Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 17.12.2003

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Landessozialgericht NRW, L 10 SB 20/03
Datum:
17.12.2003
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
10. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 10 SB 20/03
Vorinstanz:
Sozialgericht Düsseldorf, S 30 SB 246/99
Sachgebiet:
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts
Düsseldorf vom 31. Mai 2000 abgeändert. Der Beklagte wird unter
Abänderung des Bescheides vom 21. Juli 1999 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 09. August 1999 verurteilt, bei dem
Kläger ab Juli 1999 die gesundheitlichen Voraussetzungen für die
Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs "aG" (außergewöhnliche
Gehbehinderung) festzustellen. Der Beklagte trägt die
erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten des Klägers in allen
Rechtszügen. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
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Der 1953 geborene Kläger begehrt die Feststellung der gesundheitlichen
Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs "aG"
(außergewöhnliche Gehbehinderung).
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Bei ihm sind wegen der Gesundheitsstörungen "Spastische Beinlähmung mit operierten
Spitzklumpfuß, Schwerhörigkeit beiderseits, Fehlstellung und Verschleißleiden der
Lendenwirbelsäule" ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 sowie die
gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Nachteilsausgleiche
"G" (erhebliche Gehbehinderung), "B" (Notwendigkeit ständiger Begleitung) und "RF"
(Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht) festgestellt (Bescheid vom 02.07.1999).
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Den Antrag des Klägers vom Juli 1999, darüber hinaus auch den Nachteilsausgleich
"aG" festzustellen, lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 21.07.1999 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 09.08.1999 ab. Das Sozialgericht Düsseldorf hat die
Klage abgewiesen (Urteil vom 31.05.2000). Der Senat hat die Berufung des Klägers
nach Einholung eines Gutachtens von dem Chefarzt des Instituts für
Neurologie/Psychiatrie der Kliniken St B in W, Dr. W, nebst ergänzender Stellungnahme
(25.09.2000 bzw. 30.10.2000) und nach mündlicher Befragung des Sachverständigen
zurückgewiesen (Urteil vom 14.03.2001). Zur Begründung hat der Senat ausgeführt,
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dass der Kläger nicht den in den einschlägigen straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften
(§ 6 Abs. 1 Nr. 14 Straßenverkehrsgesetz, Nr. 11 der allgemeinen Verwaltungsvorschrift
zu § 46 Straßenverkehrsordnung vom 20.07.1976 (VV)) beispielhaft aufgeführten
Gruppen von Schwerbehinderten mit außergewöhnlicher Gehbehinderung
gleichzustellen sei. Trotz erheblicher Beeinträchtigungen könne er sich nämlich - wenn
auch schleppend, watschelnd, kleinschrittig und deutlich verlangsamt - über eine
Wegstrecke von 30 Metern ausreichend sicher zu Fuß fortbewegen, um sodann nach
einer Gehpause seinen Weg wieder aufzunehmen.
Auf die Revision des Klägers hat das Bundessozialgericht (BSG) das Urteil des Senats
aufgehoben und den Rechtsstreit zurückverwiesen (Urteil vom 10.12.2002). In den
Entscheidungsgründen heißt es u.a.:
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"Die maßgebenden straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften stellen jedoch nicht darauf
ab, über welche Wegstrecke ein schwerbehinderter Mensch sich außerhalb seines
Kraftfahrzeuges zumutbar noch bewegen kann, sondern darauf, unter welchen
Bedingungen ihm dies nur noch möglich ist: nämlich nur mit fremder Hilfe oder nur mit
großer Anstrengung. Wer diese Voraussetzung - praktisch von den ersten Schritten
außerhalb seines Kraftfahrzeuges an - erfüllt, qualifiziert sich für den entsprechenden
Nachteilsausgleich (insbesondere Parkerleichterungen) auch dann, wenn er
gezwungenermaßen auf diese Weise längere Wegstrecken zurücklegt.
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Der Kläger gehört danach zum berechtigten Personenkreis, wenn seine Gehfähigkeit in
ungewöhnlich hohem Maß eingeschränkt ist und er sich nur unter ebenso großen
körperlichen Anstrengungen fortbewegen kann, wie die in der VV genannten Personen
(vgl BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 23). Die erste Voraussetzung erfüllt der Kläger, denn nach
den im Berufungsurteil getroffenen Feststellungen vermag er sich nur mit Gehstock und
orthopädischen Schuhen und auch dann nur noch schleppend, watschelnd,
kleinschrittig und deutlich verlangsamt fortzubewegen. Ob dies mit entsprechend großen
körperlichen Anstrengungen verbunden ist, lässt sich den berufungsgerichtlichen
Tatsachenfeststellungen jedoch nicht mit hinreichender Deutlichkeit entnehmen, zumal
das LSG bei seiner Beurteilung von anderen rechtlichen Kriterien ausgegangen ist.
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Da der erkennende Senat die nach alledem noch erforderliche ergänzende
Sachverhaltsaufklärung im Revisionsverfahren nicht nachholen kann (vgl. § 163 SGG),
ist das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und
Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (vgl § 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Dieses
wird davon ausgehen können, dass in ihrer Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maß
eingeschränkte schwerbehinderte Menschen sich beim Gehen regelmäßig körperlich
besonders anstrengen müssen. Die für "aG" geforderte große körperliche Anstrengung
dürfte gegeben sein, wenn der Kläger die von ihm nach 30 Metern einzulegende Pause
deshalb macht, weil er bereits nach dieser kurzen Wegstrecke erschöpft ist und neue
Kräfte sammeln muss, bevor er weitergehen kann."
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Der Kläger trägt vor, die von ihm spätestens nach 30 m einzulegende Pause müsse er
deshalb machen, weil er bereits nach dieser kurzen Wegstrecke erschöpft sei und neue
Kräfte sammeln müsse, bevor er weitergehen könne.
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Der Kläger beantragt,
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das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 31.05.2000 abzuändern und den
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Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 21.07.1999 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 09.08.1999 zu verurteilen, ab Juli 1999 die
gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs
"aG" ("außergewöhnliche Gehbehinderung") festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Der Beklagte ist der Auffassung, bei der erforderlichen Anstrengung müsse es sich um
eine solche handeln, die über die übliche Anstrengung von Personen hinausgehe, die
auf das Schwerste in ihrer Gehfähigkeit eingeschränkt seien. Der Kläger müsse nach
der Wegstrecke von 30 m völlig erschöpft sein und einen längeren Zeitraum benötigen,
um wieder zu Kräften zu kommen, bevor er weitergehe. Ein erhöhter Puls und
verstärkten Schwitzen reichten insoweit nicht als Indiz aus. Diese belegten lediglich
eine gewisse körperliche Anstrengung, jedoch keine Erschöpfung.
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Der Senat hat ein weiteres Gutachten von Dr. W nebst ergänzender Stellungnahme
eingeholt (Gutachten vom 02.07.2003, Stellungnahme vom 28.08.2003). Der
Sachverständige sieht die vom BSG nunmehr aufgestellten Anforderungen als erfüllt an.
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Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten,
die Verwaltungsvorgänge des Beklagten und die Akten des SG Düsseldorf, S 30 SB
272/96 und S 30 SB 321/98, Bezug genommen, die vorgelegen haben und Gegenstand
mündlicher Verhandlung gewesen sind.
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Entscheidungsgründe:
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Die Berufung des Klägers ist begründet.
18
Der Kläger ist durch die angefochtenen Bescheide des Beklagten vom 21.07.1999 und
09.08.1999 beschwert. Ausgehend von der - geänderten - Rechtsauffassung des BSG
hat er nunmehr Anspruch darauf, dass bei ihm die gesundheitlichen Voraussetzungen
für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs "aG" ab Antrag festgestellt werden.
Nach der den Senat bindenden rechtlichen Beurteilung des BSG (§ 170 Abs. 5
Sozialgerichtsgesetz (SGG)) sind diese Voraussetzungen erfüllt, wenn a) die
Gehfähigkeit des Klägers in ungewöhnlich hohem Maß eingeschränkt ist und b) er sich
nur unter ebenso großen körperlichen Anstrengungen fortbewegen kann, wie die in der
VV genannten Personen.
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Zu a)
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Die Gehfähigkeit des Klägers ist in ungewöhnlich hohem Maß eingeschränkt. Dies folgt
daraus, dass das BSG diese Voraussetzung deswegen als gegeben ansieht, weil der
Kläger sich nur noch mit Gehstock und orthopädischen Schuhen und auch nur noch
schleppend, watschelnd, kleinschrittig und deutlich verlangsamt fortbewegen kann.
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Zu b)
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Das BSG hat die zweite Voraussetzung wie folgt präzisiert: Es könne davon
ausgegangen werden, dass in ihrer Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße
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eingeschränkte schwerbehinderte Menschen sich beim Gehen regelmäßig körperlich
besonders anstrengen müssen; die für "aG" geforderte große körperliche Anstrengung
dürfte regelmäßig dann gegeben sein, wenn der Kläger die nach 30 Metern
einzulegende Pause deshalb mache, weil er bereits nach dieser kurzen Wegstrecke
erschöpft sei und neue Kräfte sammeln müsse, bevor er weitergehen könne.
Diese Voraussetzungen sind erfüllt. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht zur
Überzeugung des Senats fest, dass der Kläger sich nur unter "ebenso großen
körperlichen Anstrengungen" fortbewegen kann, wie die in der VV genannten Personen.
Dies folgt aus den überzeugenden und schlüssigen Ausführungen des
Sachverständigen Dr. W. Der Sachverständige hat dargelegt, dass sich die bis zu einer
Sitzpause mögliche maximale Gehstrecke auf 36 Meter bei einer Schrittlänge von 15
und 25 cm mit einem Schritt pro Sekunde beläuft. Für diese Wegstrecke benötigt der
Kläger einschließlich zweier Stehpausen von 15 Sekunden infolge erkennbarer
körperlicher Erschöpfung insgesamt 2 Minuten und 15 Sekunden. Ein Gesunder kann
diese Strecke demgegenüber in 20 Sekunden zurücklegen. Nach den Feststellungen
des Sachverständigen trat während der Steh- und Sitzpausen ein verstärktes Schwitzen
auf. Zudem war Pulsfrequenz auf 144/Minute bei einem Ruhepuls von 92/Minuten
erhöht.
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Auch soweit das BSG postuliert, die Pause müsse infolge Erschöpfung eingelegt
werden, ist das der Fall.
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Zwar verweist der Sachverständige darauf, dass objektivierbare Gesichtspunkte, die
eine Erschöpfung und die Notwendigkeit einer Erholungspause nach ca. 30 m
Wegstrecke sicher belegen, auf der Grundlage üblicher klinischer Untersuchungen in
der Regel nicht festgestellt werden können; auch sei ein subjektiver Faktor beim
Entschluss, eine Steh- bzw. Sitzpause während des Gehens einzulegen, nicht
auszuschließen. Objektives Kriterium einer Erschöpfung wären eine völlige
Kreislaufdekompensation, eine hochgradige Atemnot oder der Verlust der Steh- und
Gehfähigkeit mit Hinstürzen. Zur weiteren Objektivierung des
Untersuchungsergebnisses käme ggf. ergänzend eine Laufbandbelastung
einschließlich Atem- und Herzfunktionsprüfung während der Belastung in Betracht.
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Die von dem Sachverständigen aufgezeigten Probleme, Beeinträchtigungen zu
objektivieren, sind aber im Rahmen einer medizinischen Begutachtung kein Einzelfall
und erfordern zumindest dann, wenn bereits bei der üblichen klinischen Untersuchung
ein schlüssiges und überzeugendes Ergebnis festgestellt werden kann, keine
weitergehenden Ermittlungen. Dies gilt insbesondere im vorliegenden Fall, in dem
selbst eine Laufbandbelastung einschließlich Atem- und Herzfunktionsprüfung während
der Belastung schon insoweit keinen weiteren Aufschluss geben kann, als
wissenschaftliche Ergebnisse z.B. aufgrund von Reihenuntersuchungen bei dem in der
VV genannten Personenkreis als "objektive" Vergleichswerte nicht zur Verfügung
stehen.
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Entscheidend ist vorliegend der klinische Gesamteindruck, der sich mit den - in
Ermangelung jeglicher entgegenstehender objektiver Gesichtspunkte - zu Grunde
zulegenden Angaben des Klägers zu dem Ausmaß seiner Belastung bei der
Fortbewegung und den zur sicheren Feststellung ausreichenden medizinischen
Befunden deckt.
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Unter Berücksichtigung der anamnestischen Daten sowie der deutlich erhöhten
Pulsfrequenz trotz zweier Stehpausen ist der Senat mit dem Sachverständigen der
Überzeugung, dass der Kläger sich beim Gehen regelmäßig besonders anstrengen
muss und er nach spätestens 30 Metern so erschöpft ist, dass er eine Pause machen
muss, um Kräfte zu sammeln, bevor er weitergehen kann.
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Soweit der Beklagte dem entgegenhält, bei der erforderlichen Anstrengung müsse es
sich um eine solche handeln, die über die "übliche" Anstrengung von Personen
hinausgehe, die auf das Schwerste in ihrer Gehfähigkeit eingeschränkt sind, folgt der
Senat dem nicht. Der Auffassung des Beklagten liegt zugrunde, dass er meint, die nach
30 Metern einzulegende Pause müsse erforderlich sein, weil der Kläger völlig erschöpft
sei und einen längeren Zeitraum benötige, um wieder zu Kräften zu kommen, um
weitergehen zu können. Dem steht bereits entgegen, dass diese restrikive Interpretation
durch die Ausführungen des BSG nicht gedeckt wird. Hiernach kommt es nur darauf an,
dass der Betreffende die nach 30 Metern einzulegende Pause infolge Erschöpfung
machen muss, um neue Kräfte zu sammeln. Auf die Intensität der Erschöpfung und die
Länge des Erholungszeitraums kommt es grundsätzlich nicht an. Im Übrigen ergibt sich
angesichts des Maßstabs "ebenso", dass die Anstrengung (nur) ein vergleichbares
Niveau erreichen muss, wie die des in der VV genannten Personenkreises. Auch
insoweit ist keine völlige Erschöpfung zu verlangen. Denn eine solche ist regelhaft nur
dann anzunehmen, wenn z.B. der Kreislauf des Betreffenden dekompensiert, er unter
hochgradiger Atemnnot leidet oder er infolge der Auswirkungen der außergewöhnlichen
Anstrengung seine Steh- und Gehfähigkeit verliert. Indessen können die
Anspruchsvoraussetzungen auch dann vorliegen, wenn die Anstrengung nicht zu
derartigen Extremfolgen führt, da es sich dabei nicht um die üblichen
Begleiterscheinungen bei der Fortbewegung der Personen handelt, die in der VV
genannt sind. Auch dieser Personenkreis wird versuchen, die Belastung zu reduzieren
oder völlig einzustellen, wenn sich derart gravierende Folgen andeuten.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2
SGG).
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