es handele sich dabei nicht um dem Sport oder dem
Freizeitbereich zuzurechnende Aktivitäten, sondern um Wege, die zum Grundbedürfnis
der Mobilität beziehungsweise der Erschließung eines gewissen körperlichen
Freiraums gehörten. Nach der Entscheidung des BSG vom 19.04.2007 (B 3 KR 9/06 R)
seien die Verhältnisse des Einzelfalls bei der Beurteilung der Erforderlichkeit der
Hilfsmittelversorgung sehr wohl zu berücksichtigen.
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Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung eines ärztlichen Sachverständigengut-
achtens des Dr. O, Facharzt für Neurologie und Oberarzt der Klinik für Neurologie und
klinische Neurophysiologie am I-Krankenhaus N. In seinem unter dem 24.11.2009
erstatteten Gutachten ist der Sachverständige nach ambulanter Untersuchung des
Klägers zu folgendem Ergebnis gelangt: Die Angaben des Klägers, er könne - abhängig
von Tagesform und Bodenbeschaffenheit - mit dem Aktivrollstuhl 500 bis 1000 m ohne
Pause zurücklegen, seien nachvollziehbar. Die Limitierung der zumutbaren Strecke
ergebe sich vornehmlich durch die Paresen der C8/TH1-versorgten Muskulatur bei
gleichzeitig bestehender Spastik. Mit zunehmender Spastik komme es zu einer
Verschlechterung der Muskelkraft und der Feinmotorik bei gleichzeitig einschießender
Spastik. Für Strecken über 500 m benötige der Kläger Pausen. Bei anschließender
Fortsetzung der Fortbewegung sei davon auszugehen, dass es zu einer immer
rascheren Ermüdbarkeit mit weiterer Verkürzung der Strecke und Verlängerung der
notwendigen Pausen komme.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Streitakten und der Verwaltungsakten der Beklagten, der Gegenstand der mündlichen
Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.
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Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Berufung ist begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Erstattung
der Kosten des selbst angeschafften Hand-Bikes, denn entgegen der Auffassung des
Sozialgerichts hat die Beklagte mit dem angefochtenen Bescheid zu Recht eine
Versorgung des Klägers mit dem beantragten Rollstuhl-Bike abgelehnt.
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Der Kläger hat keinen Anspruch gegen die Beklagte auf Gewährung eines Hand-Bike,
denn ein solches Zuggerät ist zum Ausgleich seiner Behinderung nicht erforderlich. Die
Mobilität des Klägers ist vielmehr mit dem vorhandenen Aktivrollstuhl in ausreichendem
Maß sichergestellt.
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Versicherte haben nach § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V Anspruch auf Versorgung mit
Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu
sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung
auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des
täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind.
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1. Ein Hand-Bike ist nicht zum Gebrauch durch jedermann bestimmt und deshalb kein
allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens. Vielmehr handelt es sich um
eine handbetriebene Zugvorrichtung speziell für Rollstühle, die nur von Kranken und
Behinderten benutzt wird. Das Hilfsmittel ist auch nicht durch Rechtsverordnung
ausgeschlossen.
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2. Es fehlt aber an der Erforderlichkeit der Versorgung mit einem Hand-Bike i.S.d. § 33
Abs. 1 Satz 1 SGB V.
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a) Zur Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung (1. Variante des § 33 Abs. 1 Satz
1 SGB V) benötigt der Kläger das Hand-Bike nicht.
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b) Entgegen seiner Auffassung ist aber die Benutzung des Hand-Bikes auch nicht
erforderlich, um seine Behinderung auszugleichen (3. Variante des § 33 Abs. 1 Satz 1
SGB V).
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aa) Gegenstand des Behinderungsausgleichs sind neben den Mitteln, die unmittelbar
die ausgefallene Funktion ersetzen (unmittelbarer Behinderungsausgleich) auch solche,
die nur die Folgen des Funktionsverlustes ausgleichen. Soweit - wie hier - es nicht um
den Ausgleich der Behinderung als solche, sondern um den Ausgleich der Folgen der
Behinderung geht (sog. mittelbarer Behinderungsausgleich) ist nach ständiger
Rechtsprechung des BSG ein Hilfsmittel von der GKV nur zu gewähren, wenn es die
Auswirkung der Behinderung im gesamten täglichen Leben beseitigt oder mildert und
damit ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens betrifft. Zu den allgemeinen
Grundbedürfnissen des täglichen Lebens gehören das Gehen, Stehen, Sitzen, Liegen,
Greifen, Sehen, Hören, Nahrungaufnehmen, Ausscheiden, die elementare Körperpflege,
das selbständige Wohnen sowie das Erschließen eines gewissen körperlichen oder
geistigen Freiraums (BSG SozR 4-2500 § 33 Nr. 3, 7 m.w.N.).
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bb) Das Grundbedürfnis des "Erschließens eines gewissen körperlichen Freiraums" ist
jedoch von der gesetzlichen Krankenversicherung nur i.S. eines Basisausgleichs der
Behinderung sicherzustellen und nicht i.S.d. vollständigen Gleichziehens mit den
letztlich unbegrenzten Möglichkeiten des Gesunden. Das BSG hat insoweit zunächst
auf diejenigen Entfernungen abgestellt, "die ein Gesunder üblicherweise noch zu Fuß
zurücklegt" (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 7). Später hat es das Grundbedürfnis auf die
Fähigkeit konkretisiert, sich in der eigenen Wohnung zu bewegen und die Wohnung zu
verlassen, um bei einem kurzen Spaziergang "an die frische Luft zu kommen" oder die -
üblicherweise im Nahbereich der Wohnung liegenden - Stellen zu erreichen, an denen
Alltagsgeschäfte zu erledigen sind (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 31, seither ständige
Rechtsprechung). Hierzu zählt es z.B. das Einkaufen, die Erledigung von Post- und
Bankgeschäften sowie den Besuch von Apotheken, Ärzten und Therapeuten (s. etwa
BSG SozR 4-2500 § 33 Nr. 15). Kann sich ein behinderter Versicherter mit Hilfe eines
Selbstfahrerrollstuhls in dem so bezeichneten Nahbereich bewegen, ist dem
Grundbedürfnis auf Fortbewegung genüge getan. Nicht zu den Grundbedürfnissen
rechnet das BSG das Zurücklegen längerer Wegstrecken, wie sie üblicherweise von
Radfahrern oder Joggern zurückgelegt werden (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 31; BSG,
Beschluss vom 22.04.2009 - B 3 KR 54/08 B -). Es hat lediglich für Jugendliche auch
Entfernungen berücksichtigt, die ein Jugendlicher mit dem Fahrrad zurücklegt, wobei
das Hilfsmittel aber nicht wegen der Erweiterung des Freiraums, sondern nur wegen der
dadurch geförderten Einbeziehung eines behinderten Jugendlichen in den Kreis der
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gleichaltrigen gesunden Jugendlichen zugesprochen worden (BSG SozR 3-2500 § 33
Nr. 27). Dagegen ist der Anspruch eines Erwachsenen auf Ausrüstung seines Rollstuhls
mit einer mechanischen Zugvorrichtung der hier streitigen Art verneint worden (BSG
SozR 3-2500 § 33 Nr. 31; kritisch zur Differenzierung zwischen jugendlichen und
erwachsenen Behinderten hinsichtlich des Grundbedürfnisses Radfahren:
Fastabend/Schneider, Das Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung, 2004,
Rdnr. 168 a.E.).
cc) Der vorliegenden Rechtsprechung des BSG lässt sich weder zuverlässig
entnehmen, dass die Versorgung eines Erwachsenen mit einem Speedy-Bike
grundsätzlich ausge-schlossen ist (zu 1), noch welche Wegstrecken ein Versicherter mit
einem handbetriebenen Rollstuhl zurücklegen können muss, damit sein Grundbedürfnis
auf Fortbewegung i.S.d. oben zitierten Rechtsprechung sichergestellt ist (zu 2).
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(1) Das BSG hat allerdings im Urteil vom 16.09.1999 (B 3 KR 2/99 R), einer
unveröffentlichten Parallelentscheidung zu dem in SozR 3-2500 § 33 Nr. 31
veröffentlichten Urteil vom gleichen Tag, ausgeführt, ein Hand-Bike diene nicht dem
Ausgleich der fehlenden Gehfähigkeit, sondern dem Ersatz des Radfahrens. Es hat
damit das Vorbringen des dortigen Klägers, er könne wegen Schmerzen im Schulter-
und Nackenbereich mit dem Greifreifenrollstuhl lediglich Strecken von ca. 1000 m
zurücklegen, als unerheblich bezeichnet, weil sich bei Schmerzzuständen als Folge des
Rollstuhlfahrens allenfalls die Frage stelle, ob eine Versorgung mit einem
Elektrorollstuhl geboten sei. Da das Rollstuhl-Bike für Erwachsene kein Hilfsmittel sei,
stelle sich die Frage eines Wahlrechts bzw. der Wirtschaftlichkeit gegenüber einem
Elektrorollstuhl nicht, da sie voraussetze, dass zwei gleich geeignete Hilfsmittel zur
Wahl stünden.
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Es kann dahinstehen, ob es überzeugend ist, die Hilfsmitteleigenschaft eines Hand-
Bikes bei der Versorgung von Kindern und Jugendlichen zu bejahen, dagegen bei
Erwachsenen zu verneinen; zutreffender dürfte es vielmehr sein, dass es sich zwar um
ein Hilfsmittel handelt, jedoch die Erforderlichkeit im Einzelfall anders zu beurteilen ist.
Das BSG hat jedenfalls in der weiteren Rechtsprechung an seiner apodiktischen
Aussage, dass ein Hand-Bike (nur) auf den Ausgleich der Behinderung außerhalb des
Rahmens eines allgemeinen Grundbedürfnisses abziele, nicht festgehalten (ohne
allerdings die vorgenannte Rechtsprechung ausdrücklich aufzugeben). Im Urteil vom
28.05.2003 (B 3 KR 33/02 R) hat es den auf die Gewährung eines Hand-Bikes
gerichteten Rechtsstreit wegen eines Verfahrensmangels zurückverwiesen und insoweit
dem Berufungsgericht eine Klärung des Sachverhalts zu dem Vortrag des dortigen
Klägers aufgegeben, er sei aus gesundheitlichen Gründen gehindert, sich mit dem
Greifreifenrollstuhl fortzubewegen und die Benutzung eines Elektrorollstuhls sei
gegenüber dem von ihm beanspruchten Hand-Bike kostengünstiger. Es ist also in
diesem Urteil nicht mehr davon ausgegangen, dass ein Hand-Bike grundsätzlich als
Fortbewegungsmittel nicht in Betracht komme. Schließlich hat es im Urteil vom
24.05.2006 (SozR 4-2500 § 33 Nr. 6) einen Anspruch auf die behindertengerechte
Zusatzausrüstung für ein Liegedreirad bejaht, weil das Liegedreirad zur Erschließung
eines über 200 m hinausgehenden Freiraums erforderlich sei. Dabei hat das BSG zum
einen betont, es sei nicht ausgeschlossen, einem Versicherten ein Hilfsmittel, das eine
dem Radfahren vergleichbare Art der Mobilität ermögliche, zu gewähren, wenn damit
zugleich ein Grundbedürfnis, hier: Erschließen des Freiraums anstelle eines sonst
erforderlichen Elektrorollstuhls, erfüllt werde. Zum anderen hat es die gewünschte
Versorgung mit einem Liegedreirad gegenüber dem angebotenen Elektrorollstuhl für
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angemessen und berechtigt erklärt, weil das Liegedreirad objektiv gesundheitliche
Vorteile biete.
Der Rechtsprechung des BSG kann also nicht entnommen werden, dass ungeachtet
des Umstandes, dass ein Hand-Bike (auch) eine deutlich über den - wie auch immer
umschriebenen - Nahbereich hinausgehende Mobilität ermöglicht, als Hilfsmittel für
Erwachsene nicht in Betracht kommt, wenn mit dem Greifreifenrollstuhl die
Bewegungsfreiheit nicht in ausreichendem Maße sichergestellt ist. In diesem
Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass zwar zusammen mit der Antriebseinheit
die Wendigkeit eines Rollstuhls eingeschränkt ist, so dass Geschäfte, Arztpraxen etc.
kaum mit der gesamten Einheit aufgesucht werden können. Das von dem Kläger
begehrte System ermöglicht jedoch ein einfaches An- und Abkuppeln der
Antriebseinheit, die auch von dem Rollstuhlfahrer selbst vorgenommen werden kann (s.
http://www.speedy-reha-technik.de/handbikes). Es ist also möglich, mit Hilfe der
Zugvorrichtung aus eigener Körperkraft die Wegstrecke zum Erreichen der für die
Erledigung von Alltagsgeschäften aufzusuchenden Stellen zurückzulegen und am
Zielort nach Abkuppeln des Hand-Bikes sich "normal" mit dem Rollstuhl fortzubewegen.
Somit kann grundsätzlich ein Hand-Bike als Alternative zu einem Elektrorollstuhl in
Betracht kommen, falls mittels eines Greifreifenrollstuhls die Mobilität nicht in
ausreichendem Maße sichergestellt ist. Der Kläger hat auch glaubhaft vorgetragen, er
könne sein Speedy-Bike selbständig benutzen.
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(2) Wie oben dargelegt, hat das BSG das Grundbedürfnis auf Bewegungsfreiheit
dahingehend umschrieben, es betreffe die Fähigkeit, außerhalb der Wohnung bei einem
kurzen Spaziergang "an die frische Luft" zu kommen oder die - üblicherweise im
Nahbereich liegenden Stellen zu erreichen, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen
seien. Es hat zuletzt im Urteil vom 12.09.2009 (B 3 KR 8/08 R) verlangt, der Versicherte
müsse im Stande sein, den Nahbereich der Wohnung mit dem handbetriebenen
Rollstuhl ohne übermäßige Anstrengung, schmerzfrei und aus eigener Kraft in
normalem Rollstuhltempo zu bewältigen.
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Aus diesen Aussagen lässt sich keine Mindeststrecke ableiten, die dem Behinderten
möglich sein muss, zumal die genannten Aktivitäten unterschiedlicher Natur sind.
Während es für einen "kurzen Aufenthalt an der frischen Luft" nicht darauf ankommt,
welche Wegstrecke ein behinderter Mensch noch zurücklegen kann, gilt dies für die
Erledigung von Alltagsgeschäften nicht. Hier stellt sich die Frage, welche Wegstrecke
zum Erreichen der - angeblich - üblicherweise im Nahbereich von Wohnungen
gelegenen Stellen zurückzulegen sind, die der Versicherte zudem in zumutbarer Zeit
bewältigen können muss, damit davon ausgegangen werden kann, er könne die
bezeichneten Alltagsgeschäfte erledigen.
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Aus der Rechtsprechung liegen bisher keine klaren Aussagen zu einer
Mindestwegstrecke vor: Das BSG hat lediglich eine Wegstrecke von 200 m nicht für
ausreichend gehalten (SozR 4-2500 § 33 Nr. 12 Rz. 15; ebenso LSG NRW, Urteil vom
17.10.2000 - L 5 KR 84/00 -; s.a. Hessisches LSG, Urteil vom 20.09.2006 - L 8/14 KR
376/04 -: 100 m nicht ausreichend). In der Rechtsprechung der Instanzgerichte sind -
ohne diese Größe zu begründen - Wegstrecken von 1000 m (Hessisches LSG, Urteil
vom 24.08.2008 - L 8 KR 40/07 -) oder 500 m (Sächsisches LSG, Urteil vom 5.4.2006 - L
1 KR 79/05 - (allerdings unter Berücksichtigung des konkreten Wohnumfeldes); SG
Aachen, Urteil vom 17.06.2007 - S 13 (2) KR 26/07 -) für ausreichend gehalten worden.
Das LSG Nieder-sachsen-Bremen (NZS 2005, 255) hat bezweifelt, dass innerhalb eines
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räumlichen Bereichs von 500 m Alltagsgeschäfte erledigt werden können; im konkreten
Fall hat es jedoch darauf abgestellt, dass das zugesprochene Versehrten-Fahrrad zum
Transport der eingekauften Lebensmittel und Gegenstände des täglichen Bedarfs
erforderlich sei.
Erst recht lässt sich aus der Annahme des BSG, die Stellen, an denen die
Alltagsgeschäfte zu erledigen seien, lägen "üblicherweise" im Nahbereich der
Wohnung, nichts für die Bestimmung einer Mindestwegstrecke gewinnen. Tatsächliche
Feststellungen dazu, welche Entfernungen "üblicherweise" zum Erreichen von
Geschäften, Arztpraxen, Apotheken, etc. zurückzulegen sind, hat das BSG nämlich nicht
getroffen. Auf die konkreten Verhältnisse des Wohnumfeldes (einschließlich der
topographischen Gegebenheiten) soll es auch nicht ankommen, entscheidend soll
vielmehr ein "allgemeiner, an durchschnittlichen Lebens- und Wohnverhältnissen
orientierter Maßstab" sein (BSG, Urteil vom 12.08.2009 - B 3 KR 8/08 R -). Insoweit
erscheint zweifelhaft, dass angesichts der Vielfältigkeit der Lebensverhältnisse sich
tatsächliche Feststellungen zur Bestimmung "durchschnittlicher" Verhältnisse treffen
lassen. Soll es im Übrigen darauf ankommen, dass der Versicherte Alltagsgeschäfte
erledigen kann, wäre die Orientierung am "Durchschnitt" (d.h. einem zwischen zwei
Extremen liegenden Ergebnis, s. Duden, Das Bedeutungswörterbuch, 3. Aufl., Duden
Band 10, Stichwort "Durchschnitt") nicht zielführend. Mit Blick auf die Betonung des
Einzelfalles in § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V und die ausdrückliche Forderung nach
Berücksichtigung der örtlichen Verhältnisse in § 33 Satz 1 Erstes Buch
Sozialgesetzbuch (SGB I) würde dem Versorgungsanspruch eines Versicherten, dessen
Wohnort nicht diese "durchschnittlichen Verhältnisse" aufweist, kaum Rechnung
getragen werden.
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dd) Da es andererseits für eine Massenverwaltung völlig unpraktikabel wäre, bei
entsprechenden Leistungsanträgen die jeweils konkreten Wohnumfeldverhältnisse zu
ermitteln, dürfte es sachgerechter sein, die Formel, der Versicherte müsse die Stellen im
Nahbereich, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen seien, aufzugeben und davon
unabhängig den räumlichen Bereich zu bestimmen, den sich ein behinderter
Versicherter mittels eines Greifrollstuhls noch erschließen können muss.
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(1) Das BSG hat zunächst im Urteil vom 08.06.1994 (a.a.O.) auf diejenigen
Entfernungen abgestellt, die ein Gesunder üblicherweise zu Fuß zurücklegt. Diese
Formulierung scheint an die für die Erteilung des Merkzeichens "G" (erhebliche
Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) bestimmten
Voraussetzungen anzuknüpfen. Nach § 146 Abs. 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch
(SGB IX) liegt eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im
Straßenverkehr vor, die nach § 145 Abs. 1 SGB IX zur unentgeltlichen Beförderung im
Nahverkehr berechtigt, wenn die behinderten Menschen keine Wegstrecken im
Ortsverkehr mehr zurücklegen können, die "üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt
werden". In der Anlage 2 zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung Teil D Nr. 1 wird in lit.
b Satz 3 als ortsübliche Wegstrecke eine Strecke von etwa 2 km, die in etwa einer
halben Stunde zurückgelegt wird, definiert. Mit dieser Bestimmung ist die früher von der
Rechtsprechung (BSGE 62, 273) zu § 59 Schwerbehindertengesetz festgelegte
Wegstrecke übernommen worden.
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Auf diese im Schwerbehindertenrecht maßgebliche Wegstrecke dürfte aber für die GKV
nicht zurückgegriffen werden können. Zweck der genannten Regelung ist es, die
Teilhabe schwerbehinderter Menschen am öffentlichen Personenverkehr wenigstens
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teilweise zu fördern. Sie erhalten einen erleichterten Zugang zu öffentlichen
Verkehrsmitteln, wenn ihre Behinderung die Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr
betrifft (Masuch in: Hauck/Noftz, SGB IX, § 145 Rdnr. 1c). Ihnen wird ein finanzieller
Ausgleich dafür gewährt, dass öffentliche Verkehrsmittel auf Strecken benutzt werden
müssen, die andere üblicherweise zu Fuß zurücklegen und die der Behinderte ohne
gesundheitliche Beeinträchtigungen selbst noch laufen würde (BSGE 62, 273, 276 f).
Bei der Festlegung der ortsüblichen Wegstrecke hat das BSG dementsprechend
berücksichtigt, dass nicht behinderte Menschen nicht nur die Wege zu den Haltestellen
öffentlicher Verkehrsmittel, sondern vielfach auch den Weg zwischen zwei Haltestellen
zu Fuß zurücklegen, anstatt für diese kurze Strecke öffentliche Verkehrsmittel zu
benutzen (BSG a.a.O., S. 280). Somit schließt die "ortsübliche Wegstrecke" i.S.d.
Schwerbehindertenrechts auch Entfernungen ein, die (jedenfalls z.T.) mit öffentlichen
Verkehrsmitteln zurückgelegt werden und geht somit deutlich über den im Rahmen des
§ 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V maßgeblichen Nahbereich hinaus.
(2) Der Senat hält dagegen die Orientierung an dem in der gesetzlichen
Rentenversicherung zur Anwendung kommenden Grenzwert von 500 m für sachgerecht.
Bekanntlich gehört zur Erwerbsfähigkeit eines Versicherten i.S.d. § 43 Sechstes Buch
Sozialgesetzbuch (SGB VI) auch das Vermögen, eine Arbeitsstelle aufzusuchen. Soweit
der Versicherte nicht über ein Kfz verfügt und für den Arbeitsweg auf die Benutzung
öffentlicher Verkehrsmittel angewiesen ist, muss er in der Lage sein, Entfernungen über
500 m zu Fuß in zumutbarer Zeit (maximal 20 Minuten) zurückzulegen. Für die
Bestimmung dieser erforderlichen Fußwegstrecke hat das BSG wegen der
Notwendigkeit einer von den konkreten Gegebenheiten unabhängigen
allgemeingültigen Abgrenzung des Versicherungsrisikos und der Anforderungen einer
Massenverwaltung einen generalisierenden Maßstab angesetzt. Es ist aufgrund
allgemeiner Erfahrung davon ausgegangen, dass Wegstrecken über 500 m
üblicherweise zu Fuß zurückzulegen sind, um Arbeitsstellen oder Haltestellen des
öffentlichen Nahverkehrs zu erreichen (zusammenfassend BSG SozR 3-2200 § 1247
Nr. 10, juris Rz. 18 ff.). Wenn somit ein Erwerbstätiger in der Lage sein muss, von seiner
Wohnung aus 500 m zu Fuß zu gehen, um dann mit Hilfe öffentlicher Verkehrsmittel
einen Arbeitsplatz zu erreichen, dürfte diese Entfernung auch die Grenze markieren, die
ein Behinderter mit einem Aktivrollstuhl zurücklegen können muss, um sich den
Nahbereich seiner Wohnung zu erschließen. Geht man davon aus, dass öffentliche
Nahverkehrsmittel - ebenso wie ein Pkw - typischerweise dazu dienen, den jenseits des
Nahbereichs liegenden räumlichen Bereich ("Fernbereich") zu erschließen, zählt (nur)
die Strecke für das Erreichen öffentlicher Verkehrsmittel noch zum Nahbereich. Wenn
erst jenseits dieser Grenzstrecke typischerweise die Inanspruchnahme eines Autos oder
öffentlicher Verkehrsmittel beginnt, kann ein behinderter Mensch einen Elektrorollstuhl
bzw. eine gleichwertige Mobilitätshilfe nur von der GKV beanspruchen, wenn er diese
Grenzstrecke nicht aus eigener Kraft zurücklegen kann, nicht jedoch für das
Zurücklegen weiterer Wegstrecken. Dem Charakter einer Normstrecke entsprechend
kommt es dann auf die örtlichen topographischen Verhältnisse und besondere
Beschaffenheiten des konkreten Weges nicht an (vgl. BSG a.a.O., juris Rz. 19).
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dd) Erforderlich i.S.d. § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V ist somit ein Elektrorollstuhl bzw. ein
gleich geeignetes Zuggerät für einen Rollstuhl erst, wenn ein behinderter Mensch
mittels eines Aktivrollstuhls eine Strecke von (geringfügig) mehr als 500 m nicht in
zumutbarer Zeit zurücklegen kann.
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Diese Voraussetzungen liegen bei dem Kläger nicht vor. Er kann nach dem Gutachten
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von Dr. O selbst an "schlechten" Tagen mit dem Greifrollstuhl 500 m zurücklegen. Diese
Wegstrecke kann er, da nichts dafür ersichtlich ist, dass ihm mit dem vorhandenen
Aktivrollstuhl nur ein sehr langsames Fortkommen möglich ist, unter Zugrundelegung
eines langsamen Fußgängertempos (3 km pro Stunde) in etwa 10 Minuten bewältigen.
Wenn nach einer solchen Strecke aufgrund der Belastung die einschießende Spastik
eine Pause erforderlich macht, kann der Kläger seinen Weg danach nach Lösen der
Spastik fortsetzen. Er hat selbst in der mündlichen Verhandlung nur eine Zeit von
maximal 40 Sekunden bis zum Lösen der Verkrampfung genannt. Selbst wenn man die
von Dr. O geschätzte Pause von 5 Minuten zugrundelegt, ist der Kläger damit innerhalb
des zeitlichen Rahmens von 20 Minuten in der Lage, deutlich über 500 m mittels des
Aktivrollstuhls zurückzulegen. Bei dieser Sachlage kann dahinstehen, ob seine
Fähigkeit an "schlechten" Tagen für einen Versorgungsanspruch maßgebend oder ob
nicht angesichts des Umstandes, dass es nach eigener Einschätzung des Klägers
durchschnittlich in der Woche fünf "gute" und zwei "schlechte" Tage gibt, das
weitergehende Leistungsvermögen an "guten" Tagen entscheidend sein müsste.
Es konnte deshalb auch offen bleiben, ob die für die Wegefähigkeit im Sinne des
Erwerbsminderungsrentenrechts entwickelte Zeitgrenze von etwa 20 Minuten auf den
hier fraglichen krankenversicherungsrechtlichen Behinderungsausgleich durch
Hilfsmittel zu übertragen ist. Daran bestehen allerdings schon deshalb erhebliche
Zweifel, weil Arbeitswege zweimal täglich und im Allgemeinen häufiger sowie teilweise
unter widrigen Witterungsverhältnissen und auch unter mehr Zeitdruck zurückzulegen
sind und dem Versicherten neben der reinen Arbeitszeit keine zu langen Zeiten für den
Arbeitsweg zugemutet werden können. Demgegenüber kann einem behinderten
Menschen für das Zurücklegen der in der Regel selteneren Wegstrecken im Rahmen
des Grundbedürfnisses auf Mobilität auch eine längere Zeitspanne zugemutet werden
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Das Urteil des Sozialgerichts konnte damit keinen Bestand haben.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
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Der Senat hat die Revision zugelasssen, weil er der Frage, unter welchen
Voraussetzungen ein Anspruch eines gehbehinderten Versicherten auf eine über einen
Aktivrollstuhl hinausgehende Mobilitätshilfe besteht, grundsätzliche Bedeutung beimisst
(§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG), da in einer Vielzahl von Fällen die Bestimmung des
maßgeblichen Nahbereichs umstritten ist und einer höchstrichterlichen Klärung bedarf.
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