Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 17.12.2007

LSG NRW: vermieter, erfüllung, unterkunftskosten, deckung, nachzahlung, rückforderung, sozialhilfe, verwaltungsakt, rücknahme, rechtsgrundlage

Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen
Beschluss vom 17.12.2007 (rechtskräftig)
Sozialgericht Köln S 6 AS 191/06
Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen L 19 B 31/07 AS
Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Sozialgerichts Köln vom 29.01.2007 geändert. Dem Kläger
wird Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt C, Bonn, beigeordnet.
Gründe:
I.
Der Kläger begehrt Prozesskostenhilfe zur Durchsetzung eines behaupteten Anspruchs auf Nachzahlung von
Leistungen nach § 22 SGB II für den Zeitraum vom 01.01.2005 bis 31.03.2006 in Höhe von insgesamt 4.878,- EUR.
In dieser Zeit wohnte der Kläger mit seinem schwerbehinderten und unter Betreuung stehenden Bruder H bis zum
01.01.2006 in einem gemeinsamen Haushalt. Für die vom Vater der Brüder O durch einen Mietvertrag aus 1994, in
dem die Brüder keine Erwähnung finden, angemietete Unterkunft fielen im streitigen Zeitraum monatliche
Aufwendungen von insgesamt 650,39 EUR an. Bis Ende des Jahres 2004 wurden Leistungen nach dem BSHG an
beide Brüder auf das Konto des Klägers erbracht.
Ab dem 01.01.2005 erhielt der Bruder H des Klägers Leistungen nach dem SGB XII in Höhe von 900,69 EUR von
Januar bis März 2005, 1.135,29 EUR für April 2005, 947,61 EUR von Mai bis Dezember 2005. Hierbei wurden neben
dem Regelsatz für einen Haushaltsangehörigen von 276,00 EUR und einem Mehrbedarf für Schwerbehinderte von
46,92 EUR nach dem SGB XII sowie Pflegegeld der Stufe II von 410,00 EUR monatlich anteilige Unterkunftskosten
für den Bruder H des Klägers von 214,69 EUR angesetzt. Diese Leistungen wurden ebenso wie monatliche
Vergütungen aus einer Tätigkeit des Bruders H in einer Schwerbehindertenwerkstatt in Höhe von 67,00 EUR im
Februar und März 2005, 73,41 EUR im April 2005 und 91,79 EUR im Mai bis Dezember 2005 auf das Konto des
Klägers erbracht. Leistungen an den gemeinsamen Vermieter der Brüder O hat der örtliche Träger der Sozialhilfe nach
seiner Auskunft vom 11.10.2007 nicht erbracht.
Ab dem 02.01.2006 wurde der Bruder H des Klägers in einer stationärenEinrichtung des Landschaftsverbandes als
überörtlichem Träger der Sozialhilfe auf dessen Kosten aufgenommen und erhielt ein monatliches Taschengeld von
89,70 EUR, das nicht auf das Konto des Klägers überwiesen wurde. Für die Monate Januar und Februar 2006
verzeichnet das Konto des Klägers Eingänge von jeweils 74,79 EUR aus einer Tätigkeit des Bruders H in einer
Schwerbehindertenwerkstatt, im März 2006 keinerlei Eingänge zu Gunsten des Bruders H.
Die Beklagte bewilligte dem Kläger mit Bescheiden vom 27.11.2004, 15.06.2005, 22.07.2005 und 13.01.2006
Leistungen nach § 20 SGB II in Höhe von 345,- EUR monatlich und nach § 22 SGB II in Höhe der hälftigen
Gesamtaufwendungen der Brüder für Unterkunft und Heizung (325,19 EUR), insgesamt 670,19 EUR, monatlich. Dem
Kläger wurden jedoch monatlich wiederkehrend nur 19,80 EUR ausgezahlt vor dem Hintergrund, dass die Beklagte die
gesamten Unterkunftskosten beider Brüder von 650,39 EUR monatlich aus den dem Kläger bewilligten Leistungen an
den Vermieter überwies und nur den Restbetrag auf das Konto des Klägers.
Mit Schreiben vom 08.10.2006 machte der Prozessbevollmächtigte des Klägers eine Nachzahlung von 4.878,- EUR
wegen nicht erbrachter Leistungen nach § 20 SGB II bei der Beklagten geltend. Er behauptete zugleich, wegen des
angenommenen Missstandes immer wieder bei der Beklagten vorstellig geworden zu sein und legte Widerspruch ein.
Mit Widerspruchsbescheid vom 21.08.2006 wies die Beklagte den angefochtenen Widerspruch des Klägers gegen die
Bewilligungsbescheide vom 27.11.2004, 15.06.2005, 25.07.2005 und 13.01.2006 als wegen Verspätung unzulässig
zurück.
Mit der Klage vom 06.09.2006 macht der Kläger weiterhin 4878,- EUR (nebst Zinsen) an Nachzahlungen geltend.
Mit dem angefochtenen Beschluss hat das Sozialgericht die zugleich mit Klageerhebung beantragte Bewilligung von
Prozesskostenhilfe versagt mit der Begründung, die beabsichtigte Rechsverfolgung weise keine hinreichende
Erfolgsaussicht im Sinne von §§ 73a SGG, 114 ZPO auf. Dem geltend gemachten Anspruch stehe entsprechend §
242 BGB der Einwand unzulässiger Rechtsausübung entgegen. Selbst wenn dem Kläger aus den
Bewilligungsbescheiden ein bislang nicht durch Zahlung an ihn selbst ausgeglichener Anspruch auf Leistungen nach §
22 SGB II zustünde, stehe der Geltendmachung dieses Anspruchs entsprechend dem Rechtsgedanken aus § 242
BGB der Einwand der unzulässigen Rechtsausübung entgegen. Wenn die Beklagte nämlich nicht durch Leistungen an
den Vermieter gegenüber dem Kläger von ihrer Pflicht zur Zahlung der Regelleistung frei geworden sei, dann stehe ihr
in Höhe des an den Vermieter gezahlten Betrages von monatlich 325,20 EUR ein öffentlich rechtlicher
Erstattungsanspruch aus § 50 Abs. 2 SGB X gegen den Kläger zu, den sie dem Anspruch des Klägers auf
Nachzahlung der Regelleistung entgegenhalten könne. Der Kläger schulde im Verhältnis zu seinem Vermieter die
Zahlung der gesamten Miete sowohl dann, wenn er alleiniger Vertragspartner des Vermieters sei, als auch, wenn er
zusammen mit seinem Bruder gesamtschuldnerisch im Sinne von § 421 BGB für die gesamte Miete hafte. Durch die
Zahlung der Gesamtmiete an den Vermieter durch die Beklagte sei der Kläger von seiner Pflicht zur Mietzahlung
insgesamt frei geworden, da er der Zahlung der vollen Miete durch die Beklagte nicht widersprochen habe und der
Vermieter die Leistungen der Beklagten auch nicht abgelehnt habe (§§ 362 Abs. 1, 267 Abs. 2 BGB). Die Tilgung der
Schuld des Klägers im Verhältnis zu seinem Vermieter stelle sich damit nach Bereicherungsrecht auch als Leistung
der Beklagten gegenüber dem Kläger dar, da die Beklagte aus Sicht des unmittelbaren Empfängers der Zahlung, d.h.
aus Sicht des Vermieters, eine Schuld des Klägers tilgen und damit diesem gegenüber eine Leistung habe erbringen
wollen. Diese Leistung sei ohne Verwaltungsakt erfolgt und könne nach § 50 Abs. 2 SGB X in Verbindung mit § 45
Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X vom Kläger zurückgefordert werden, da er nach eigenem Vortrag die fehlerhafte
Leistungserbringung frühzeitig erkannt und gegenüber Mitarbeitern der Beklagten vorgetragen habe. Auch sei dem
Kläger ein Gesamtschuldnerinnenausgleich im Verhältnis zu seinem Bruder wegen Bestehens des gemeinsamen
Kontos möglich.
Gegen diesen Beschluss richtet sich die Beschwerde des Klägers, mit der vorgetragen wird, ein voller Ausgleich im
Innenverhältnis scheitere daran, dass die insgesamt beiden Brüdern erbrachten Mietzahlungen um gut 120,- EUR
monatlich zu gering gewesen seien.
Zu Einzelheiten wird auf den Inhalt der Prozessakten Bezug genommen.
II.
Die zulässige Beschwerde, der das Sozialgericht nicht abgeholfen hat (Beschluss vom 26.02.2007), ist auch
begründet.
Dem Kläger steht Prozesskostenhilfe nach §§ 73a SGG, 114ff ZPO zu, da er als Bezieher von Leistungen nach dem
SGB II bedürftig ist und die beabsichtigte Rechtsverfolgung im Klageverfahren hinreichende Erfolgsaussicht im Sinne
von § 114 ZPO aufweist.
Es kann nicht ausgeschlossen werden, ist vielmehr überwiegend wahrscheinlich, dass dem Kläger gegen die Beklagte
aus den Bescheiden vom 27.11.2004, 15.06.2005, 22.07.2005 und 13.01.2006 noch Ansprüche auf monatliche
Leistungen nach § 20 SGB II i.H.v. 325,20 EUR vom 01.01.2005 bis 31.03.2006 zustehen und diese insbesondere
nicht nach § 362 BGB entsprechend durch Erfüllung des Leistungsanspruches insoweit untergegangen sind.
Bei dem von der Beklagten zu erfüllenden Anspruch auf Regelleistungen nach § 20 SGB II handelt es sich um ohne
Verwendungsbeschränkungen zu befriedigende Ansprüche auf Geldleistungen zur Deckung der in § 20 Abs. 1 SGB II
im Einzelnen näher beschriebenen Bedarfe.
Bezüglich dieser Ansprüche kann daher Erfüllung in entsprechender Anwendung von § 362 BGB als Ausdruck eines
allgemeinen, auch im Sozialrecht anzuwendenden Rechtsgrundsatzes (u.a. Urteil des BSG vom 29.01.1997 - 5 RJ
52/94 -; Urteil des LSG NW vom 24.09.2007 - L 9 RJ 22/01 -) nur dann eingetreten sein, wenn die geschuldete
Leistung an den Gläubiger oder durch Zahlung an einen Dritten zum Zwecke der Erfüllung bewirkt worden ist. Insoweit
sich die Beklagte auf bereits eingetretene Erfüllung beruft, macht sie eine rechtsvernichtende Einwendung geltend,
deren tatsächliche Grundlagen sie belegen muss (BSG a.a.0. zur Erfüllung eines Beitragserstattungsanspruches).
Schon hiernach ist anzunehmen, dass die Beklagte durch Doppelzahlung von Unterkunftskosten nach § 22 SGB II
Leistungsansprüche des Klägers nach § 20 SGB II ersichtlich nicht erfüllt hat. Denn weder hat Sie entsprechend §
362 Abs. 2 BGB zum Zwecke der Erfüllung eines Anspruches auf Regelleistungen Überweisungen an den Vermieter
des Klägers und seines Bruders vorgenommen, vielmehr insoweit zweckgebundene Leistungen nach § 22 SGB II
erbracht, noch würde diese indirekte Form der "Erfüllung" dem Leistungszweck der Regelleistung nach § 20 SGB II
gerecht. Diese Leistungen dienen der Deckung aktuellen Bedarfes. Hierzu bestimmte Leistungen sind so rechtzeitig
zur Auszahlung zu bringen, dass sie dem Hilfebempfänger zur Deckung des Bedarfes sofort zur Verfügung stehen
(vgl. Beschluss des Verwaltungsgerichtes Baden-Württemberg vom 07.01.2005 - 7 S 2525/04 - Erbringung von
Leistungen nach dem BSHG).
Die zeitnahe Erfüllung von Leistungsansprüchen nach dem SGB II soll insbesondere § 42 SGB II sicherstellen,
wonach Geldleistungen nach den SGB II auf das im Antrag angegebene inländische Konto bei einem Geldinstitut
überwiesen werden. Diese Vorschrift ist zwingendes Recht. Jede andere Art der Zahlung als durch Überweisung ist
als Ausnahme anzusehen und nur zulässig, wenn dem Leistungsträger ein Konto nicht bekannt oder eine
Überweisung darauf unmöglich ist. Dann allerdings sind dem Berechtigten zustehende Geldleistungen an dessen
Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt zu übermitteln (Eicher in Eicher/Spelbrink, SGB II § 42 Rdnr. 8). Demnach
dürfte eine Erfüllung der Leistungsansprüche des Klägers aus § 20 SGB II durch Überweisung von
Unterkunftsleistungen nach § 22 SGB II an seinen Vermieter ausgeschlossen sei. Bereits dies genügt zur
Überzeugung des Senats zur Annahme hinreichender Erfolgsaussicht im Sinne von §§ 73a SGG, 114 ZPO.
Im Hinblick auf die sorgfältige Begründung des angefochtenen Beschlusses und die im Verlaufe des
Beschwerdeverfahrens erfolgte Sachaufklärung weist der Senat zudem darauf hin, dass ein Verweis des Klägers auf
einen Innenausgleich im Verhältnis zu seinem Bruder schon nach den Zahlenverhältnissen der Leistungen an beide
problematisch ist. Denn der Bruder Günter des Klägers hat seitens des Trägers von Leistungen nach dem SGB XII
zur Deckung seiner anteiligen Unterkunftskosten nur 214,69 EUR und damit deutlich weniger als die Hälfte der nach
dem SGB II zu erbringenden Unterkunftskosten erhalten. Auf das gemeinsame Konto der Brüder sind zu seinen
Gunsten ab Januar 2006 sehr geringe Leistungen erbracht worden. Insoweit erscheint auch im Tatsächlichen
problematisch, ob für den Innenausgleich genügende Mittel vorliegen bzw. vorgelegen haben.
Ob dem gesamten geltend gemachten Anspruch der Einwand unzulässiger Rechtsausübung entgegenstehen könnte,
lässt sich nicht ohne weitere Ermittlungen beantworten. § 50 Abs. 2 SGB X als Rechtsgrundlage der möglichen
Gegenforderung auf Rückzahlung der ggfls. ohne Verwaltungsakt erbrachten Leistungen an den Kläger unterliegt nach
Satz 2 des Zweiten Absatzes dieser Norm den sich aus entsprechender Anwendung der §§ 45 und 48 SGB X
ergebenden Einschränkungen. Da die Rückforderung schon zum Zeitpunkt der Zahlung ohne Rechtsgrund gewährter
Leistungen der Rücknahme eines schon bei seinem Erlass rechtswidrigen Verwaltungsaktes vergleichbar ist, wird §
45 SGB X und damit auch die Handlungsfrist des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X analog angewendet (BSG, Urteil vom
09.09.1986 - 11a RA 2/85 - BSGE 60, 239 - NVwZ 1988, 785). Nach § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X ist die Zurücknahme
eines Verwaltungsaktes (hier die Realisierung der Rückforderung) nur innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der
Tatsachen möglich, welche die Rücknahme (hier Rückforderung) rechtfertigen.
Insoweit ist das Vorbringen des Klägers erheblich, er habe die Abweichung zwischen der bewilligten und der
tatsächlich zugeflossenen Leistung ab Januar 2005 mehrfach mitgeteilt. Je nach konkretem Inhalt der Mitteilung
kommt dann auch eine Kenntnis der Beklagten hinsichtlich der überzahlten Unterkunftskosten in Betracht. Lässt sich
feststellen, dass der Kläger tatsächlich bei der Beklagten frühzeitig vorgesprochen hat, kann einem
Rückforderungsanspruch der Beklagten aus § 50 Abs. 2 SGB X insgesamt oder für Teilzeiträume die Handlungsfrist
entsprechend § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X entgegenstehen.
Die Kosten des PKH-Beschwerdeverfahrens sind kraft Gesetzes nicht zu erstatten, § 127 Abs. 4 ZPO.
Dieser Beschluss ist nach § 177 SGG endgültig.