Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 09.04.2014

LSG Niedersachsen: wohnung, umzug, aufenthalt, heizung, vermieter, gerichtsakte, niedersachsen, flucht, ausnahmefall, verwaltungsverfahren

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Angelegenheiten nach dem SGB II
SG Braunschweig 49. Kammer, Urteil vom 09.04.2014, S 49 AS 1851/12
Tenor
1. Der Bescheid vom 7. Dezember 2011 in Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 8. Juni 2012 wird aufgehoben und der Beklagte
verpflichtet, der Klägerin Leistungen für Unterkunft und Heizung in den
Monaten November und Dezember 2011 für die zuvor bewohnte Wohnung im
G. in Höhe von insgesamt 946,15 € zu gewähren.
2. Die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin trägt der Beklagte.
Tatbestand
Die Klägerin macht im Rahmen von Leistungen nach dem Zweiten Buch des
Sozialgesetzbuchs (SGB II) die Übernahme von Kosten der Unterkunft
während eines Aufenthalts in einem Frauenhaus geltend.
Die 1978 geborene Klägerin stand zunächst gemeinsam mit ihren 2004 und
2007 geborenen Kindern im laufenden Bezug von SGB II- Leistungen durch
den Beklagten. Mit Bescheid vom 17.05.2011 hatte der Beklagte insoweit
Leistungen für den Zeitraum vom 01.06.2011 bis 30.11.2011 in Höhe von
monatlich 865,00 € gewährt.
Aufgrund von akuten Bedrohungen und Verletzungen der Klägerin erwirkte
diese am 20.09.2011 eine einstweilige Anordnung des Amtsgerichts
Braunschweig gegen ihren Lebensgefährten, dem es danach untersagt war,
sich der Klägerin zu nähern (Bl. 523 f. der Verwaltungsakte). Diese blieb ohne
Wirkung, weshalb sich die Klägerin am 22.09.2011 an das H. wandte und dem
Beklagten mitteilte, dass sie akut von Gewalt bedroht werde und dringend den
Wohnort wechseln müsse. Ab dem 28.09.2011 befand sich die Klägerin
sodann gemeinsam mit ihren Kindern im K. Dort blieb sie bis zum 31.12.2011.
Mit Bescheid vom 19.10.2011 stellte der Beklagte mit Hinweis auf den
erfolgten Umzug und den damit verbundenen Wechsel der Zuständigkeit die
Gewährung von Leistungen zum 01.11.2011 ein. Ab dem 01.11.2011 bezog
die Klägerin sodann Leistungen des Jobcenters Rostock.
Mit Schreiben vom 31.10.2011 beantragte die Klägerin beim Beklagten die
Übernahme der Kosten für ihre Wohnung in L. Diese habe sie zum 31.12.2011
gekündigt und müsse sich an die Kündigungsfrist halten. Sie bitte daher um
Übernahme der Mietkosten bis zum Ablauf der Kündigungsfrist. Das
Frauenhaus führte ergänzend aus, dass der fluchtartige Umzug nach K.
aufgrund der Umstände der Bedrohungssituation durch den Lebensgefährten
nicht geplant und deshalb auch die Kündigungsfrist nicht abgewartet werden
konnten.
Mit Bescheid vom 07.12.2011 lehnte der Beklagte den Antrag ab. Er führte
aus, dass Unterkunftskosten nur für den tatsächlich genutzten Wohnraum
übernommen werden könnten.
Hiergegen erhob die Klägerin mit Schreiben vom 05.01.2012 Widerspruch, den
sie mit Schreiben vom 06.02.2012 dahingehend begründete, dass der Umzug
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in das Frauenhaus erforderlich und der frühestmögliche Zeitpunkt der
Kündigung der bisherigen Wohnung gem. § 573c BGB der 31.12.2011 waren.
Mit Schreiben vom 03.04.2012 erklärte die ergänzend, sie sei von K. aus
weder in der Lage gewesen, die Wohnung zu räumen noch einen Nachmieter
zu suchen. Zu berücksichtigen seien auch die sprachlichen Schwierigkeiten
der Klägerin. Unbekannt sei, ob der Vermieter einen Nachmieter überhaupt
akzeptiert hätte. Bei der Nachmietersuche hätte auch das Frauenhaus K.
keine Unterstützung geleistet. In dieser Zeit sei sie nur noch einmal kurz in J.
gewesen, um dort ihre wichtigsten Papiere zu holen (Schriftsatz vom
23.05.2012).
Am 05.01.2012 kehrte die Klägerin mit ihren Kindern nach einer Aussprache
zu ihrem Lebensgefährten nach J. zurück und zog in dessen Wohnung ein.
Während des laufenden Klageverfahrens heiratete sie ihren Lebensgefährten.
Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 08.06.2012
zurückgewiesen. Der Beklagte erklärte, zwar könnten im Ausnahmefall bei
einem notwendigen Wohnungswechsel und der Unvermeidbarkeit des
Entstehens von doppelten Mietaufwendungen - Überschneidungskosten -
diese übernommen werden. Ein solcher Ausnahmefall liege hier aber nicht vor,
weil es an Bemühungen der Klägerin zur Abwendung dieser Kosten fehlte. So
habe sie sich weder mit ihrem Vermieter in Verbindung gesetzt noch ein
Zeitungsinserat aufgesetzt, was auch von K. aus möglich gewesen wäre.
Zudem habe sie sich zwischenzeitlich einmal auch in J. aufgehalten.
Am 06.07.2012 hat die Klägerin Klage erhoben.
Zur Begründung erklärt sie ergänzend zu ihren Ausführungen im
Verwaltungsverfahren, sie habe alles ihr Zumutbare getan, um umgehend
nach Kenntnis der veränderten Situation im September 2011 die Kosten der
Unterkunft und Heizung in J. zu reduzieren und zum nächstmöglichen Termin
gekündigt. Bei dem einmaligen Besuch in L. habe sie keine Möbel oder
ähnliche Dinge, sondern lediglich ihre wichtigsten Papiere abgeholt und sich
nur sehr kurz in ihrer Wohnung aufgehalten. Aus psychischen Gründen und
Gründen der Sicherheit sei ihr ein längerer Aufenthalt nicht möglich gewesen.
Auch sprachlich sei sie nicht in der Lage gewesen, sich einen Nachmieter zu
suchen. Für Angelegenheiten dieser Art benötige sie regelmäßig
Unterstützung. Sie sei schon nicht in der Lage gewesen, in K. ihre
Angelegenheiten ohne Unterstützung des Frauenhauses zu regeln. Dies galt
erst Recht für Reisen nach J. und die Regelung dortiger Dinge. Der Beklagte
habe sie ohnehin nicht über eine möglicherweise erforderliche Suche eines
Nachmieters aufgeklärt.
Die Klägerin stellt keinen Antrag.
Die Klägerin beantragt schriftsätzlich,
den Bescheid vom 07.12.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheid
vom 08.06.2012 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, der
Klägerin Leistungen für Unterkunft und Heizung in den Monaten
November und Dezember 2011 für die zuvor bewohnte Wohnung im H.
in tatsächlicher Höhe zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er verweist auf seine Ausführungen im Verwaltungsverfahren erklärt, es gebe
aus seiner Sicht keine Anhaltspunkte dafür, dass die Vermieterin der Klägerin
die Wohnung der Klägerin auf deren Wunsch nicht auch zu einem früheren
Termin zur Neuvermietung angeboten, einen Nachmieter gefunden oder einen
vorgeschlagenen Nachmieter akzeptiert hätte. Möglicherweise hätten
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Besuchstermine auch ohne die Klägerin stattfinden können.
Das Gericht hat sich mit Schreiben vom 28.11.2012 an das K. gewendet und
von dort u.a. die Auskunft erhalten, dass sich die Klägerin auch von K. aus um
die Klärung ihres Mietverhältnisses und den Transport ihrer Möbel und des
Hausrats gekümmert habe (Schreiben vom 20.12.2012). Ins K. sei die Klägerin
in einem instabilen Zustand gekommen, der von der gewaltgeprägten
Trennung und der Sorge vor dem Auffinden durch ihren Lebensgefährten
geprägt war. Die Verständigung sei mit der Klägerin allgemein gut, bei
Telefonaten jedoch schwierig gewesen.
Das Gericht hat außerdem die Verwaltungsakte des Jobcenters Rostock
beigezogen. Dieser Akte sind u.a. Informationen zum Leistungsbezug der
Klägerin und ihrer Kinder in den Monaten November und Dezember 2011
sowie Vorgänge um den Nichteinzug in eine bereits in K. zum 15.11.2011
angemietete Wohnung zu entnehmen.
Wegen der weiteren Einzelheiten und des Vorbringens der Beteiligten im
Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und die Verwaltungsakte des
Beklagten und die Verwaltungsakte des Jobcenters Rostock (jeweils 1 Band)
Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1, 4, 56 SGG) ist
begründet.
Der Bescheid vom 07.12.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom
08.06.2012 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in eigenen Rechten. Die
Klägerin hat einen Anspruch auf Übernahme ihrer Mietkosten in den Monaten
November und Dezember 2011.
Der Anspruch der Klägerin ergibt sich aus § 22 Abs. 1 und 6 SGB II. Danach
werden Bedarfe für Unterkunft und Heizung in Höhe der tatsächlichen
Aufwendungen anerkannt, soweit sie angemessen sind. Auch
Wohnungsbeschaffungskosten und Umzugskosten können bei vorheriger
Zusicherung durch den bis zum Umzug örtlich zuständigen kommunalen
Träger als Bedarf anerkannt werden.
Zu den Wohnungsbeschaffungskosten können dabei auch doppelte
Mietaufwendungen gehören, wenn sie unvermeidbar sind (so auch LSG
Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 31.10.2012, Az.: L 11 AS 800/12 B
ER). Doppelte Mietaufwendungen können jedoch nur dann übernommen
werden, wenn der Leistungsberechtigte alles ihm Mögliche und Zumutbare
unternommen hat, um die doppelten Mietaufwendungen so gering wie möglich
zu halten (Luik in: Eicher, Kommentar zum SGB II, 3. Aufl., § 22 Rn. 202).
Nach diesen Maßgaben sieht die Kammer hier die Mietaufwendungen der
Klägerin für ihre alte Wohnung im November und im Dezember 2011 im H. als
unvermeidbar an.
Dabei berücksichtigte die Kammer zunächst, dass die Klägerin ihre zuvor in J.
bewohnte Wohnung bereits Ende September 2011 zum Ablauf der regulären
Kündigungsfrist Ende Dezember 2011 kündigte (vgl. Kündigungsbestätigung
der Vermieterin vom 27.09.2011, Bl. 17 f. der Gerichtsakte). Die Kündigung
erfolgte damit im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit ihrer Flucht ins
K..
Nach Auffassung der Kammer hatte die Klägerin mit dieser frühestmöglichen
Kündigung bereits das Erforderliche und ihr Zumutbare getan, um weitere
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doppelte Mietaufwendungen aufgrund ihres Wechsels nach K. zu vermeiden.
Die Kammer berücksichtigte, dass hier kein „Normalfall“ von
Überschneidungskosten bei doppelten Mietaufwendungen vorlag, sondern mit
der Flucht der Klägerin in ein Frauenhaus eine ganz besondere Notsituation.
Die in einem Frauenhaus aufgenommenen Frauen befinden sich regelmäßig
in einer psychischen und physischen Ausnahmesituation, welche dazu führt,
dass an diese Frauen in der konkreten Situation geringere Anforderungen an
die „Regelung der eigenen Angelegenheiten“ gestellt werden können, als an
den normalen Mieter im Rahmen eines normalen Umzugs.
Zudem sind mit dem Aufenthalt in einem Frauenhaus regelmäßig spezielle
Zwänge verbunden. So konnte die Klägerin z.B. ihren Verwandten den
eigenen Aufenthalt nicht mitteilen, um neuerliche Drohungen durch ihren
Lebensgefährten zu vermeiden. Umzugshilfen durch diese Dritten waren damit
nicht möglich. Weitere besondere Umstände waren die mit dem Aufenthalt im
Frauenhaus verbundene Ortsabwesenheit vom Heimatort und die mit der
akuten Bedrohung verbundene Verhinderung der Rückkehr der Klägerin.
Diese Not- und Zwangslage war hier bei der Frage, inwieweit es hier der
Klägerin möglich war, sich in dieser Zeit um ihre zuvor bewohnte Wohnung zu
kümmern, zu ihren Gunsten berücksichtigen. Ohnehin ist es sehr zweifelhaft,
ob die vom Beklagten benannten Maßnahmen, mit welchen die doppelten
Mietaufwendungen hätten vermieden werden sollen, zielführend gewesen
wären. So hätte ein Zeitungsinserat für die Vermietung einer nichtgeräumten
Wohnung wohl kaum zu deren Vermietung geführt. Auch konnte die Klägerin
keine Mietinteressenten in ihre Wohnung hereinlassen, um diese zu zeigen.
Zudem war es der Klägerin - mindestens - erheblich erschwert, in der Zeit ihres
Aufenthalts im Frauenhaus ihre Wohnung leer zu räumen. Eine Räumung
durch den Vermieter und eine sich anschließende Einlagerung der
Gegenstände wären jedoch ebenfalls mit Kosten verbunden gewesen, die der
Beklagte im Rahmen der Umzugskosten wohl hätte tragen müssen.
Da sich die Kammer bereits aus den Ausführungen der Klägerin im
schriftlichen Verfahren ein umfassendes Bild von der Situation machen und
eine Überzeugung zur Unvermeidbarkeit der streitgegenständlichen
Mietaufwendungen bilden konnte, hielt die Kammer eine persönliche
Einvernahme der Klägerin in einer mündlichen Verhandlung für entbehrlich.
Der Anspruch der Klägerin setzt sich in der Höhe aus den Mietaufwendungen
für November 2011 (466,00 €) und Dezember 2011 zusammen, in welchem
die Mieterhöhung auf 480,15 € zu berücksichtigen war (Schreiben der
Vermieterin vom 21.09.2011, Bl. Bl. 498 f. der Verwaltungsakte).
Aus der Rechtswidrigkeit des streitgegenständlichen Bescheids ergibt sich
auch die Verletzung der Klägerin in eigenen Rechten, § 54 Abs. 2 S. 1 SGG.
Nach alledem war der Klage zu entsprechen.
Die Kostenentscheidung ergeht nach § 193 SGG.