Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 07.01.2004

LSG NRW: krankenversicherung, behandlung, vergütung, auszahlung, versorgung, zahnarzt, drucksache, rechtskraft, streichung, abschaffung

Landessozialgericht NRW, L 11 KA 48/03
Datum:
07.01.2004
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
11. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 11 KA 48/03
Vorinstanz:
Sozialgericht Münster, S 2 KA 121/01
Nachinstanz:
Bundessozialgericht, B 6 KA 17/04 R
Sachgebiet:
Vertragsarztrecht
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts
Münster vom 31.03.2003 abgeändert. Die Klage wird abgewiesen. Die
Klägerin hat die außergerichtlichen Kosten der Beklagten in beiden
Rechtszügen zu tragen. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
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Die Klägerin begehrt von der Beklagten die Zahlung eines Anteils der Gesamtvergütung
für das Quartal III/1999 in Höhe von 1.789.521,50 Euro (3,5 Millionen DM).
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Im Jahr 1997 gewährte die Klägerin allen Vertragszahnärzten, die vom 01.01. bis
mindestens zum 30.06.1997 zugelassen waren, für die ersten sechs Kalendermonate
des Jahres 1997 eine degressionsfreie Punktmenge von 350.000 Punkten gemäß § 85
Abs. 4 b) SGB V in der Fassung bis zum 30.06.1997.
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Die Beklagte teilte der Klägerin mit Schreiben vom 18.08.1990 mit, dass nach ihrer
Auffassung für das Jahr 1997 bzw. für das erste Halbjahr dieses Jahres lediglich von
einer degressionsfreien Punktmenge von 175.000 Punkten auszugehen sei; die darüber
hinaus abgerechneten Punkte unterlägen der Degression, so dass die Beklagte die
Degressionsbeträge für das Kalenderjahr 1997 neu zu berechnen habe. Da eine
Reaktion der Klägerin darauf nicht erfolgte, rechnete die Beklagte mit Schreiben vom
06.10.1999 gegen den Anspruch der Klägerin auf Zahlung der Gesamtvergütung für das
Quartal III/1999 mit Degressionsbeträgen aus dem ersten Halbjahr 1997 in Höhe der
streitigen Summe auf.
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Mit ihrer Klage hat die Klägerin vorgetragen, die Beklagte gehe zu Unrecht davon aus,
dass die degressionsfreie Punktmenge im Jahr 1997 auf sechs Monate bzw. 175.000
Punkte zu beschränken sei, weil die entsprechende Bestimmung in § 85 Abs. 4 b) SGB
V zum 30.06.1997 weggefallen sei. Das von der Beklagten zitierte Urteil des
Bundessozialgerichts (BSG) vom 03.12.1997 - 6 RK 79/96 - sei auf den Wegfall der
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Degressionsregelung zum 01.07.1997 nicht anwendbar. Die von der Beklagten
vertretenen Auffassung führe nämlich dazu, dass die Vertragszahnärzte, die über den
30.06.1997 hinaus tätig gewesen seien, den Zahnärzten gleich gestellt würden, die zu
diesem Zeitpunkt ihre Tätigkeit aufgegeben hätten. Das BSG habe in seinen bisherigen
Entscheidungen zur Degressionsregelung darauf abgestellt, dass ein Vertragszahnarzt
die abgerechneten Punktmengen dadurch steuern könne, dass er den
Behandlungsumfang bis unter die jeweilige Degressionsmenge reduziere. Diese
Möglichkeit würde einem Zahnarzt jedoch bei einer nachträglichen Reduzierung der
Punktmenge im Jahr 1997 genommen. Außerdem habe § 85 Abs. 4 b) SGB V in der
Fassung bis zum 30.06.1997 ausdrücklich auf die degressionsfreie Punktmenge für ein
Kalenderjahr abgestellt. Eine auf einzelne Kalendermonate eines Jahres beschränkte
Gültigkeit sei im Gesetz nicht vorgesehen (gewesen).
Die Klägerin hat beantragt,
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die Beklagte zu verurteilen, an sie 1.789.521,50 Euro zu zahlen.
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Die Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung hat sie ausgeführt, aus den in der Vereinbarung vom 12.01.1994 zur
Umsetzung der Degression getroffenen Regelungen ergebe sich, dass die
Degressionsgrenze für jeden Vertragszahnarzt quartalsbezogen zu ermitteln sei. An
diese Vereinbarung habe sich die Klägerin im Jahr 1997 nicht gehalten. Sie sei jedoch
verpflichtet gewesen, Quartalsberechnungen auf der Basis von 87.500 Punkten pro
Quartal vorzunehmen. Mit dem Außerkrafttreten des § 85 Abs. 4 b) SGB V am
30.06.1997 sei die degressionsfreie Punktmenge auf 175.000 Punkte zu beschränken.
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Mit Urteil vom 31.03.2003 hat das Sozialgericht (SG) Münster die Beklagte verurteilt,
den streitigen Restbetrag der Gesamtvergütung für das Quartal III/1999 an die Klägerin
zu zahlen. Zur Begründung hat das SG im Wesentlichen ausgeführt, dass die Beklagte
ein Leistungsverweigerungsrecht bzw. ein Zurückbehaltungsrecht nicht aus der von der
Klägerin vorgenommenen Bestimmung des degressionsfreien Punktwertes für das Jahr
1997 ableiten könne, da diese Bestimmung den gesetzlichen Vorgaben entspreche. Der
Wortlaut der Bestimmung stelle auf jährliche Punktmengengrenzen ab. Allerdings liege
der Vorschrift ganz offensichtlich die Annahme des Gesetzgebers zu Grunde, dass die
Bestimmung während eines ganzen Kalenderjahres Gültigkeit besitze. Für die
Beurteilung der maßgeblichen Rechtsfrage könne auch nicht auf die Ausführungen des
BSG im von der Beklagten zitierten Urteil zurückgegriffen werden. Das BSG habe nur
darüber entschieden, wie eine maßgebliche praxisindividuelle Punktmenge zu
bestimmen ist, wenn ein berücksichtigungsfähiger Zahnarzt während eines laufenden
Kalenderjahres in eine Vertragszahnarztpraxis eingetreten sei. Die Frage der
Reduzierung der degressionsfreien Punktmenge auf Grund einer zeitlich befristeten
Geltung der streitigen Vorschrift habe sich für das BSG überhaupt nicht gestellt. Zwar sei
der Gesetzgeber nach der Rechtsprechung des BSG grundsätzlich befugt, zur
Stabilisierung der Beitragssituation in der gesetzlichen Krankenversicherung
Vergütungsregelungen zu ändern. Wegen des damit verbundenen Eingriffs in
geschützte Rechtsgüter sei bei der Aufhebung oder Modifizierung solcher Positionen
auf Grund des rechtsstaatlichen Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit eine
angemessene Übergangsregelung im Gesetz zu treffen. Daran fehle es jedoch im 2.
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GKV-NOG.
Dagegen hat die Beklagte Berufung eingelegt und ihre Rechtsauffassung wiederholt.
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Die Beklagte hat beantragt,
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das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 31.03.2003 abzuändern und die Klage
abzuweisen.
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Die Klägerin hat beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Sie hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend.
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Die Verwaltungsakte der Klägerin hat vorgelegen und ist Gegenstand der münd- lichen
Verhandlung gewesen. Auf den Inhalt der Akten wird ergänzend Bezug ge- nommen.
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Entscheidungsgründe:
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Die Berufung der Beklagte ist zulässig und begründet.
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Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Zahlung des streitigen Betrages. Denn die
Beklagte hat wirksam zumindest ein Zurückbehaltungsrecht hinsichtlich ihres
Anspruches auf Neuberechnung und Auszahlung der Degressionsbeträge für das
Kalenderjahr 1997 geltend gemacht.
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Die Klägerin hat zwar grundsätzlich einen Anspruch auf quartalsanteilige Auszahlung
der Gesamtvergütung (Abschlagszahlung). Die Beklagte hat die auf Grund der
entsprechenden Vereinbarung quartalsmäßig geschuldete Summe jedoch um den
streitigen Betrag reduziert. Zu dieser Zurückbehaltung bzw. Leistungsverweigerung war
die Beklagte auch berechtigt. Denn die Klägerin ist ihrer Verpflichtung zur
ordnungsgemäßen Berechnung und Abführung der Degressionsbeträge für das
Kalenderjahr 1997 nicht nachgekommen.
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Nach der für den Zeitraum vom 01.01. bis 30.06.1997 maßgeblichen Fassung des § 85
Abs. 4 b) SGB V verringerte sich der Vergütungsanspruch eines Vertragszahnarztes ab
einer Gesamtpunktmenge aus vertragszahnärztlicher Behandlung einschließlich der
Versorgung mit Zahnersatz und Zahnkronen sowie kieferorthopädischer Behandlung
von 350.000 Punkten pro Kalenderjahr für die weiteren zahnärztlichen Behandlungen
im Sinne von § 73 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 SGB V um 20 v. H., ab einer Punktmenge von
450.000 je Kalenderjahr um 30 v. H. und ab einer Punktmenge von 550.000 um 40 v. H.
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Der Wortlaut von § 85 Abs. 4 b) SGBV V stellt zwar auf die jährlichen Punktmengen ab
(je Kalenderjahr). Jedoch ergibt die Auslegung, dass es sich um eine pro-rata-temporis
Regelung handelt, also die degressionsfreie Punktmenge sich auch dann entsprechend
verringert, wenn die die Degression anordnende Vorschrift nur für einen Teil des
Kalenderjahres Gültigkeit hat.
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Das SG und die Klägerin haben zwar zutreffend ausgeführt, dass das BSG in seiner
zitierten Entscheidung die Problematik der Gültigkeit der Degressionsregelung für nur
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einen Teil des Kalenderjahres nicht entschieden hat und im Urteil dazu auch keine
Ausführungen im Sinne eines obiter diktums zu finden sind. Wenn jedoch nach der
Rechtsprechung des BSG, der sich der Senat nach eigener Prüfung der Sach- und
Rechtslage anschließt, feststeht, dass einem Vertragszahnarzt, der aus welchen
Gründen auch immer, nur während eines Teiles eines Kalenderjahres tätig war, nicht
die gesamte Punktmenge, sondern lediglich ein entsprechender Anteil zusteht, so muss
dies auch dann gelten, wenn die Veränderung nicht in der Person des
Vertragszahnarztes begründet ist, sondern dadurch eintritt, dass die entsprechende
Vorschrift im Laufe eines Kalenderjahres aufgehoben wird. Auch in diesem Falle ist der
in § 85 Abs. 4 b) SGB V verwandte Begriff "je Kalenderjahr" dahingehend auszulegen,
dass die degressionsfreie Punktmenge pro-rata-temporis zu bestimmen ist. Dies ergibt
sich insbesondere aus dem Sinn und Zweck der Vorschrift. Denn sie war bestimmt, der
finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung zu dienen. Dieser Zweck
wird durch eine andere Auslegung des Begriffes "je Kalenderjahr" ins Gegenteil
umgekehrt. Denn wenn einem Vertragszahnarzt die volle degressionsfreie Punktmenge
von 350.000 Punkten auch dann zugestanden werden müsste, wenn die gesetzliche
Vorschrift z. B. mit Wirkung zum 31.01. eines Jahres aufgehoben worden wäre, so zeigt
sich deutlich, dass dies nicht dem gesetzgeberischen Willen entsprochen haben kann,
da dann gerade nicht eine finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung
erreicht werden kann. Die Absurdität eines anderen Ergebnisses (BSG a. a. O.) zeigt
sich insbesondere dann, wenn die gesetzliche Vorschrift nur wenige Tage innerhalb
eines Kalenderjahres Gültigkeit gehabt hätte.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes (Amtliche Sammlung Band
43, S. 242, 288; Band 67, S. 1, 15 f.) ist der Gesetzgeber allerdings bei der Aufhebung
und Modifikation geschützter Rechtspositionen, auch wenn der Eingriff an sich
verfassungsrechtlich zulässig ist, auf Grund des rechtsstaatlichen Grundsatzes der
Verhältnismäßigkeit verpflichtet, eine angemessene Übergangsregelung zu treffen. Der
Gesetzgeber hat im 2. GKV-NOG entsprechende übergangsrechtliche Bestimmungen
nicht vorgenommen. Dies war auch nicht erforderlich, da der Gesetzgeber mit der
Aufhebung der Degression nicht in geschützte Rechtspositionen der Klägerin oder der
Vertragszahnärzte eingegriffen hat. Die in § 85 Abs. 4 b) SGB V bestimmte
Degressionsregelung berührte den Vergütungsanspruch eines Vertragszahnarztes
lediglich dergestalt, dass ihm eine degressionsfreie Punktmenge von 350.000 Punkten
pro Kalenderjahr zugesichert worden war. Weiterhin bestand für den Vertragszahnarzt
die Möglichkeit, über diese Punktmenge variabel zu verfügen, jedoch nach der
Rechtsprechung des BSG nur insoweit, als er auch in einem entsprechenden Zeitraum
an der vertragszahnärztlichen Versorgung teilgenommen hat. Nur im Rahmen dieses
ihm zustehenden Punktekontingentes gewährte § 85 Abs. 4 b) SGB V ihm einen
(degressionsfreien) Vergütungsanspruch. Wenn jedoch - wie oben dargelegt - § 85 Abs.
4 b) SGB V nur dahingehend ausgelegt werden kann, dass ein solcher Anspruch auf
eine degressionsfreie Vergütung nur so lange und soweit bestehen kann, wie die
entsprechende Regelung in Kraft ist, ergibt sich auch für den Vertragszahnarzt eine
geschützte Rechtsposition im Sinne der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichtes nur insoweit, als er auf eine degressionsfreie Vergütung
anteilig für den Zeitraum der Gültigkeit der Norm im Kalenderjahr vertrauen durfte.
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Letztlich kann auch nicht aus Gesichtspunkten des Vertrauensschutzes eine
degressionsfreie Punktmenge von 350.000 Punkten für das Kalenderjahr 1997
beansprucht werden. Denn die Aufhebung der Degressionsbestimmungen ist bereits im
Jahr 1996 diskutiert worden. Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP haben den Entwurf
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des 2. GKV-NOG am 12.11.1996 (Bundestag-Drucksache 13/6087) in den Bundestag
eingebracht. Bereits dieser Entwurf enthielt - wie das 2. GKV-NOG vom 23.06.1997
(Bundesgesetzblatt I, S. 1520) - die Streichung von § 85 Abs. 4 b) SGB V und damit die
Abschaffung der Degression. Darüber hinaus ist auch in den Zahnärztlichen Mitteilung,
dem Organ des Bundesverbandes der Deutschen Zahnärztekammern e. V. und der
Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung bereits Anfang 1997 (Heft 1, S. 8) darauf
hingewiesen worden, dass die Degressionsbestimmungen im Laufe des Kalenderjahres
1997 aufgehoben werden.
Die Kostenentscheidung erfolgt gemäß § 193 SGG in der bis zum 01.01. 2002
geltenden Fassung.
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Der Senat hat die Revision wegen der grundsätzlichen Bedeutung (§ 160 Abs. 2 Nr. 1
SGG) zugelassen.
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