Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 04.12.2003

LSG NRW (krankenpflege, leistung, zeitlicher zusammenhang, gesetzliche grundlage, verhältnis zwischen, nahrungsaufnahme, krankenversicherung, höhe, ehemann, gesetz)

Landessozialgericht NRW, L 5 KR 23/03
Datum:
04.12.2003
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
5. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 5 KR 23/03
Vorinstanz:
Sozialgericht Dortmund, S 44 KR 334/02
Nachinstanz:
Bundessozialgericht, B 3 KR 9/04 R
Sachgebiet:
Krankenversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts
Dortmund vom 23.01.2003 geändert. Die Beklagte wird unter Änderung
des Bescheides vom 08.04.2002 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 03.07.2002 verurteilt, die Klägerin von
den Kosten der selbstbeschafften häuslichen Krankenpflege für die Zeit
vom 01.04.2002 bis zum 30.06.2002 in Höhe von 1.563,38 Euro
freizustellen. Die Beklagte hat der Klägerin die Kosten des Verfahrens
zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
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Die Beteiligten streiten über die Kostenübernahme für Leistungen der
Behandlungspflege.
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Die bei der Beklagten versicherte Klägerin ist 1921 geboren. Bei ihr liegt ein
demenzielles Syndrom mit Desorientiertheit sowie ein hirnorganisches Anfallsleiden
vor. Sie bezieht aus der Pflegeversicherung Leistungen nach der Pflegestufe III; nach
dem Pflegegutachten vom 22.06.1999 bestand ein Hilfebedarf im Bereich der
Grundpflege von 245 Minuten, wobei seinerzeit die Nahrungsaufnahme
fremdhilfebedürftig und zeitintensiv war. Seit März 2002 ist die Klägerin mit einer PEG-
Sonde versorgt, über die sie die Nahrung erhält. Die Klägerin lebte im streitigen
Zeitraum zusammen mit ihrem Ehemann in einem Haushalt.
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Die Ärztin für Allgemeinmedizin Dr. X verordnete am 26.03.2002 Behandlungspflege in
Gestalt von zweimal täglicher Medikamentengabe für die Zeit vom 01.04. bis
30.06.2002. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 08.04.2002 die Gewährung dieser
Leistung ab. Grundsätzlich stelle die Medikamentengabe eine verordnungsfähige
Leistung der häuslichen Krankenpflege dar, die zusätzlich zu den Leistungen der
Pflegeversicherung erfolgen könne. Das Bundessozialgericht (BSG) habe aber
nunmehr im Urteil vom 30.10.2001 (SozR 3-2500 § 37 Nr. 3) entschieden, dass
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medizinische Hilfeleistungen bei Pflegebedürftigen, die in untrennbarem zeitlichen
Zusammenhang mit der Grundpflege erfolgten, von der Krankenkasse nicht mehr
gesondert zu vergüten seien. Die von der Rechtsprechung genannten Voraussetzungen
für den Zusammenhang beider Leistungen lägen vor, denn nach dem Pflegegutachten
werde Hilfe bei der mundgerechten Nahrungszubereitung/Nahrungsaufnahme benötigt,
so dass die verordnete Maßnahme der Medikamentengabe in unmittelbarem
Zusammenhang mit Leistungen der Pflegeversicherung stünden. Auf den Widerspruch
der Klägerin befragte die Beklagte mit einem Vordruck Dr. X, ob die Medikamente im
zeitlichen Zusammenhang mit der Nahrungsaufnahme genommen werden sollten. Dies
bejahte Dr. X (Auskunft vom 05.06.2002), wobei sie darauf hinwies, da die Klägerin über
ein PEG mit Sondenkost ernährt werde, die über 12 Stunden verteilt laufe, sei die
Medikamentengabe von der Nahrungsaufnahme nicht zu trennen. Mit
Widerspruchsbescheid vom 03.07.2002 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.
Mit der am 11.07.2002 erhobenen Klage hat die Klägerin geltend gemacht, es treffe
nicht zu, dass Angehörige die Medikamentengabe vornehmen könnten (mit dieser
Begründung hatte die Beklagte in dem Verfahren SG Dortmund S 44 KR 263/01 eine
Leistungsgewährung für das erste Halbjahr 2001 abgelehnt). Die Beklagte gehe auch
zu Unrecht davon aus, dass grundsätzlich die Medikamentengabe von den Leistungen
der Pflegeversicherung umfasst sei. Das genannte Urteil des BSG könne nicht zu einer
Änderung der bisherigen Praxis führen. Zudem seien beide Maßnahmen nicht
untrennbar miteinander verbunden.
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Das Sozialgericht hat Dr. X sowie die Leiterin des die Klägerin betreuenden
Pflegedienstes, die Zeugin X1, vernommen. Dr. X hat bekundet, sie sei zunächst davon
ausgegangen, dass der Ehemann der Klägerin die Medikamentengabe vornehmen
könne. Später habe sie bei einem Test festgestellt, dass er dazu nicht in der Lage sei.
Seit der Versorgung mit der PEG-Sonde erhalte die Klägerin die Medikamente
kleingestampft mittels der Sonde. Da sie inbesondere ein Arzneimittel für den Magen
erhalte, sei beim Legen der Sonde auch wichtig gewesen, dass sie die Medikamente
erst nach den Mahlzeiten und nicht nüchtern einnehme. Die Zeugin X1 hat ausgesagt,
nach ihrer Einschätzung sei der Ehemann nicht in der Lage gewesen, für die
regelmäßige Medikamentengabe bei der Ehefrau zu sorgen. Seit März 2002 würden die
Medikamente gemörsert und zusammen mit der Sondenkost mit der Sonde verabreicht.
Auf nüchternen Magen könnten die Medikamente nicht gegeben werden, weil die
Klägerin auch an einem Magengeschwür leide. Wegen der Einzelheiten der Aussagen
wird auf die Sitzungsniederschrift vom 25.09.2002 Bezug genommen.
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Mit Urteil vom 23.01.2003 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Die
Medikamentengabe könne nicht als Leistung der häuslichen Krankenpflege
beansprucht werden, da diese Maßnahme in unmittelbarem Zusammenhang mit einer
Verrichtung aus dem Bereich der Grundpflege erfolge. Wegen des Magenleidens dürfe
die Klägerin die Medikamente nicht auf nüchternen Magen einnehmen, so dass die
gleichzeitige Verabreichung von Nahrung und Medikamenten aus medizinischen
Gründen erforderlich sei.
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Die Klägerin bezweifelt im Berufungsverfahren das Bestehen eines unmittelbaren
Zusammenhangs zwischen beiden Maßnahmen. Sie weist insoweit darauf hin, die
Medikamente würden nicht auf einmal über die Sonde, sondern dosiert verabreicht. Der
Pflegedienst habe für die Monate April und Juni 2002 Kosten in Höhe von 515,58 Euro
und für den Mai 2002 in Höhe von 532,58 Euro berechnet; eine Zahlung sei bisher nicht
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erfolgt.
Die Klägerin beantragt,
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das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 23.01.2003 zu ändern und die Beklagte
unter Aufhebung des Bescheides vom 08.04.2002 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 03.07.2002 zu verurteilen, sie von den Kosten der
häuslichen Krankenpflege für die Zeit vom 01.04. bis 30.06.2002 in Höhe von 1.563,38
Euro freizustellen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Sie hält unter Bezugnahme auf ihren erstinstanzlichen Vortrag an ihrer Auffassung fest,
dass die streitige Maßnahme der Behandlungspflege in einem untrennbaren
Zusammenhang mit der Grundpflege stehe, so dass eine Leistungsgewährung aus der
Krankenversicherung ausscheide.
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Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte sowie der Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen, der Gegenstand der
mündlichen Verhandlung gewesen ist.
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Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Berufung der Klägerin ist begründet, denn das Sozialgericht hat zu
Unrecht die Ablehnung des Antrags auf Behandlungspflege durch die Beklagte
bestätigt. Die Klägerin hatte vielmehr einen Anspruch auf diese Leistung, so dass sie
die Freistellung von den ihr durch die rechtswidrige Ablehnung entstandenen Kosten
verlangen kann.
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I. 1. Nach § 37 Abs. 2 Satz 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) erhalten
Versicherte in ihrem Haushalt als häusliche Krankenpflege Behandlungspflege, wenn
sie zur Sicherung des Ziels der ärztlichen Behandlung erforderlich ist (sog.
Behandlungssicherungspflege). Dieser Anspruch auf häusliche Krankenpflege besteht,
was auch die Beklagte grundsätzlich nicht in Frage stellt, neben den Leistungen bei
häuslicher Pflege aus der gesetzlichen Pflegeversicherung. Die von Dr. X verordnete
Medikamentengabe zählt zu den im Rahmen der Behandlungspflege
verordnungsfähigen Leistungen (Nr. 26 der Anlage der Richtlinien des
Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen über die Verordnung von häuslicher
Krankenpflege nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 vom 16.02.2000 (BAnz Nr. 91 vom
13.05.2000)). Die medizinische Notwendigkeit der Medikamentengabe steht
unabhängig von der Ernährung der Klägerin über eine Sonde angesichts ihrer
Desorientiertheit außer Zweifel. Ebensowenig ist der Anspruch nach § 37 Abs. 3 SGB V
ausgeschlossen, weil der im Haushalt lebende Ehemann nach den eindeutigen
Bekundungen der Zeuginnen Dr. X und X1 die Medikamente nicht verabreichen kann.
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2. Die Leistungspflicht der Beklagten entfällt auch nicht deshalb, weil die benötigte
Maßnahme der Behandlungspflege in die Hilfeleistung bei Verrichtungen der
Grundpflege nach § 14 Abs. 4 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) einbezogen und
damit Gegenstand der Leistungspflicht der Pflegekasse ist.
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a) Nach der Rechtsprechung des BSG zählen krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen
zum Grundpflegebedarf nach § 14 Abs. 4 SGB XI, wenn eine solche Maßnahme
entweder (a) untrennbarer Bestandteil einer Katalogverrichtung des § 14 Abs. 4 SGB XI
ist oder (b) mit einer solchen Verrichtung objektiv notwendig in einem unmittelbaren
zeitlichen Zusammenhang steht (BSG SozR 3-3300 § 14 Nr. 9 S. 60; SozR 3-2500 § 37
Nr. 3 S. 26; "in unmittelbarem zeitlichen und sachlichen Zusammenhang mit dieser Hilfe
erforderlich wird", so die Formulierung zu (b) in BSGE 82, 276, 279; SozR 3-3300 § 14
Nr. 11 S. 80). Bei Erfüllung einer dieser Voraussetzungen ist der zeitliche Aufwand für
die Maßnahme der Behandlungspflege bei der Ermittlung des Gesamtbedarfs für die
Grundpflege bei der jeweiligen Verrichtung aus dem Katalog des § 14 Abs. 4 SGB XI mit
einzubeziehen und kann sich somit auf die Stufe der Pflegebedürftigkeit (§ 15 Abs. 1, 3
SGB XI) auswirken.
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b) Wird die Maßnahme der Behandlungspflege insoweit in die Leistungen der
Pflegeversicherung einbezogen, soll nach der Entscheidung des BSG vom 30.10.2001
(a.a.O. S. 23) grundsätzlich ein dieselbe Maßnahme betreffender Anspruch auf
häusliche Krankenpflege als Sachleistung der Krankenversicherung ausscheiden, weil
sie nicht mehr i.S.d. § 12 Abs. 1 SGB V notwendig sei. Unabhängig davon, ob hier
wegen der zeitgleichen Medikamentengabe mit der Verabreichung der Sondenkost die
genannten Voraussetzungen für eine Einbeziehung der Maßnahme zu der
Nahrungsaufnahme (§ 14 Abs. 4 Nr. 2 SGB XI) gegeben ist, hat der Senat Bedenken,
der Rechtsprechung des BSG in diesem Punkt zu folgen.
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aa) Ausgangspunkt der Rechtsprechung des BSG für die Einbeziehung
krankheitsspezifischer Hilfeleistungen in die Verrichtungen der Grundpflege war es,
eine (begrenzte) Ausweitung des Grundpflegebedarfs im Rahmen der
Pflegeversicherung zu ermöglichen. Im Urteil vom 19.02.1998 (BSGE 82, 27, 30 ff.) wird
darauf hingewiesen, dass die volle Einbeziehung krankheitsspezifischer
Pflegemaßnahmen zum pflegerelevanten Hilfebedarf sogar eher dem Ziel der
Pflegeversicherung, die häusliche Pflege zu fördern, entspreche. Die Versicherten
müssten entweder aus der Pflegeversicherung oder der Krankenversicherung die
erforderlichen Leistungen erhalten, um die elementare Lebensführung zu Hause
sicherzustellen. Wegen der Regelung in § 37 Abs. 3 SGB V entlasteten sich aber die
Krankenversicherungsträger vielfach zu Lasten der pflegenden Angehörigen, so dass
eigentlich konsequenterweise diese krankheitsspezifischen Maßnahmen bei der
Bemessung des Pflegebedarfs berücksichtigt werden müssten. Dabei hat das BSG
zugleich ausgeführt, dass der Begriff der Behandlungspflege ohnehin inhaltlich nicht
eindeutig zu definieren sei. Es hat insoweit gemeint, eine "sachgerechte
Gesetzesauslegung" erlaube es jedenfalls, Maßnahmen der Behandlungspflege im
weitesten Sinne bei der Ermittlung des Pflegebedarfs zu berücksichtigen, wobei die in
der Entscheidung zunächst genannten Kriterien für die Einbeziehung (zeitlicher
Zusammenhang zwischen den Maßnahmen und Nichterforderlichkeit von Fachkunde,
a.a.O. S. 34) in der weiteren Rechtsprechung im oben dargestellten Sinne präzisiert
worden sind. Ziel der Entscheidung (und der weiteren Rechtsprechung) war es also,
den Bereich der Grundpflege zu erweitern und Versicherten dadurch Leistungen aus der
Pflegeversicherung einzuräumen.
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bb) Soweit ersichtlich hat das Urteil vom 30.10.2001 (a.a.O.) erstmals dazu geführt, dass
wegen dieser Erweiterung des Bereichs der Grundpflege eine Leistung der
Krankenversicherung versagt worden ist. Zwar erscheint es auf den ersten Blick
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konsequent, dass eine krankheitsspezifische Pflegemaßnahme, die Bestandteil einer
Pflegeverrichtung nach § 14 Abs. 4 SGB XI ist, als Behandlungspflege nach § 37 SGB V
nicht in Betracht kommt (so Mrozynski in: Wannagat, Sozialgesetzbuch, § 37 SGB V
Rdn. 26). Jedoch muss in diesem Zusammenhang der begrenzte Leistungsumfang der
Pflegeversicherung berücksichtigt werden. Die Aussage, eine gesetzliche Leistung der
Krankenversicherung sei i.S.d. § 12 Abs. 1 SGB V nicht notwendig, wenn sie bei den
Leistungen der Pflegeversicherung berücksichtigt worden sei, trifft nur zu, wenn
tatsächlich in der Pflegeversicherung unabhängig vom sonstigen Hilfebedarf bei den
Katalogverrichtungen dieser medizinische "Mehraufwand" ausgeglichen wird. Dies ist
jedoch in vielen Fällen nicht so. Das Gesetz sieht für die ambulanten Leistungen der
Pflegeversicherung einen nach Pflegestufen (§ 15 Abs. 1, 3 SGB XI) gestaffelten
Leistungsumfang vor (§§ 36 Abs. 3, 37 Abs. 1 Satz 3 SGB XI). Nach den festgelegten
Obergrenzen für die einzelnen Pflegestufen können die Leistungen den Pflegebedarf
allenfalls "in der Regel" (so die Begründung in BT-Drucksache 12/5262, 111 f.; kritisch
dazu Kass.Komm. - Leitherer, § 36 SGB XI Rdn. 48) abdecken. Innerhalb der
Pflegestufen ist es für den Leistungsumfang auch irrelevant, ob der Grundpflegebedarf
am unteren oder am oberen Rand der in § 15 Abs. 3 SGB XI genannten weitgespannten
Zeitgrenzen liegt. Somit wird vielfach die Berücksichtigung der krankheitsspezifischen
Pflegemaßnahme bei einer Katalogverrichtung nicht zu einer Zuordnung zu einer
höheren Pflegestufe und damit zu einer Erweiterung der Leistungen der
Pflegeversicherung führen. Zudem wird angesichts der Obergrenzen für ambulante
Leistungen schon der "reine" grundpflegerische Bedarf vielfach nicht vollständig durch
die Leistungen der Pflegeversicherung gedeckt. Damit führt die Rechtsprechung des
BSG in den meisten Fällen durch den generellen Ausschluss eines gesetzlich
eingeräumten Leistungsanspruchs zu einer Belastung der Versicherten, denn die
Versicherten müssten aus den begrenzten ambulanten Leistungen der
Pflegeversicherung zusätzlich den medizinischen Hilfebedarf, der "eigentlich" über § 37
Abs. 2 SGB V abgedeckt werden soll, finanzieren. Dies macht der vorliegende Fall
deutlich: Die Klägerin ist in die Pflegestufe III eingestuft, wobei nach dem letzten
Pflegegutachten vom 22.06.1999 der Grundpflegebedarf ohne Berücksichtigung der
Medikamentengabe (die damals offensichtlich schon zusätzlich durch den Pflegedienst
erfolgte) 245 Minuten erreichte. Die Klägerin hat auch im Zeitraum von April bis Juni
2002 nicht nur von der Pflegekasse Pflegesachleistungen bis zum Höchstwert von
1.432,- Euro (§ 36 Abs. 3 Nr. 3 SGB XI) erhalten, sondern sogar insoweit zusätzlich
Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz benötigt. Es ist somit offenkundig, dass
hier eine im Zusammenhang mit einer Verrichtung der Grundpflege stehende
medizinisch notwendige Medikamentengabe nicht von den Leistungen der
Pflegeversicherung abgedeckt wird.
cc) Vor diesem Hintergrund kann die Notwendigkeit i.S.d. § 12 Abs. 1 SGB V für eine
Leistung der häuslichen Krankenpflege nur dann verneint werden, wenn - was hier nicht
der Fall ist - gleichzeitig durch die Einbeziehung der krankheitsspezifischen Maßnahme
in die Grundpflege ein weitergehender Leistungsanspruch aus der Pflegeversicherung
begründet wird. Andernfalls wird ohne gesetzliche Grundlage ein Rechtsanspruch auf
die Leistungen nach § 37 Abs. 2 SGB V ausgeschlossen. Für eine solche
Einschränkung spricht auch, dass ohnehin diese Rechtsprechung auf Grund der jetzt
vom Gesetzgeber im GKV- Modernisierungsgesetz (GMG) vom 14.11.2003 (BGBl. I,
2190) vorgenommenen Einfügung eines 2. Halbsatzes in § 37 Abs. 1 Satz 1 SGB V (Art.
1 Nr. 27 Buchst. a Doppelbuchst. aa) für die Zukunft aufgegeben werden muss. Das
Gesetz zählt ab dem 01.01.2004 in Korrektur des Urteils des BSG vom 30.10.2001
(a.a.O.) ausdrücklich das An- und Ausziehen von Kompressionsstrümpfen ab der
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Kompressionsklasse 2 auch dann zur Behandlungspflege, wenn der Hilfebedarf bei der
Feststellung der Pflegebedürftigkeit berücksichtigt worden ist. Diese Ergänzung ist in
den Ausschussberatungen vorgenommen worden (vgl. BT-Drucksache 15/1584, S. 6),
in der Begründung (BT-Druckssache 15/1600, S. 13) heißt es dazu, die Krankenkassen
könnten nunmehr nicht unter Hinweis auf die Berücksichtigung dieses Hilfebedarfs bei
der Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach dem SGB XI ihre Leistungspflicht
ablehnen. Mit der Regelung würden die Zweifelsfragen, die in der Praxis nach der
Entscheidung des BSG von Oktober 2001 aufgetreten seien und die zu teilweise
erheblichen finanziellen Belastungen der Pflegebedürftigen in häuslicher Pflege geführt
hätten, zugunsten der Betroffenen geklärt. Wenn nunmehr der Gesetzgeber für eine
bestimmte medizinische Hilfeleistung gleichzeitig Ansprüche sowohl gegen die
Krankenkasse wie die Pflegekasse einräumt, kann für andere medizinische
Hilfeleistungen nichts anderes gelten. Aus der gesetzlichen Regelung kann nicht
gefolgert werden, dass in anderen Fällen des Zusammentreffens von
krankheitsspezifischen Pflegemaßnahmen und Grundpflegeverrichtungen ein
gleichzeitiger Anspruch ausgeschlossen sei. Der Umstand, dass (erstaunlich genug)
eine gesetzliche Regelung für eine bestimmte Behandlungsmaßnahme erfolgt ist, erklärt
sich offensichtlich allein daraus, dass der Gesetzgeber auf eine bestimmte gerichtliche
Entscheidung reagiert hat (ohne - wie dies eigentlich von einem abstrakt-generellen
Gesetz zu erwarten gewesen wäre - eine allgemeine Regelung zu treffen). Es wäre
jedenfalls im Hinblick auf das Gleichbehandlungsgebot des Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz
angesichts der gesetzlichen Entscheidung kein sachlicher Grund für die
Andersbehandlung anderer krankheitsspezifischer Pflegemaßnahmen ersichtlich.
dd) Ob tatsächlich, wie das Sozialgericht gemeint hat, die oben genannten
Voraussetzungen für eine Zurechnung der Medikamentengabe zur Nahrungsaufnahme
vorliegen, kann somit dahinstehen. Der bloße Umstand, dass die Medikamente wegen
des Magenleidens der Klägerin nicht auf nüchternen Magen genommen werden dürfen,
kann allerdings insoweit nicht entscheidend sein, da sich daraus noch nicht der
medizinisch notwendige unmittelbare zeitliche Zusammenhang zur Nahrungsaufnahme
ergibt (s. insoweit das Senatsurteil vom heutigen Tage in der Sache L 5 KR 139/03). Ob
im Hinblick auf die Sondenernährung eine andere Beurteilung angezeigt ist, weil nach
der Auskunft von Dr. X im Widerspruchsverfahren die Sondennahrung über 12 Stunden
verteilt läuft, also die Medikamente rein faktisch im Zusammenhang mit der Nahrung
gegeben werden müssen, braucht der Senat nicht zu entscheiden.
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II. Wegen der rechtswidrigen Ablehnung der Leistung steht der Klägerin somit nach § 13
Abs. 3 Satz 1 SGB V für die selbstbeschaffte Leistung ein von dem
Kostenerstattungsanspruch mit umfasster Freistellungsanspruch (s. insoweit BSG SozR
3-2500 § 13 Nr. 14) in Höhe des vom Pflegedienst berechneten Vergütungsanspruchs
zu. Selbst wenn die vom Pflegedienst angegebenen Beträge über den "Vertragssätzen"
der Beklagten liegen würden, hätte die Klägerin Anspruch auf Erstattung der ihr
tatsächlich entstandenen Kosten (vgl. Kass.Komm. - Höfler, § 13 SGB V Rdn. 12). Die
Beklagte hat auch eingeräumt, dass der Pflegedienst nach dem angewandten Vertrag
nach § 132a SGB V ungeachtet der Abrechnungen nach Leistungsmodulen nicht
gehindert ist, für Leistungen der Behandlungspflege eine gesonderte Vergütung zu
fordern, auch wenn er gleichzeitig von der Pflegekasse vergütete Pflegesachleistungen
erbringt. Somit hat der Pflegedienst selbst bei Anwendung dieses Vertrages im
Verhältnis zwischen Klägerin und Pflegedienst zusätzlich einen Vergütungsanspruch
gegen die Klägerin wegen der Medikamentengabe erworben, von dem die Beklagte die
Klägerin freizustellen hat.
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III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
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Der Senat hat die Revision zugelassen, da er von einer Entscheidung des BSG
abweicht und er zudem dem Rechtsstreit grundsätzliche Bedeutung beimisst (§ 160
Abs. 2 Nr. 1, 2 SGG).
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