Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 15.12.2004

LSG NRW: gift, versorgung, angriff, gesundheit, stoff, dosierung, heilmittel, behandlung, einwirkung, strafgesetzbuch

Landessozialgericht NRW, L 10 VG 22/04
Datum:
15.12.2004
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
10. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 10 VG 22/04
Vorinstanz:
Sozialgericht Münster, S 10 VG 77/04
Sachgebiet:
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des
Sozialgerichts Münster vom 26. Juli 2004 wird zurückgewiesen. Kosten
sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird
nicht zugelassen.
Tatbestand:
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Der Kläger begehrt Versorgung nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von
Gewalttaten (Opferentschädigungsgesetz - OEG).
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Der 1952 geborene Kläger beantragte erstmals am 20.11.2003 mit der Begründung
Versorgung nach dem OEG, dass ihm vorsätzlich Gift beigebracht worden sei. Er sei auf
Veranlassung von Dr. I, der bei ihm eine "abnorme Persönlichkeitsstruktur mit
Realitätsbezugsstörung und querulatorischer Persönlichkeitsentwicklung" sowie ein
"Borderline-Syndrom" diagnostiziert hat (Bericht des Dr. I vom 12.05.1997), in der Klinik
und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Westfälischen X-Universität N
behandelt worden. Dort sei ihm 1997 das Neuroleptikum Orap und später von dem
Psychotherapeuten Dr. T das Schlafmittel Promethazin-neuraxpharm verordnet worden,
obwohl diese Medikamente ausweislich der Gebrauchsinformation erhebliche
Nebenwirkungen haben könnten. Er sei deshalb medikamentös und seelisch
geschädigt.
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Nach Auswertung der von dem Kläger eingereichten Unterlagen lehnte der Beklagte
den Antrag mit Bescheid vom 22.01.2004 und Widerspruchsbescheid vom 01.03.2004
im Wesentlichen mit der Begründung ab, der Kläger habe den Nachweis, sich die
geltend gemachte gesundheitliche Schädigung durch einen vorsätzlichen,
rechtswidrigen tatsächliche Angriff im Sinne des § 1 Absatz 1 Satz 1 OEG zuzogen zu
haben, nicht erbracht.
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Die dagegen am 18.03.2004 u.a. mit der Begründung erhobene Klage, die Medikamente
seien ohne medizinische Notwendigkeit verordnet und ihm seien deren
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Nebenwirkungen verschwiegen worden, hat das Sozialgericht (SG) Münster unter
Bezugnahme auf die Begründung der angefochtene Bescheide mit Gerichtsbescheid
vom 26.07.2004 zurückgewiesen.
Mit seiner gegen den am 28.07.2004 zugestellten Gerichtsbescheid eingelegten
Berufung vom 27.08.2004 verfolgt der Kläger sein Begehren weiter.
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Der Kläger beantragt,
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den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Münster vom 26. Juli 2004 abzuändern und
den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 22. Januar 2004 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 01. März 2004 zu verurteilen, ihm ab November 2003
Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz zu gewähren.
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Der Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte, die
Akten des SG Münster S 14 (8) J 94/83, S 14 J 64/97, S 14 J 217/97, S 14 RJ 121/98
und S 14 RJ 173/98 sowie die Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen.
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Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Berufung des Klägers ist nicht begründet.
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Der Kläger ist durch den angefochtenen Bescheid des Beklagten vom 22.01.2004 in der
Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.03.2004 nicht beschwert; er hat keinen
Anspruch auf Versorgung nach dem OEG.
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Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG erhält derjenige, der infolge eines vorsätzlichen,
rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine [ ...] Person oder [ ...] eine gesundheitliche
Schädigung erlitten hat, auf seinen Antrag wegen der gesundheitlichen und
wirtschaftlichen Folgen Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des
Bundesversorgungsgesetzes. Einem tätlichen Angriff steht die vorsätzliche Beibringung
von Gift bei (§ 1 Abs. 2 Nr. 1 OEG).
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Bei dem in § 1 Abs. 2 Nr. 1 OEG genanntem Tatbestand handelt es sich um eine
Spezialvorschrift, bei der der allgemeine Tatbestand des tätlichen Angriffs i.S.d. § 1 Abs.
1 OEG nicht mehr geprüft zu werden braucht. Mithin würde die Frage, ob hier ein
tätlicher Angriff vorliegt, entfallen, wenn bereits eine Giftbeibringung im Sinne des § 1
Abs. 2 Nr. 1 OEG zu bejahen wäre (Urteil des BSG vom 18.10.1995 - 9 RVg 5/95 - =
SozR 3-3800 § 2 Nr. 3 und BSGE 77, 18 - 21). Dies ist jedoch nicht der Fall; denn eine
vorsätzliche Giftbeibringung liegt nicht vor.
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Unter Gift ist jeder anorganische oder organische Stoff zu verstehen, der unter
bestimmten Bedingungen lediglich durch chemische oder chemisch-physikalische
Wirkung die Gesundheit zu zerstören vermag (Wilke, Soziales Entschädigungsrecht, § 1
OEG, Rdnr. 15). Ob die von dem Kläger genannten Medikamente Gift in diesem Sinne
darstellen, kann dahin stehen. Denn es ist nicht festzustellen, dass die dem Kläger nach
seinen Angaben verabreichten Medikamente geeignet waren, seine Gesundheit zu
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zerstören. Die Frage, ob ein Gift oder anderer Stoff geeignet ist, die Gesundheit zu
zerstören, ist nicht nach der abstrakten Möglichkeit, sondern nach den besonderen
Umständen des Einzelfalls im Hinblick auf die Quantität und Qualität des beigebrachten
Stoffes, der körperlichen Beschaffenheit des Opfers sowie der Art der Anwendung zu
beurteilen (vgl. Stree in Schönke-Schröder, Strafgesetzbuch, 26. Auflage, § 224 Rdnr.
2d). So können z.B. auch unschädliche Stoffe wie Zucker bei Zuckerkranken (Stree
a.a.O.) oder - wie hier - Heilmittel in falscher Dosierung Gift sein, denn "Alle Dinge sind
Gift, allein die Dosis macht, dass ein Ding kein Gift ist" (Paracelsus, 1538).
Davon ausgehend ergibt sich vorliegend jedoch kein Ansatz dafür, dass dem Kläger die
von ihm genannten im Rahmen einer ärztlichen Behandlung verschriebenen
Medikamente als Gift, nämlich als Heilmittel in vorsätzlich falscher Dosierung
beigebracht worden sind.
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Auch ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff i.S.d. § 1 Abs. 1 OEG ist nicht
festzustellen. Dem Kläger wurden die Medikamente - schon nach seinem eigenen
Vorbringen - im Rahmen einer ärztlichen Behandlung verschrieben; für die Annahme
einer vorsätzlichen, in feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf den Körper des
Klägers zielenden Einwirkung fehlt somit jede objektive Grundlage.
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Unabhängig davon ist eine gesundheitliche Schädigung als Folge der Verabreichung
der Medikamente weder erkennbar noch von dem Kläger hinreichend dargetan.
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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
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Die Revision war nicht zuzulassen (§ 160 Abs. 1 und 2 SGG).
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